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Die polnische Dekompressionskrankheit

In den letzten Jahren ist in Polen eine bestimmte psychologische Erklärung in Mode gekommen. Es heißt, Polen habe Schwierigkeiten, ein modernes Land zu werden, weil es sich zu tief in den Traumata der Vergangenheit festgefahren habe und es nicht schaffe, sich davon zu befreien. Dabei hat doch jedes Land traumatische Kriege und Demütigungen durchgemacht. Trotzdem operieren westliche Länder nicht mit Selbstrechtfertigungen dieser Art. Polen aber, das Ambitionen hat, anderen ein Beispiel zu geben, ist unfähig, aus seinen Fehlern zu lernen. Worin besteht also das Problem? Wieso enttäuschen die Polen den Westen und sich selbst?

Wenn Polen aus dem rechten Spektrum diesen Text zu Gesicht bekommen, werden sie umgehend behaupten, ich betreibe Nestbeschmutzung. Sobald nur jemand den Versuch anstellt, die Probleme der Polen und ihre Mentalität psychoanalytisch anzugehen, reagiert das narzisstische Regierungslager samt seinen Gefolgsleuten mit demonstrativer Empörung. Sie haben kein Verständnis für besorgte Zuwendung, die verschiedene Gesichtspunkte gelten lässt. Und die Auffassung, aus der Distanz lasse sich etwas mit mehr Verstand beurteilen, fassen sie als Angriff auf die Nation auf. Diese ist für sie ein Monolith, und selbst wenn das noch nicht zutreffen sollte, so werde sie es dank der PiS-Regierung doch noch werden, da PiS als einzige Partei wisse, was die Polen brauchen. Es gebe nur ein Polen. Versunken in der Geschichte und überhaupt der Vergangenheit, die die Polen demütigte, sie beleidigte, ihnen die Würde nahm und auf Generationen den großen polnischen Geist vernichtete, der doch ganz Europa die Stimmlage vorgebe. Soweit das Narrativ von PiS. Das Narrativ der Opposition dagegen läuft darauf hinaus, es gebe, drei, vier oder gar fünf verschiedene Polen. Das ist die Verschiedenartigkeit der Einstellungen, der zivilgesellschaftlichen Aktivitäten und Bestrebungen, die nicht ans Ziel gelangen können, weil die Polen in ihrem Trauma so befangen sind, dass sie ständig selbst den charismatischsten Führungsgestalten die Flügel beschneiden, wenn diese sich für ein Polen ohne Vorurteile, Aberglauben und Ressentiments einsetzen. Die meisten öffentlich Engagierten zahlen mit ihrer psychischen Gesundheit und entwickeln psychosomatische Probleme, wenn sie jahrelang mit dem Kopf vor die Wand rennen. Viele geben auf. An ihre Stelle treten andere, aber noch weitere äußere Einflüsse wie die Pandemie und die Lockdowns, der russische Angriffskrieg, die Inflation oder niedrige Einkommen und machen in Kombination mit der deprimierenden PiS-Regierung selbst den Ausdauerndsten zu schaffen. Das sind diejenigen, die glauben, es werde eine gemeinsame Wahlliste der Opposition geben und PiS werde nächstes Jahr die Wahlen verlieren.

Aus dem Teufelskreis herauskommen

Aber eine Wahlniederlage von PiS wäre zu wenig, damit Polen sich veränderte, meinen die Fachleute, die aus politischer, psychologischer und soziologischer Perspektive auf die Dinge schauen. Das Land braucht eine neue Ausrichtung und eine Methode, um alle Wähler der Rechten zu gewinnen und zu enttraumatisieren, damit sie nie wieder etwas von diesen Narrativen hören wollen, die uns zu Europa, der Moderne, der Wissenschaft und einer gescheiten Bildung auf Distanz gebracht haben. Nur so werden die Polen aus ihren Fehlern lernen können. Und damit aufhören, sich und den Westen zu enttäuschen, dem sie sich doch anschließen wollen. Was ist zu tun? Vor allem ist aus dem Teufelskreis psychoanalytischer Theoreme zur einst verwundeten Nation herauszukommen, die von Generation zu Generation ihr Kreuz mitschleppe. Es ist im 21. Jahrhundert nur noch krankhaft, über die alten Leiden nachzugrübeln und dabei völlig unfähig zu sein, in die Zukunft zu blicken. So hält es die PiS-Partei und behauptet noch dazu, sie habe das Heilmittel für alle polnischen Zipperlein. Welche sind das denn? Versenkung im Christentum, Obrigkeitshörigkeit und kritiklose Ergebenheit gegenüber einem Führer. So hält PiS die Parteianhänger in einem Zustand nah an der Psychose; diese glauben in einem derartigen Maße unkritisch an die Partei, dass sie in jedem Andersgläubigen den Feind erblicken. Andere vertrauen der Regierung völlig, so dass sie unkontrolliert alles tun darf, was sie will. Es sind tausende polnischer Bürger, die in ihrer Mentalität an Oblomow aus Iwan Gontscharows Roman erinnern. Einen willenlosen Menschen, der in einem apathischen Leben feststeckt. Von solchen Oblomows hat Polen mehr als genug. Sie haben sich in ihrem Provinzmief eingerichtet, sind gutwillig, gefühlsselig, verständig, aber unfähig zu handeln. Aus ihrem apathischen Leben reißen sie nicht Wissenschaft, nicht Dienst, nicht Liebe heraus. Die Trägheit hält sie fest. Für sie gilt Slavoj Žižeks Wort vom Streben nach dem Glück, nämlich dass sie gar nicht wollen, was sie begehren. Für diesen Persönlichkeitstyp gibt Žižek das chauvinistische Beispiel eines verheirateten Mannes, der sich eine Geliebte hält. Er träumt davon, seine Frau möge verschwinden, obwohl er doch kein Mörder ist. Als die Frau ihn aus irgendwelchen Gründen verlässt, verschwindet auch die Geliebte. Denn wir wollen sie nicht mehr. Wir zögen es vor, die Geliebte als Objekt der Begierde auf Distanz zu halten und nicht mit ihr zusammenzuleben. Das kommt der Denkart vieler Polen sehr nahe: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. Sollen doch inkompetente Leute an der Regierung sein, solange sie nur mit den Leuten teilen, was sie stehlen. Sollen sie doch machen, was sie wollen, solange es keinen Krieg gibt.

© Zygmunt Januszewski

Psychologisch könnte hier noch die Unfähigkeit eine Rolle spielen, vom Großen und Ganzen her auf sich selbst zu blicken. Diesen Polen fehlen Motivation, Mittel und Möglichkeit, um sich nach einer Demütigung von den Knien zu erheben. Sie bringen es fertig, die Demütigung lange Jahre zu zelebrieren und von Generation auf Generation weiterzugeben. Darunter sind Menschen schlichten Gemüts, die außerstande sind, sich dem Einfluss brutaler Gewalt zu entziehen, der sie tagtäglich ausgesetzt sind. Aber darunter sind auch gebildete Menschen, die infolge psychischen Leidens und schwerer Lebensbedingungen sich gleichsam in ihrem Opferdasein einbetoniert haben. Das wurde von der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller in ihrem Buch „Mein Vaterland war ein Apfelkern“ (2014) hervorragend beschrieben in ihrer Beobachtung der Lebensgeschichte ihres rumäniendeutschen Dichterkollegen Oskar Pastior, der die Hölle des Lagers überlebte: Erst mit der Zeit habe sie verstanden, dass die Deportation genauso heimtückische, scheußliche und sehr persönliche Folgen habe wie der Hunger. Die Verstümmelung quäle nicht nur den Körper, sondern betäube auch den Kopf. In dieser Verletzung stecke hinter der Angst vor dem Lager auch die Sehnsucht nach ihm. Diese nutze den Überlebenden aus, demütige ihn weiterhin, weil sie ihn gegen seinen Willen in Ekstase versetze.

Neues Narrativ, neuer Glaube

Apropos Polen, bedenkenswert ist auch, was Viktor Frankl gesagt hat, Autor des großartigen, kleinen Buches „trotzdem Ja zum Leben sagen“ (1946, später auch mit dem Untertitel: „Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“). Frankl stellte fest, ein Mensch, der zuvor sehr lang unter großem psychischen Druck gelebt habe, könne, erst wieder in Freiheit gelangt, sich ganz unversehens in großer Gefahr befinden. Besonders wenn die Befreiung zu plötzlich geschah. Und diese Gefahr für die psychische Hygiene ist eine psychologische Entsprechung der Dekompressionskrankheit. So wie Leben und Gesundheit des Tauchers wegen des hohen Druckunterschieds gefährdet wären, wenn er zu schnell auftauchte, so kann auch ein Mensch, der sich zu plötzlich von starkem Druck befreit, einen Schaden an Moral und Geist erleiden. Das macht verständlich, wieso die Leute der Regierungspartei und ihre Anhänger der Meinung sind, sie dürften sich alles herausnehmen, ohne demokratische Standards und Menschenrechte zu achten. Nunmehr sind sie, die einstigen Opfer, selbst in Gefahr, zu Gewalttätern zu werden, die ihr Verhalten mit schweren Erlebnissen in ihrer Vergangenheit wegerklären.

Anna Siewierska-Chmaj, Professorin für politische Wissenschaften an der Universität Rzeszów, ist überzeugt, das polnische Trauma-Narrativ sei faktisch eine kollektive sekundäre Viktimisierung, doch wird das Leiden von einer Regierung verursacht, die bewusst und zynisch die Mythologie des leidenden Polen einsetzt. In diesem zu politischen Zwecken umgewandelten Mythos steckt eine patriarchale Perversion; Polen wird dargestellt als betrogene, gedemütigte, vergewaltigte Frau, fast wie zu Zeiten der Teilungen oder der Besatzung. Das sind sehr suggestive Bilder, die besonders Männer stark ansprechen und bei ihnen starke Emotionen freisetzen wie Wut und Vergeltungsdrang. Diese Bilder sind auf vielen Ebenen wirksam, denn hinter dem Leiden verbergen sich die eigenen Unzulänglichkeiten, Fehlschläge oder einfach schlechter Wille. Das Leiden schiebt Antworten auf schwierige Fragen beiseite, wird zu einer bequemen Rechtfertigung und einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

„Über Mythen wird nicht diskutiert, man bekennt sich zu ihnen, so wie zu einer Religion“, sagt Anna Siewierska-Chmaj. „Einem Narrativ lässt sich nur ein anderes entgegensetzen, unsere Geschichte neu erzählen. Nicht als eine Abfolge von Verratshandlungen, Niederlagen und unschuldigen Opfern, sondern als heroische Anstrengungen, einen Staat gegen alle Widrigkeiten von Schicksal, Geschichte und Geopolitik aufzubauen. Nicht aus den Toten müssen unsere Helden gemacht werden, sondern aus denen, die überlebten und die Anstrengung unternahmen, den Wiederaufbau aus Ruinen zu betreiben, auch wenn sie dabei Fehler begingen. Nur hat nach 1989 in Polen niemand ein solches positives Narrativ verkündet. Die polnische Politik brachte es fertig, sogar den Mythos der Solidarność und die gewaltlose gesellschaftspolitische Transformation in Asche und rauchende Trümmer umzudeuten. Jetzt haben die Polen das Gefühl, sie lebten in einem Augenblick des Umbruchs, und dies ist der letzte Augenblick, ein neues Polen-Narrativ zu erzählen, Patriotismus neu zu definieren. Zu lernen, nicht nur stolz zu sein auf moralische Siege, auf die in verzweifelten Kämpfen gefallenen Helden, sondern auch und möglicherweise ganz besonders auf die vielen Generationen von Polen, die ihr Land immer wieder aus Ruinen aufbauten. Nicht auf die Visionäre, sondern auf die Ingenieure, nicht auf die Toten, sondern auf die Lebenden. Dies ist keine Zeit vernunftbetonter Argumente. Wenn wir in Europa bleiben wollen, muss uns die Politik eine schöne Geschichte von Polen erzählen, das sich in Europas Herz befindet. Und wir müssen daran glauben.“

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Karina Obara

Karina Obara

Karina Obara ist Journalistin, Schriftstellerin, Dichterin, Essayistin und Malerin. Sie studierte Politikwissenschaften an der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń und europäische Journalistik am College of Europe in Warschau.

Ein Gedanke zu „Die polnische Dekompressionskrankheit“

  1. Alles, was ich bislang beobachten konnte, ist Polen durchaus bemüht, ein moderner Staat zu sein. Schließlich habe ich durch meine berufliche und Ehrenamtliche Arbeit, aber auch privat, viele selbstbewusste Polinnen und Polen kennengelernt, die mich zu vorgenannter Einschätzung bringen.
    Polen ist ein gleichberechtigtes Land in Europa, das auf seine Entwicklung stolz sein kann.

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