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Erklären wir der Schweiz den Krieg?

Der Sklave will nicht frei werden. Er will Sklavenaufseher werden.

Gabriel Laub1

 

Welche politische Rolle sollte die Allgemeinheit der Bürger spielen? Zumindest der offiziellen Lesart nach wird heute nicht mehr ernsthaft bezweifelt, dass sie das Recht besitzt, in freien Wahlen ihre Repräsentation zu bestimmen. Sind ihre souveränen Rechte jedoch allein auf den Wahlakt zu beschränken, der in bestimmten Zeitabständen vollzogen wird?

Andreas Urs Sommer, Autor des unlängst erschienenen Buchs „Eine Demokratie für das 21. Jahrhundert“2, äußert bereits im Untertitel seine zentrale These, die repräsentative Demokratie sei obsolet und die Zukunft gehöre der direkten Demokratie. Wie auch immer das Urteil hierzu ausfällt, bereits die Frage, wie es sich nun mit der Demokratie verhalte, zwingt zu ernsthaftem Nachdenken über Demokratie an und für sich. Denn Begriff und System der Demokratie sind beide keineswegs ohne weiteres verständlich.

Sommer, seit 2016 Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Kulturphilosophie an der Albrecht-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau, ist Schweizer, geboren am 14. Juli 1972 in Zofingen, einem Städtchen im Kanton Aargau. Vorher bekleidete er Dozenturen in Basel, Princeton, London, Greifswald und an der École normale supérieure Paris. Übrigens ist er auch in Polen als Autor nicht unbekannt: bei der August-Graf-Cieszkowski-Stiftung erschien im letzten Jahr sein eigenwilliger Essay über die Werte, die es zwar nicht gebe, derer wir aber gleichwohl bedürften.3

Um seine These von der Überlegenheit der direkten oder plebiszitären Demokratie über die indirekte oder repräsentative Demokratie zu belegen, führt Sommer mehrere Argumente an, die wir nicht einfach beiseiteschieben sollten. Europa und die europäische Kultur hätten dem Menschen unerhörte Entwicklungschancen eröffnet, mit denen seine Möglichkeiten, politischen Einfluss zu nehmen, jedoch nicht mithielten. Das Individuum sei heute sehr viel reifer als vor einigen hundert Jahren, und das politische System solle dieser Tatsache Rechnung tragen. Dem entspreche die parlamentarische Demokratie jedoch nicht: das repräsentative „Parlament als Abbild des Volkes ist eine Fiktion, und der Parlamentarier als Beauftragter der Wähler erfüllt keineswegs deren Mandat, so wie eine Anwältin das tut, die keinen anderen Auftrag hat, als im gesetzlichen Rahmen das Interesse ihres Mandanten durchzusetzen“ (S. 32). Der Verfassung nach sind Parlamentsabgeordnete Vertreter der gesamten Nation, nicht allein derjenigen, die sie gewählt haben. Dies verunklare und löse die Verbindung zwischen der Wählerschaft und ihren Abgeordneten.

Zudem bestehen an der Vorstellung einer Repräsentation heute bestimmte Zweifel. Sie begründe nämlich ihrem Wesen nach eine zumindest partielle Entmündigung der Bürger: „Ein pädagogisch-paternalistisches Verständnis von Repräsentation scheint dabei heute noch vorzuherrschen: Die Abgeordneten repräsentieren das Volk, weil sie wissen, was für das Volk gut ist“ (S. 51). Dahinter verbirgt sich faktisch auch das uralte Misstrauen gegenüber der Plebs. Die Repräsentativdemokratie schütze dabei nicht vor Pathologien in der Art des Nationalsozialismus; denn die „Nationalsozialisten [kamen] nicht durch angeblich so gefährliche Volksabstimmungen, sondern durch Parlamentswahlen, ganz im Rahmen des demonstrativ-demokratischen Repräsentativismus an die Macht […]“ (S. 54).

Die moderne Demokratie müsse freien und bewussten Individuen volle Teilnahme an der Ausübung der Macht und der Erlassung von Gesetzen ermöglichen, auch deshalb, weil „[a]ktive Partizipation heißt, sich die Welt zu eigen zu machen“ (S. 87). Sie würde daher auch der Entwicklung des Individuums förderlich sein, da sich dieses ständig Fragen stellen müsse, während die Persönlichkeit nicht etwas Starres, für immer Gegebenes sei, sondern ständiger Arbeit und Selbstreflexion bedürfe: „Direkt-partizipatorische Demokratie ist eine Schule der Selbstkohärenzfindung, eine privilegierte Praxis der Selbstgestaltung mittels Gestaltung des Gemeinwesens“ (S. 120). Zudem verhindere eine direkte Beteiligung das Aufkommen starrer Ideologien; jede einzelne Entscheidung verlange neue Überlegung, stelle das Individuum vor ständig neue Probleme, lockere verknöcherte ideologische Gruppenbildungen auf, weil Menschen naturgemäß zu sehr verschiedenen Gemeinschaften und Interessengruppen gehören und diese Zugehörigkeit je nach Debattengegenstand ändern können. Dies würde auch das starre Parteiensystem aufweichen, indem es die Parteien zwinge, ständig neue Mehrheiten für konkrete Entscheidungen zu suchen: Ein Land zu regieren, wäre nicht mehr an Ideologien orientiert, sondern würde sich stärker an Sachfragen ausrichten.

In der Gegenwart ist die Politik, anders als in den Zeiten der Geheimkabinette, zu einer Art öffentlicher Show geworden. Sie reagiert damit auf den im 20. Jahrhundert um sich greifenden Erlebnishunger und wird als großes Spektakel inszeniert, bei dem es eben auf die ständig neuen Schaueffekte ankommt. Sommer meint, im 21. Jahrhundert sei es an der Zeit, mit diesem Politiktypus ein Ende zu machen: „Wir sollten uns Politik nicht als Erlebnis von anderen vormachen lassen. Politik sollte kein Event mit uns als Zuschauern sein. Die Eventisierung des Politischen wäre direkt-partizipatorisch zu parieren: Politik sollte unser eigenes inneres Erlebnis werden – indem wir sie selbst machen“ (S. 121f.).

Keinem dieser Argumente haben wir wirklich etwas entgegenzusetzen. Allerdings fällt auf, dass sie mit großen Verallgemeinerungen operieren. Doch wie stets, steckt der Teufel im Detail, und genau danach ist unbedingt zu fragen, wollen wir den Versuch anstellen, Sommers Postulate irgend zu konkretisieren. Wer zum Beispiel soll derartige Referenden praktisch organisieren? Wer immer dazu befugt wäre, besäße ungeheure Macht. Doch kraft welcher Autorität? Wer soll das Recht besitzen, die Fragen zu formulieren? „Bist du für die Tötung von Kindern bis zur zwölften Lebenswoche auf jedes Verlangen der Frau?“ Oder aber: „Bist du für das Recht einer Frau, frei über ihren Körper zu entscheiden und damit auch über den Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche?“ Die zu entscheidende Frage ist dieselbe, aber… Dabei ist selbstverständlich, dass Referenden nur über Grundsatzfragen abgehalten werden, die sich mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten lassen. Doch in der Realität der Gesetzgebung sind juristische Detailfragen zu lösen und anschließend die Ausführungsbestimmungen festzusetzen. Es ist kaum vorstellbar, bei einem Referendum das gesamte Gesetz mit allen Einzelbestimmungen in komplizierter Juristensprache zur Abstimmung zu stellen. Wer sollte, wenn es schon keine Parlamente mehr gibt, diese Gesetzestexte aufsetzen? Fachleute? Nur nach welchem Prinzip sollten diese ausgewählt werden? Es ist leicht zu sehen, dass es Bürgerinnen und Bürger wahrscheinlich sehr schnell leid haben würden, ihre souveräne Macht auszuüben, wenn dies bedeutet, selbst für Experten schwierige Rechtsfragen und technische Quisquilien verstehen zu müssen, zum Beispiel wenn es um technische Sachverhalte bei einem Nuklearkraftwerk geht, und dann noch mehrmals im Monat zum Abstimmungslokal zu pilgern. Ganz zu schweigen von den Kosten häufiger Volksabstimmungen, die sicher nicht ganz gering ausfallen würden. Bezeichnenderweise liegt die Beteiligung bei Volksabstimmungen selbst in der Schweiz, die doch darin eine feste Tradition hat, bei nicht mehr als vierzig bis fünfzig Prozent.

Ein Ausweg wäre die „elektronische Demokratie“ (S. 195), also die digitale Abstimmung gleich von zuhause. Diese Novität käme Wladimir Wladimirowitsch und seinem treuen Chefkoch [gemeint ist Jewgenij Prigoschin, der Chef der berüchtigten Wagner-Söldnertruppe, bekannt geworden als „Putins Koch“; A.d.Ü.] sehr entgegen, dem Gründer ungezählter Trollfarmen. Klassische Wahlen mit Urnengang sind nicht so leicht zu fälschen, doch elektronische – wer weiß? Noch dazu könnte die Verliererseite stets behaupten, die Ergebnisse seien manipuliert worden, und das Gegenteil wäre schwer zu beweisen. So oder so könnte das Abstimmungsverhalten von der Angst mitbeeinflusst werden, dass die eigene Stimmabgabe bekannt werden könnte.

Sommer beendet seine umfangreichen Ausführungen mit einer etwas idyllischen Vision einer direkten Demokratie der Zukunft, wie sie im Jahre 2072 Realität sein könnte. Zuvor wurde in Deutschland 2038 das Recht auf Volksabstimmung und eine Gesetzgebungsinitiative der Bürger eingeführt, die 500.000 Unterschriften erfordert. Sowohl die Unterschriftensammlung als auch die Abstimmung selbst werden elektronisch durchgeführt, aber seit 2055 kommt es besonders bei der Jugend in Mode, das Abstimmungslokal persönlich aufzusuchen, „während der politische Gebrauch elektronischer Geräte als typisches Großelternverhalten immer noch geduldet wird“ (S. 226). Die erste derartige erfolgreich durchgedrückte Bürgerinitiative ist (Achtung, Achtung!) die „Verstaatlichung der wichtigsten digitalen Meinungsbildungs‑ und Entscheidungsplattformen“ (S. 266), und das ist eine Idee, die doch gerade in Polen, wo soeben noch der letzte verbliebene freie Fernsehsender vor dem Zugriff des autoritären Staates gerettet wurde, gemischte Gefühle auslösen muss.

Ob Sommers Vision uns überhaupt betreffen wird, ist nicht so ganz klar: Bis dahin sind nämlich in der Europäischen Union nur noch siebzehn Staaten verblieben, die aber mit einer Mehrheit von 71,44 Prozent eine gemeinsame Verfassung verabschieden, was jedoch aus unbekannten Gründen dazu führt, dass plötzlich eine ganze Reihe von Staaten Schlange stehen, die beitreten oder zum zweiten Mal beitreten wollen. Doch gibt es auch in dieser Idylle heftige Auseinandersetzungen. Einige Gesetzesinitiativen provozieren dramatische Diskussionen, beispielsweise der Vorschlag zur Einführung einer Erblotterie, nach dem nicht automatisch die Nachfahren den Besitz der Eltern übernehmen, sondern das Los darüber entscheiden würde – dieser Entwurf scheitert aber glücklicherweise im Referendum. Dagegen wird der Vorschlag zur Wiedereinführung der Todesstrafe angenommen, aber letztlich erklärt das Bundesverfassungsgericht das Referendum als mit internationalem Recht für unvereinbar und damit ungültig; wie sich erweist, ist die vox populi doch irgendwie zu beaufsichtigen, denn nicht immer spricht aus ihr die vox Dei, und wem der polnische Verfassungsgerichtshof unter Leitung von Julia Przyłębska [seit 2016 Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs; A.d.Ü.] vorschwebt, der kann sich leicht vorstellen, wie illusorisch Volksabstimmungen werden können, wenn das Verfassungsgericht einer einzigen Partei dienstbar gemacht worden ist.

Sommers Volksabstimmungsutopie macht also den Eindruck eines etwas naiven Projektes, das allerdings zum Glück mit einer großen Dosis Ironie vorgetragen wird. Naiv ist es jedoch nur zum Schein, denn der Autor ist sich der größten Gefahr absolut bewusst, die seiner kühnen Vision droht: „Das in diesem Buch vorgetragene Plädoyer für eine solche Form der Demokratie zehrt von leitenden Fiktionen. Etwa von der Fiktion mündiger, selbstverantwortlicher und freier Bürgerinnen und Bürger. Hält man die Angehörigen unserer Gattung hingegen nicht für mündigkeitsfähig und nicht für freiheitsfähig, wird man sich mit der Idee einer direkt-partizipatorischen Demokratie nicht anfreunden können“ (S. 210). Und eben der Ansporn zum verstärkten Nachdenken über den Bürger, diese „wichtigste Institution der Demokratie“, wie ihn Präsident Obama nannte, und über seine Fähigkeit, freiheitliche politische Systeme aufzubauen, ist wohl einer der wertvollsten Aspekte von Sommers Buch.

Es führt nämlich unweigerlich zu der beunruhigenden Frage, ob die Demokratie, wie sie sich heute in Westeuropa und den USA darstellt, eine bestimmte Entwicklungsetappe des Homo Sapiens ist, die zwingend evolutionärer Logik folgt, oder aber eine Sackgasse, ein Irrtum, der gerade richtiggestellt wird – in China, Russland, Belarus, im Iran, in Ungarn und in Polen. Ist das Vertrauen auf den bewusst und verantwortlich handelnden Bürger nur eine nützliche Fiktion oder doch mehr? Hat der moralische Optimismus der Aufklärung, der erkannt zu haben meinte, der Mensch sei fähig zur Vervollkommnung der äußeren Welt und seiner selbst, den Sachverhalt richtig erfasst oder sich in völligem Irrtum befunden? Es ist kein Zufall, dass das Aufkommen der liberalen Demokratie zusammenfiel mit der Erosion des Christentums, das geneigt war, den Menschen kraft seiner Natur, infolge der „Ursünde“ als ein vom Bösen vergiftetes Wesen zu sehen, das ständiger Kontrolle bedürfe und dem nicht das Recht zustehe, über sich selbst zu entscheiden, umso weniger über Dinge von allgemeinem Belang; ein Wesen, dessen gebührender Platz also der eines Schafes in der Herde ist, die von den ihnen an Klugheit überlegenen Hirten beaufsichtigt werden, seien diese nun geistlicher oder weltlicher Art. Daher beriefen sich Gegner der liberalen Demokratie wie Carl Schmitt so gern auf die Ideen des heiligen Augustinus von Hippo. Es drängt sich der Eindruck auf, die Menschheit stehe heute wieder vor der Notwendigkeit, sich zwischen der einen oder der anderen dieser beiden Optionen zu entscheiden: In Polen, in Ungarn, sogar in den USA steht der Fortbestand der Demokratie und der Menschenrechte zur Diskussion, und selbst in anscheinend so reifen Gesellschaften wie der deutschen und der französischen mangelt es nicht an Menschen, die von Putin und seinem Regime fasziniert sind, das angeblich fest in christlicher Religiosität und christlichen Werten verankert ist, auf die sich der russische Diktator so gern und oft beruft.

Alles läuft letztlich auf die Frage hinaus, ob der Mensch, wie es Sommer sagt, „fähig zur Freiheit“ sei und diese Freiheit auch wolle. Die alttestamentarische Erzählung vom Sklaven, der gar nicht freigelassen werden will (5. Moses 15), ist immer noch aktuell: Es gibt und wird wohl immer Menschen geben, die sich Freiheit gar nicht vorstellen können, die sie gewinnen könnten, aber alle hassen, die sich nach Freiheit sehnen und sie zu ihrem Vorteil nutzen könnten. Doch muss diese Erzählung modifiziert werden: Heute durchbohrt niemand mehr einem Sklaven das Ohr am Türrahmen des Herrn, im Gegenteil: Man redet den Menschen ein, sie seien das Salz der Erde, die beste Nation von allen. Und sie selbst träumen keineswegs davon, dass man sie an den Karren schmiede, vielmehr hoffen sie, dass der Herr ihnen eine Unze seiner Macht abtrete, und sei es auch nur symbolisch, auf dass sie sich ihrem aufsässigen Nachbarn überlegen fühlen können. Es ist übrigens nicht auszuschließen, dass die menschliche Natur selbst dazu neigt, die autoritäre Herrschaft vorzuziehen, wie sie das Alphamännchen ausübt, so wie es bei den meisten Primaten zu sehen ist. „Die Menschheit ist vielleicht zu ewigem Elend bestimmt, die Völker sind vielleicht auf ewig verdammt von Despoten zertreten, von den Spießgesellen derselben exploitiert, und von den Lakaien verhöhnt zu werden,“ wie Heinrich Heine wähnte.4 Obwohl Sommer sich bewusst ist, dass die Existenz „mündiger, selbstverantwortlicher und freier Bürgerinnen und Bürger“ vielleicht nur ein frommer Wunsch ist, so ist doch der auf praktisch jeder Seite seines Buches gegenwärtige stille Held eben gerade jener Bürger, der Subjekt, nicht nur Objekt politischer Entscheidungen ist, seine persönliche Freiheit schätzt und wirkliche Partizipation an den Regierungsgeschäften verlangt. In einem Land aber, in dem die Hälfte der Wähler bereit ist, für der liberalen Demokratie offen feindliche Parteien zu stimmen, erscheint eine solche optimistische, durchaus von der Aufklärung bestimmte Vision des Menschen schwach begründet. Sommer ist jedoch von seiner Schweizer Herkunft geprägt oder aber, wie er selbst zu schreiben vorzieht, von seinem „schweizerischen Migrationshintergrund“ (S. 42). Denn die Schweiz hat doch das Dilemma zwischen Freiheit und Untertänigkeit definitiv zugunsten der ersteren entschieden. Und das schon vor ziemlich langer Zeit. Als 1836 Georg Büchner, der sich vorher in welterschütternden Aufrufen erfolglos bemüht hatte, seine deutschen Landsleute zu Freiheitskampf und Revolution anzuspornen, sich von ihrer Passivität und Schwerfälligkeit enttäuscht in Zürich niederließ, gewann er rasch den Glauben an das „Volk“ zurück, das sehr bald den volkstümlichen Geist wiederbeleben werde. Ende November teilte er seiner Familie seine ersten Eindrücke aus der Schweiz mit: Es sei frappierend, wie auf jeden Schritt der allgemeine Wohlstand ins Auge falle, „freundliche Dörfer mit schönen Häusern“, dagegen: „Die Straßen laufen hier nicht voll Soldaten, Accessisten und faulen Staatsdienern“ – „dafür überall ein gesundes, kräftiges Volk“. Aber: „Die Schweiz ist eine Republik.“5 Und das schon seit Generationen. Wer weiß, ob nicht der von Sommer zitierte (S. 217) Friedrich Dürrenmatt recht hatte: „Die Welt wird entweder untergehen oder verschweizern“.

In den 1980er Jahren erzählten sich im schlimmsten Moment der Wirtschaftskrise und auf dem Höhepunkt der Hyperinflation die Leute in Polen einen Witz, wie aus diesem Elend herauszukommen sei: „Ganz einfach. Wir müssen den USA den Krieg erklären, ihn auf der Stelle verlieren, und dann sollen sich die Amerikaner den Kopf zerbrechen, wie sie uns aus diesem Schlamassel herausholen.“ Vielleicht wäre das eine Idee zur Gesundung der europäischen Demokratie: der Schweiz den Krieg erklären? Einen solchen Krieg zu verlieren, wäre nicht so schwer, schließlich hat jeder Schweizer bei sich ein Sturmgewehr im Schrank, und das ganze Land ist, wie schon der Schweizer Käse mit Löchern, mit Luftschutzkellern und Bunkern nur so durchsetzt. Und dann sollen doch die Schweizer sich den Kopf zerbrechen, wie sie uns helvetisieren können. Nur… Werden sie auch die ganze EU besetzen wollen? Und die Leute im Karpatenvorland bei der Volksabstimmung in die Wahllokale treiben? Was wird werden, sollten die Schweizer mittels Referendum beschließen, dass sie sich das alles lieber sparen?

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

 

 

Eine Demokratie für das 21. Jahrhundert Warum die Volksvertretung überholt ist und die Zukunft der direkten Demokratie gehört von Andreas Urs Sommer (Autor)

1 Gabriel Laub, Verärgerte Logik. Aphorismen, aus d. Tschechischen v. Friedrich Torberg, München: Hanser, 1969.

2 Andreas Urs Sommer, Eine Demokratie für das 21. Jahrhundert. Warum die Volksvertretung überholt ist und die Zukunft der direkten Demokratie gehört, München: Herder, 2022.

3 Andreas Urs Sommer, Wartości. Dlaczego ich potrzebujemy, chociaż ich nie ma [Werte. Wieso wir sie brauchen, obwohl es sie nicht gibt], übers. v. Tomasz Zatorski, Warszawa: Fundacja Augusta hrabiego Cieszkowskiego, 2021; dt. Ausgabe: Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt, Stuttgart: Metzler, 2016.

4 Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 1834, in: Projekt Gutenberg, URL: https://www.projekt-gutenberg.org/heine/religion/religion.html (18.12.2022).

5 Georg Büchner, Brief an die Familie, Zürich, 20. November 1836, in: Projekt Gutenberg, URL https://www.projekt-gutenberg.org/buechner/briefe1/chap006.html (18.12.2022).

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Tadeusz Zatorski

Tadeusz Zatorski

Tadeusz Zatorski ist Germanist, Übersetzer und Publizist.

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