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Sollte Russland das Gesicht wahren dürfen?

Um den Ukrainekrieg kreist die heftige Auseinandersetzung, ob wir Putin erlauben sollten, erhobenen Hauptes aus dem Krieg zu kommen, während Russland seine Wunden leckt, oder ob wir einen entscheidenden, unzweifelhaften Sieg der Ukraine wollen.

In Deutschland und darüber hinaus im gesamten Westen überwiegt die erstere Meinung, in Polen dagegen ganz entschieden die letztere. Allein, die polnische Vorstellung ist einerseits realistisch, insofern Russland sich nicht bessern wird und vielleicht nur eine sehr empfindliche und unbezweifelbare Niederlage darin vielleicht ein klein wenig Abhilfe schaffen könnte; andererseits ist sie insofern romantisch, als sie ignoriert, dass die Regierungen der Welt allein interessenorientiert handeln. Anders als in der auf Legitimation durch freie Wahlen gestützten Demokratie schöpft die russische Regierung ihre Legitimität einzig aus der Autorität, um nicht zu sagen Majestät der Macht; das sagt uns der politische Realismus. Wenn es sich aber so verhält, besteht keine Chance, dass eine solche Regierung den Krieg beendet, wenn das für sie einer Demütigung gleichkäme. Denn dies untergrübe ihre Legitimität und wäre gleichbedeutend mit dem Verlust der Macht.

Es ließe sich natürlich argumentieren, genau das wäre in unserem Interesse. In Westeuropa ist die Ansicht verbreitet, durch einen gewaltsamen Regierungswechsel im Kreml könnten Nationalisten an die Macht kommen, doch diese Behauptung entbehrt schon deshalb der Logik, weil in Russland die Nationalisten bereits an der Macht sind.

Im Westen herrschen Denkweisen vor, die den polnischen genau entgegengesetzt sind. Die meisten Politiker und Experten suchen nach einer Antwort auf die Frage, wie zu verhindern sei, dass Russland den Krieg gewinnt, und doch aus der Niederlage ohne Gesichtsverlust hervorgeht. Diese Denkschule stammt aus dem klassischen und besonders für die US-Sowjetologie grundlegenden Text von George Frost Kennan, der in seinem „Langen Telegramm“ von 1946 schrieb, die Sowjets gäben gewöhnlich dem Stärkeren nach, solange dieser es vermeiden könne, auch noch ihr Ansehen zu beschädigen.

Die heute zu stellende Frage lautet, ob dieses für die Sowjets geltende Rezept auch noch für das Russland der Gegenwart Geltung hat. Die Antwort ist weder einfach noch eindeutig. Einerseits leitet sich das russische Herrschaftssystem unmittelbar aus dem sowjetischen ab. Wladimir Putin und seine engsten Mitarbeiter sind nämlich mehr ein Produkt der späten Sowjetunion als eines von Russland an sich, und ihr Ziel ist eher der Wiederaufbau der Sowjetunion als eine Reform Russlands. Andererseits sagt uns alles, was wir über diese Leute wissen, dass im Unterschied zu der eher vorsichtigen sowjetischen Führung die russische Regierung zu großsprecherischem Auftreten neigt, und schlimmer noch dazu, sich ständig selbst überbieten zu wollen. Das erklärt sich dadurch, dass sie mit diesem Verhalten lange Zeit durchgekommen ist, was sie glauben lässt, ihre Methode sei effektiv. Aber es gibt noch einen zweiten, vielleicht wichtigeren und in der Zeitfolge früheren Grund. Russland wird zwar von Geheimdienstoffizieren regiert, doch eher von solchen der zweiten Riege, die weder in Sowjetzeiten noch unter Boris Jelzin in die Führungsspitze des KGB aufgestiegen sind. Der Unterschied ist von grundsätzlicher Bedeutung. Überall auf der Welt gibt es zwei Typen von Geheimdienstmitarbeitern: die skrupellosen, aber cleveren und intelligenten Offiziere und diejenigen, deren intellektuelle Möglichkeiten sich in Erpressung, Gewalt und Heimtücke erschöpfen. Der Unterschied ist ungefähr wie der zwischen dem Chef der Auslandsaufklärung der Staatssicherheit der DDR, Markus Wolf, und denjenigen Stasi-Funktionären, die noch zu brutaler Gewaltanwendung bereit waren, als alle schon begriffen hatten, dass die DDR in den letzten Zügen lag. Wie es ausschaut, hat die aktuelle russische Führung mit jemandem wie Wolf keinerlei Gemeinsamkeiten.

Das alles gebietet, einerseits die manchmal allzu romantische polnische Sichtweise skeptisch zu beurteilen, sich andererseits aber zu fragen, ob die realistische Sichtweise, wie sie unter anderem in Deutschland Triumphe feiert, nicht einfach nur Pseudorealismus ist. Diesen Streit zu entscheiden muss scheitern, weil erst die Zeit erweisen wird, welche der beiden Denkschulen das bessere Rezept für Russland besitzt.

Wenn es sich einmal so verhält, dann stellt sich die Frage, ob der Westen, wollte er den Streit schlichten und sich für eine der beiden Schulen entscheiden, nicht einen schweren Fehler beginge. Das Rezept für Russland sollte eigentlich sein, beide Schulen miteinander zu verbinden, also Russland Zuckerbrot und Peitsche zu zeigen, wobei der Glaubwürdigkeit halber das Zuckerbrot wirklich lecker und die Peitsche sehr grob sein müssen.

Vor vielen Jahren hatte ich als junger Diplomat Gelegenheit, mit dem stellvertretenden Außenminister Russlands zu sprechen. Als ich ihn fragte, wieso sich Russland in der Außenpolitik taktisch verhalte und nicht strategisch, entgegnete jener übrigens ausgezeichnete Politiker, Polen könne mit einer Strategie, aber ohne Operationalisierung seiner Absichten nicht viel ausrichten, während Russland mit kleinen taktischen Erfolgen allein durch deren Zahl die strategische Situation verändere und gegen Polen gewinne.

Bis zum 24. Februar 2022 verhielt es sich wirklich so. Jetzt aber handelt Russland gleichsam gegen die eigenen Grundsätze und steckt folglich eine Niederlage nach der anderen ein. Vielleicht sollte der Westen also die Methode anwenden, die Russland so lange gute Dienste geleistet hat. Vielleicht wäre es zielführend, Russland anzubieten, unter Gesichtswahrung den Krieg zu beenden, aber zugleich deutlich zu machen, dass, sollte Russland das Angebot nicht nutzen, die offerierten Bedingungen sich stetig verschlechtern werden.

Vor allem aber muss Russland ein sehr deutliches Signal bekommen, dass Russland im Falle weiterer Angriffe auf die ukrainischen zivilen Infrastrukturen (Elektrizität, Wasser, Heizung) und besonders bei einem erneuten Angriff aus nördlicher Richtung von belarusischem Gebiet aus, die Ukraine Waffensysteme erhalten wird, mit denen sie russische Ziele nicht nur im direkten Hinterland der Front, sondern auch tief in Russland selbst angreifen kann. Der Westen muss bei einer weiteren Eskalation des Kriegs das russische Bankensystem lahmlegen, also zum Beispiel nicht nur ausgewählten, sondern allen russischen Banken die Nutzung von SWIFT verwehren. Drittens müsste so schnell wie möglich ein Embargo russischer Energierohstoffe verhängt werden. Viertens müssten massenhaft Hackerangriffe erstens auf kritische russische Informationssysteme und zweitens auf Informationsnetze durchgeführt werden, um sie im Optimalfall zu paralysieren, oder zumindest, um für den Kreml ungünstige Informationen an die russische Öffentlichkeit gelangen zu lassen.

Auch wenn das dem moralischen Prinzip widerspricht, dass auf ein Verbrechen die Bestrafung folgen muss, sollte dem Kreml dennoch zugleich ein Angebot gemacht werden, das keine Rückkehr zu business as usual vorsieht, sondern anzeigt, die russische Führung könne zwar den Krieg verlieren, aber immer noch die Niederlage der eigenen Öffentlichkeit als Erfolg verkaufen, um die Macht und vielleicht wichtiger noch, ihre Besitztümer zu wahren. Das darf aber keine Rückkehr zum Status quo ante bellum bedeuten, denn leider weist nichts darauf hin, dass Russland sich auch nur ein klein wenig bessern könnte. Und hiermit haben eher die Polen recht als die Deutschen.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Witold Jurasz

Witold Jurasz

Journalist bei der Onlineplattform Onet.pl und der Tageszeitung Dziennik Gazeta Prawna, Vorsitzender des Zentrums für Strategische Analysen, ehemaliger Mitarbeiter der Investitionsabteilung der NATO, Diplomat in Moskau und Chargé d’affaires der Republik Polen in Belarus.

4 Gedanken zu „Sollte Russland das Gesicht wahren dürfen?“

  1. Mir ist völlig unverständlich, weshalb Putin und sein verbrecherisches Regime auch noch mit “erhobenen Hauptes aus dem Krieg ” hervorgehen soll.
    Sympathien für diese Verbrecher können doch eigentlich nicht mehr bestehen. Wenn deren Handlungen auch noch goutiert werden, dann haben sich alle Bemühungen um Demokratie, Menschenwürde etc. nach 1945 nicht gelohnt.
    Und überhaupt – dann müßte man den islamistischen Terroristen die gleiche Wertschätzung angedeihen lassen.
    Putin darf mit Atomwaffen drohen – und wir klatschen dann wohl noch ?

  2. Witold Jurasz stellt in allen Punkten die richtigen Überlegungen an.
    In Deutschland und im Westen gibt es durchaus Stimmen, die seine Argumente und damit die polnische Mehrheitsposition teilen. Sicher noch nicht genug und noch nicht bis zur Regierungsspitze vorgedrungen. Ich freue mich auf den Austausch mit ihm darüber

    Wolfgang Templin

  3. In diesem Beitrag sind durchaus brauchbare Überlegungen enthalten. Vor allem werden die unterschiedlichen Denkweisen von Polen einerseits und des Westens andererseits beleuchtet, was schon mal gut ist.
    Was jedoch aus meiner Sicht fehlt, ist in diesem Zusammenhang noch die nähere Analyse der russischen Geschichte. Bspw. haben sich bereits Napoleon und weit später Hitler sozusagen die Pfoten dort verbrannt.
    Und wie ist der Maidan 2014, hier: im Zusammenhang mit der Ostukraine, zu sehen?

  4. Die Frage hat sich eigentlich erübrigt. Mit dem Zivilisationsbruch des mörderischen Überfalls auf ein Nachbarland und dem einhergehenden Vernichtungsfeldzug haben Russland und sein Gewaltherrscher bereits das Gesicht verloren.

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