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Wenn Putin die Ukraine nicht diesen Winter besiegt, verliert er den Krieg wohl endgültig

Nach dem Fehlschlag seines Plans, den Krieg für eine Weile einzufrieren, um Kräfte zu sammeln und erneut gegen die Ukraine loszuschlagen, schloss ein völlig uneinsichtiger Kreml einen Pakt mit seinem ewigen Verbündeten, dem General Frost. Die Russen setzen also auf einen strengen Winter mit niedrigen Temperaturen, dazu bombardieren sie regelmäßig die ukrainische Energieinfrastruktur in der Hoffnung, die Kampfkraft der gegnerischen Armee zu schwächen und die ukrainische Zivilbevölkerung zu zermürben. Putin wird alles tun, um diesen Krieg noch im Winter zu gewinnen, denn das ist eigentlich seine letzte Chance. Sollte ihm dies nicht gelingen, wird er vor dem Machtverlust stehen.

Was hat Putin vor?

Als sich das Wetter verschlechterte und die Temperaturen immer weiter sanken, verstärkten die Russen ihre Raketenangriffe auf das ukrainische Energienetz. Während der Beschuss im Herbst vorwiegend montags stattfand, ist er mit Dezemberbeginn und den ersten Frostnächten für die ukrainischen Städte fast zur täglichen Erfahrung geworden. Es fliegen die iranischen Schahed-Drohnen ebenso wie von Land und aus der Luft abgefeuerten Projektile. Der Kreml stellt die russische Wirtschaft mehr und mehr auf den Krieg um, weil es zunehmend an Raketen und schweren Waffen mangelt. Die russische Armee greift bei einigen Waffentypen schon ihre strategischen Reserven an, was belegt, dass sich die Magazine allmählich leeren und eine Krise im Anzug ist. Das sind schlechte Neuigkeiten für Putin, der sich in Anbetracht ausbleibender militärischer Erfolge erneut um seine Macht sorgen muss. Seit der Mobilisierungskampagne vom September sind schon drei Monate vergangen; damals wollte der Kreml nicht weniger als 300.000 Männer einziehen. Davon wurde ein Teil oberflächlich ausgebildet und an die Front geschickt, um Lücken in der Frontlinie zu schließen und neue Gegenoffensiven der Ukrainer im Stil von Charkiw und Cherson zu verhindern. Diese haben die Statistik der gefallenen Russen, wie sie vom ukrainischen Generalstab veröffentlicht wird, um einige hundert täglich in die Höhe getrieben. Die übrigen werden etwas gründlicher ausgebildet und sollen dann in die Kerntruppen der russischen Armee eingegliedert werden, während diese sich auf eine neue Großoffensive vorbereitet.

Präsident Wolodymyr Selenskyj, Armeechef Walerij Saluschnyj und Verteidigungsminister Oleksij Resnikow wurden unlängst in führenden westlichen Medien mit der Äußerung zitiert, es gebe Pläne für die Wiederholung einer massiven russischen Offensive auf Kiew, Charkiw, Odessa und andere wichtige Agglomerationen. Demnach bereite Putin einen weiteren Invasionsversuch für Februar oder März nächsten Jahres vor, wobei er dieses Mal die Fehler vom Februar 2022 vermeiden wolle, als der Vorstoß für die Angreifer mit empfindlichen Verlusten und einer deftigen Blamage endete. Doch einige Beobachter meinten in dieser Äußerung die Befürchtung zu erkennen, die westlichen Partner könnten in ihrer Solidarität nachlassen, und den Versuch, sie zu weiterer oder verstärkter militärischer Unterstützung zu motivieren. Andererseits könnte die genannte Äußerung auch den Zweck haben, die öffentliche Meinung im Westen zu beeinflussen, was von konkreten Zahlen nahegelegt wird, die General Saluschnyj nannte. Er sagte nämlich, für den Sieg brauche er 300 Kampfpanzer, 700 Schützenpanzer und 500 Haubitzen. Auf die Frage nach dem Mannschaftsbedarf entgegnete er, in den Bewaffneten Streitkräften der Ukraine dienten über 700.000 Soldaten, von denen 20.000 hervorragend ausgebildet seien. Was bedeutet, dass die ukrainische Armee gegenwärtig über eine ausreichende Mannschaftsstärke verfügt, um in der Defensive und der Offensive erfolgreich operieren zu können, während die fehlende Ausrüstung das größere Problem darstellt. Der ukrainische Befehlshaber appelliert damit an das Solidaritätsgefühl der westlichen Nationen mit den Ukrainern, die ihr Vaterland im Namen gemeinsamer demokratischer Ideale verteidigen. Kiew sendet das Signal, es fordere keinen Kriegseintritt fremder Armeen, sondern erwarte Waffenlieferungen, um eine aggressive Macht an der weiteren Expansion und der Destabilisierung Europas zu hindern.

Für die russische Führung ist unterdessen der entscheidende Moment der Auseinandersetzung gekommen, entgegen den Medienberichten der letzten Tage, Moskau bereite sich auf einen langen Krieg vor und Putin sei bereit, bis zu 300.000 seiner Soldaten zu opfern. Natürlich liegen solche Spekulationen nahe, wenn die Verteidigungsindustrie auf Touren gebracht und Rekruten eingezogen werden. Doch die Absichten des Kreml sind nur eine Seite der Medaille, während die Realität des Krieges bereits seit einigen Monaten ein ganz anderes Bild zu erkennen gibt. Zwar können die mutigen und selbstsicheren Äußerungen der Führung der ukrainischen Streitkräfte, Pläne zu haben, die Krim zurückzuerobern und eine neue Gegenoffensive zu starten, in mancher Ohren verantwortungslos und nach verzweifelter Prahlerei klingen, während dem Land der Blackout droht. Doch in Anbetracht dessen, dass Kiew Dank westlicher Hilfe seine Raketenabwehr beträchtlich ausgebaut hat und die Ukrainer trotz immer längerer Stromausfälle nicht rebellieren, könnte es ein nach den früheren Blamagen weiterer schwerer Irrtum Putins sein, auf General Winter zu setzen. Schließlich hat Moskau bereits etliche Niederlagen erlitten, und zwar nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch in der Diplomatie, zum Beispiel mit dem fehlgeschlagenen Versuch, die Europäer von einer Unterstützung der Ukraine abzubringen. Zum Beweis verabschiedete das Europäische Parlament vor einigen Tagen in zweiter Lesung ein neues Paket mit Wirtschaftshilfen im Umfang von 18 Milliarden Euro für 2023, und der US-Senat reservierte im Budget für das nächste Jahr mehr als 800 Millionen US-Dollar an Militärhilfe für die Ukraine. Auch nicht ganz unwichtig ist, dass der Europäische Rat gerade das bereits neunte Sanktionspaket gegen Russland beschlossen hat, zu dem unter anderem das völlige Verbot des Exports von Drohnen, die Erweiterung des Exportverbots von luft‑ und raumfahrtrelevanten Bauteilen sowie der Eintrag von weiteren 168 Unternehmen gehören, die Beziehungen zum militärindustriellen Komplex Russlands haben. Der Kreml hat seit langem und teilweise erfolgreich versucht, im Westen seine Einflussagenten zu installieren. Er setzte dabei auf demokratiefeindliche Politiker, die die Rechtsstaatlichkeit und die europäische Einigung ablehnen, und auch damit hat der Kreml einigen Erfolg gehabt. Doch diese Anstrengungen reichten nicht dazu aus, dass die freie Welt seine Aggression gegen die Ukraine einfach hinnahm, die ihr untergeordnetes Verhältnis zu der einstigen kolonialen Metropole abzuschütteln beschlossen hatte. Die für Russland sehr negativen Konsequenzen dieser Fehleinschätzungen werden sich mit der Zeit noch mehren und dazu führen, dass die Kosten des Kriegs Putins Position in seinem Land immer mehr ins Wanken bringen.

Wie Russland aufhalten?

Die drei Wintermonate werden für den weiteren Kriegsverlauf ausschlaggebend sein. Russland zu besiegen, was aus ukrainischer Sicht heißt, seine Truppen zu schlagen und die verlorenen Gebiete einschließlich der Krim zurückzuerobern, ist noch immer ein weit entferntes Ziel. Doch die Dynamik dieses Konflikts liegt darin, dass die Initiative ständig von der einen auf die andere Seite übergeht, so dass völlig offenbleibt, welche Seite schließlich siegen wird. Nach der Gegenoffensive auf Charkiw und der Vertreibung der Russen aus Cherson konnte die ukrainische Armee mit einigen Erfolgen auf dem Konto in den Winter gehen. Mit den ersten Frösten hat der Aggressor teils wieder die Initiative an sich gerissen, weil er die Kapazitäten besitzt, die gegnerische Energieinfrastruktur anzugreifen, deren Verwundbarkeit und Wichtigkeit sich während des Winters nur erhöhen. Dagegen ist der Angreifer weiter nicht in der Lage, an der Front einen Durchbruch zu erzielen, und die Mobilisierung vom September hat nur in geringem Maße das Offensivpotential der russischen Armee gestärkt. Den skrupellosen General Sergej Surowikin zum Befehlshaber zu machen, hat eine neue Dynamik in den Konflikt gebracht und die radikalen Kremlpropagandisten wieder Blut lecken lassen. Den Himmel über der Ukraine durchziehen seither iranische Drohnen, von den Ukrainern gemeinhin „Motorroller“ genannt, wegen des charakteristischen Geräuschs ihrer Antriebe. Die Schaheds sind ziemlich simpel konstruiert und ein relativ leichtes Ziel für die Luftabwehr, aber der Überraschungseffekt und ihr massenhafter Einsatz haben in der ersten Phase wesentlich dazu beigetragen, der Energieinfrastruktur der Ukraine erhebliche Schäden zuzufügen. Russland hat bereits die nächste Tranche von Drohnen erstanden, verwendet diese jedoch wegen der wirksamen ukrainischen Flugabwehr nur sparsam. Aus den Medien ist ferner bekannt, dass der Kreml mit dem iranischen Regime in intensiven Verhandlungen über den Ankauf ballistischer Raketen steht, doch widerspricht Teheran den Berichten aus Furcht vor neuen Sanktionen des Westens und der Reaktion der Amerikaner.

Sind die harten Wintertemperaturen der nächsten Monate überstanden, wird das die Moral der ukrainischen Armee heben und den Russen ihren wichtigsten Vorteil nehmen, nämlich die Reichweite der Raketen, mit denen sie aus großer Entfernung fast straflos Ziele in der Ukraine treffen können. Verschlammung des Geländes und schwierige Wetterbedingungen gestatten den ukrainischen Streitkräften nicht, ihre schnellen Zangenmanöver fortzusetzen, bei denen ihnen bessere Ausbildung und Ausrüstung zugutekommen. So konnten sie die Gebiete Charkiw und Cherson befreien und den Russen empfindliche Verluste an Mannschaften, Ausrüstung und Prestige zufügen. Die ukrainischen Erfolge versetzten der Kremlführung einen Dämpfer, zwangen sie, auf die gegnerischen Maßnahmen zu reagieren und ließen ihr keine Zeit, eigene Operationen zu planen. Und auch wenn der Winter den Trend umgekehrt hat, besitzt der Kreml doch anscheinend keine ausreichenden Kapazitäten mehr, um das Kriegsglück zu wenden. Erstens, weil der Raketenbeschuss, wie ich schon schrieb, die Moral der Ukrainer und ihrer Armee nicht brechen kann, zweitens, weil die fortgesetzte Unterstützung durch den Westen den Entscheidungsträgern im Kreml immer deutlicher die Realität des Abnutzungskriegs vor Augen führt, bei dem die Russen gegen die gebündelte Wirtschafts‑ und Militärmacht des Westens unter amerikanischer Führung keine Chance haben. Putin kann die Präsidentschaftswahlen in den USA in der Hoffnung auf einen Sieg der Rechtspopulisten nach Art von Trump abwarten oder rechtsextreme Staatsstreiche in den wichtigsten europäischen Ländern wie Deutschland unterstützen. Doch die fortdauernden Fehlschläge auf diesem Felde beschädigen sein Image als unfehlbaren Staatslenker, das in den Augen der Konkurrenz ohnehin schon schwer angegriffen ist, nachdem er einen nicht zu gewinnenden Krieg entfesselt hat. Zusätzlich macht der unerwartet effektive Widerstand der Ukrainer, den selbst die russischen Propagandisten einräumen müssen, es schwerer, weiter zu behaupten, die Ukrainer seien Geiseln des Regimes in Kiew und warteten auf die Befreiung durch den älteren Bruder aus Russland. Wenn um die Welt Bilder von ukrainischen Männern gehen, die mit ihren privaten Waffen auf iranische Schaheds schießen, oder von Frauen aus der Gegend von Cherson, die in Tränen aufgelöst zur Befreiung der Südukraine eingetroffenen Soldaten aus Lwiw küssen, stellt die russische „Kleinrussland“-Propaganda bloß [„Kleinrussland“ war bereits im zarischen Russland des 19. Jahrhunderts ein Schlagwort zur Bezeichnung der Ukraine, um die Behauptung zu forcieren, die Ukrainer seien ein Zweig der russischen Nation und ihre Sprache ein russischer Dialekt; A.d.Ü.], welch primitives Lied seine Sänger hier singen, und irritiert jeden, der bei klarem Verstand ist. Dieser Krieg hat bewiesen, dass die „russische Welt“ in der Ukraine nicht existiert, und dass es unwichtig ist, ob und wann diese Einsicht schließlich auch dem Kreml dämmert. Wichtig ist, dass auch der Rest der Welt dies endlich versteht und sich von den kolonialistischen Anflügen bei der Beurteilung des Lands am Dnepr befreit. Und dann wird sich Russland aufhalten lassen.

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Nedim Useinow

Nedim Useinow

Nedim Useinow ist Mitglied des Koordinationsrates des Weltkongresses der Krimtataren in Polen. Er studierte Politologie an der Universität Danzig. Seit 2003 arbeitet er im Nichtregierungssektor in Polen und der Ukraine.

Ein Gedanke zu „Wenn Putin die Ukraine nicht diesen Winter besiegt, verliert er den Krieg wohl endgültig“

  1. Ich stimme Ihnen zu. Der Westen muss der Ukraine mit finanzieller Hilfe und Lieferung über-legener Waffen so helfen, dass die bestialischen Russen aus der gesamten Ukraine vertrieben werden können. Eigentlich müsste der Zerstörungs-Krieg auch nach Russland selbst hinein-getragen werden – wie Du mir, so ich Dir. Putin versucht einen Macht-Kampf mit dem über-legenen Westen, den er verlieren muss, sonst geht das ewig so weiter mit seinen Über-Fällen auf souveräne Nachbar-Völker (, Moldau, baltische Staaten). Die Sowjet-Union war 1945 genauso wie Hitler auf Eroberungen aus, gewann den Krieg nur deswegen, weil auch die West-Allierten gegen Hitler kämpften. Wenn Hitlers Expansionismus verwerflich ist, muss das Selbe gelten für Stalins Eroberungs-Drang. Die NATO-Ost-Erweiterung hat diesen russischen Expansionismus endlich korrigiert. Putin sieht das nicht ein und muss zu dessen Anerkennung gezwungen werden. Anschließend gehört er Lebenslang hinter Zuchthausgitter.

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