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Putin hat den Tisch umgeworfen

Rüdiger von Fritsch ist ein erfahrener deutscher Diplomat, er kennt Ostmitteleuropa in- und auswendig. Die Krönung seiner erfolgreichen Karriere im Auswärtigen Amt war der Posten des deutschen Botschafters in Moskau 2014–2019. Davor war er Botschafter in Warschau, nahm an Verhandlungen zur Osterweiterung der Europäischen Union teil, war Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes und Leiter des Planungsstabs des Bundespräsidenten.

Seit seinem Ruhestand vor drei Jahren kann sich Rüdiger von Fritsch erlauben, sich viel freier zu äußern, als die noch aktiven Diplomaten. Seine beneidenswerte Fähigkeit, klare Gedanken und eindeutige Urteile zu formulieren machte ihn seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine zu einem Star der deutschen Fernseh- und Radiosender. Er kommentiert regelmäßig die Ereignisse an der ukrainisch-russischen Front.

Bereits sein erstes Buch über Russland „Russlands Weg. Als Botschafter in Moskau“, welches 2020, kurz nach seiner Rückkehr aus Moskau erschien, wurde von Literaturkritikerinnen und Literaturkritikern wahrgenommen und gewürdigt. Dies zu erreichen ist gar nicht so einfach, weil es auf dem deutschen Buchmarkt nur so wimmelt von Publikationen mit Russlandbezug. Das neuste Buch „Zeitenwende – Putins Krieg und die Folgen“ wurde weniger als drei Monate nach Ausbruch des Krieges veröffentlicht und war ein Volltreffer.

Es lohnt sich, Rüdiger von Fritschs Meinung kennenzulernen, da sie für das plötzliche Umdenken in Sachen Russland charakteristisch ist. Dieses Umdenken findet bei den deutschen politischen Eliten statt und ist richtungsweisend für die neue deutsche Außenpolitik; gleichzeitig werden immer noch existierende Diskrepanzen in der Wahrnehmung Russlands deutlich.

Putins Krieg oder Krieg der Russen?

Dem Autor kann keine Blindheit oder Naivität vorgeworfen werden, geschweige denn irgendwelche Verbindungen zu korrupten Netzwerken, zu deren Symbol der ehemalige Kanzler Gerhard Schröder wurde, als bezahlter Lobbyist der russischen Energiekonzerne.

Rüdiger von Fritsch versteckt keineswegs seine Sympathie für die russische Kultur und Kunst. Zudem schreibt er die russische Gesellschaft nicht ab, indem er klar das von Putin erschaffene autoritäre politische System von der einfachen russischen Bevölkerung trennt. Auch die deutsche Politik gegenüber Russland wird von ihm nicht in Bausch und Bogen verurteilt: überdies hofft er immer noch auf Einigung in der Zukunft. Schon der Titel des Buches „– Putins Krieg“ setzt den Autor in Widerspruch zu der in Polen dominierenden Denkweise, dernach die russische Gesellschaft für die Kriegsverbrechen verantwortlich sei.

„Alle Macht geht von Wladimir Putin aus“, schreibt Rüdiger von Fritsch in seiner Analyse des Herrschaftssystems des russischen Präsidenten und dessen historischen Wurzeln. Seine Sichtweise unterscheidet sich nicht von den meisten in Polen und anderen westlichen Ländern veröffentlichten Analysen.

Putin garantiert, dass Russland, „dieser große und alte mythische Körper, ein in der Welt respektiertes Land ist“, lesen wir. „Er zeigt es dem verweichlichten und schwachen Westen, er holt sich einfach die Krim zurück, und keiner kann etwas dagegen tun. Das heilige Russland, mit seiner ewigen Geschichte, seiner grandiosen Kultur und seinem Heldenmut, gedemütigt und erniedrigt von einem triumphierenden Westen, ist zurück auf der Bühne der Welt.“ Angst und Bestechung sind die Herrschaftsinstrumente. Die entscheidenden Machtinstrumente, um Widerspruch zu unterdrücken, sind neben der Angst Käuflichkeit und Erpressung.

Geschichte im Dienst der Politik

Von Fritsch verweist auf die zentrale Rolle des „Großen Vaterländischen Krieges” im der russischen Propaganda, unter der vollkommenen Ausblendung der Rolle, welche die Sowjetunion beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges spielte. „Der Hitler-Stalin-Pakt, der (…) dazu führte, dass die Rote Armee drei Wochen nach dem deutschen Angriff auf Polen ihrerseits in den Ostteil des Landes sowie in die baltischen Staaten und den Osten Rumäniens einmarschierte, wird (…) wenig thematisiert“, daran erinnert der Autor die deutschen Lesenden. Aus dem ersten Buch konnten wir erfahren, wie Putin Sergej Lawrow zur Weißglut brachte, als er bei einer öffentlichen Veranstaltung den Molotow-Ribbentrop-Pakt ansprach.

Von Fritsch hält Russland vor, „die historische Aufgabe“ einer Versöhnung mit den Nachbarn in Ostmitteleuropa ignoriert zu haben. Er erwähnt zugleich den Versuch, Polen als mitverantwortlich für den Kriegsausbruch darzustellen, aufgrund seiner Teilnahme am „Münchner Komplott“ und der Mitschuld an der Teilung der Tschechoslowakei.

Der Autor räumt ohne Wenn und Aber mit dem Mythos auf, die NATO bedrohe Russland, habe Russland umstellt. Er zählt Initiativen auf, die vor allem von Berlin ergriffen wurden, um Moskau zu beruhigen und seine Interessen zu berücksichtigen. „Deutschland hatte Russlands Sicht und Befindlichkeit seit den neunziger Jahren dabei besonders im Blick – was uns von westlichen Partnern häufig den Vorwurf zu großer Nähe zu Russland eintrug; bisweilen war von einer übergroßen, wenn nicht naiven ‘Russlandfreundlichkeit’ die Rede.“

Anschließend nennt er die NATO-Russland-Grundakte von 1997, die Aufnahme Russlands in die G7, den Zusammenschluss der bedeutendsten Industriestaaten 1998, das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und Russland, das 2010 um die Modernisierungspartnerschaft erweitert wurde, deutsche Investitionen und Städtepartnerschaften. Als eine Art Dach für die deutsch-russischen Beziehungen wurde 2001 der „Petersburger Dialog“ gegründet.

Das Märchen von der Bedrohung durch die NATO

Der Autor wirft der russischen Führung fehlende Bereitschaft zur konstruktiven Zusammenarbeit vor, er erklärt, die russischen Vorwürfe betrafen fast ausschließlich die NATO-Erweiterung und das Näherrücken des Bündnisses an Russlands Grenzen. Von Fritsch polemisiert mit den russischen Vorwürfen indem er betont, die Staaten Ostmittleeuropas haben das Recht gehabt, dem Bündnis beizutreten.

„NATO-Truppen stehen in Europa nur in NATO-Mitgliedstaaten. Russische Truppen hingegen bis heute in drei europäischen Staaten – gegen deren Willen: in Georgien, in der Ukraine und in der Republik Moldau. Ob es dem Wunsch des belarussischen Volkes entspricht, russische Truppen im Land zu haben, darf bezweifelt werden.“

Rüdiger von Fritsch demaskiert einmal mehr den Mythos von der Verabredung, dernach der Westen Russland versprochen hätte, die NATO nicht gen Osten zu erweitern. Er beruft sich dabei auf sein Gespräch mit Michail Gorbatschow, der meinte: „Es ist ein Mythos, dass es damals solche Verabredungen gegeben hat.“ Der deutsche Diplomat gibt zu, der Westen hätte noch entschlossener an einer wirklich gesamteuropäischen Friedensordnung arbeiten können. Doch das wechselseitige Misstrauen blieb zu groß, wie er meint. Bei dieser Gelegenheit weist er auf die besondere Rolle hin, welche Putin Deutschland attestierte: „Sie dürfen sich nicht immer in die zweite Reihe drängen lassen! Deutschland muss eine viel aktivere Rolle spielen – die europäische Einigung ist gut, wir begrüßen sie. Aber Deutschland muss dort führen!“, hat Wladimir Putin einmal in einem Gespräch, hinter verschlossenen Türen, mit ihm wohlgesinnten deutschen Gästen gesagt.

Trotz der Niederlage der deutschen Politik bei der Annäherung an Russland, wird sie von ihm verteidigt. „Doch Wladimir Putin hat an die Stelle des Dialogs die Konfrontation gesetzt: Er hat das Schachbrett umgeworfen. Das macht weder die Regeln des Schachs noch frühere Züge falsch.“, konstatiert von Fritsch.

Gerechtigkeit vor dem Gesetz

Er verwahrt sich dagegen, Putins Handeln für irrational zu halten. Russlands Präsident folgt „nur einer anderen Rationalität, auf der Grundlage einer falschen Einschätzung der Wirklichkeit. ‘Wir sind nicht dumm, wir denken nur anders’“, hatte der russische Journalist Michail Gusman gesagt. Und er hatte hinzugefügt: „Euer größter Fehler ist es zu glauben, wir hätten Gesetze. Wir kennen nur Gerechtigkeit.“

Genau diese Einstellung entspricht Putins Denkweise. Legitimität ist für ihn wichtiger als Legalität. „Für mich sind nicht Grenzen und Staatsterritorien wichtig, sondern das Schicksal der Menschen“, so der russische Präsident.

Von Fritsch ist dagegen, den heutigen Konflikt als „neuen Kalten Krieg“ zu betrachten. Er erklärt, in der Vergangenheit haben sich zwei Supermächte gegenübergestanden. „Die Sowjetunion war eine Macht mit dem Anspruch auf weltweiten Einfluss, und sie vertrat eine Ideologie, die vielen attraktiv erschien (…)“, bemerkt er.  Heute ist Russland isoliert und „auf eine ungleiche Partnerschaft mit China verwiesen.“ Sein politisches Modell ohne positive Energie erscheint für niemanden mehr attraktiv, stellt er fest.

Der Autor der „Zeitenwende” verteidigt die Entspannungspolitik in den 1970er Jahren. „Heute wissen es viele besser und beklagen, die deutsche Politik sei naiv und blauäugig gewesen. Solch rückblickende Rechthaberei ist wohlfeil. Sie unterstellt eine Linearität der Politik Russlands und eine Zielgerichtetheit Wladimir Putins, die es so nicht gegeben hat“, unterstreicht er.

Wenn er hervorhebt, in keinem anderen Land wurden wohl aus der russischen Aggression gegen die Ukraine so drastisch, dramatisch und schnell Konsequenzen gezogen wie in Deutschland, dann spricht aus ihm ein deutscher Beamter, der sein Land repräsentiert. Er erinnert daran, wie schon am dritten Tag nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine Kanzler Olaf Scholz eine „Zeitenwende“ ausrief. Dies bedeutete, den Verteidigungshaushalt erheblich aufzustocken und das Verbot der Waffenlieferungen in Krisengebiete aufzugeben, also auch bezüglich der Ukraine.

„Sicherheit mit Russland ist gegenwärtig nicht länger denkbar“, schreibt von Fritsch. Konfrontation verlangt Entschlossenheit und Bereitschaft zur Abschreckung, jedoch sollten, seiner Meinung nach, auch Russlands Sicht und seine Sicherheitsinteressen berücksichtigt werden. „Wir dürfen dies auch künftig nicht völlig aufgeben, wir müssen auch weiterhin bereit sein, mit einem anderen Russland zur Idee des gemeinsamen europäischen Hauses zurückzukehren“, macht er deutlich, womit er die Sympathien der polnischen Leserschaft eher nicht gewinnen wird. Ziel sollte es sein, einen Zustand der „geordneten Konfrontation“ herzustellen, eine Verabredung zur Begrenzung großer Waffensysteme, konventioneller Fähigkeiten und moderner Mittel der militärischen Auseinandersetzung zu treffen.

Ist ein russischer Wałęsa möglich?

Von Fritsch verteidigt konsequent die gegen Russland verhängten Sanktionen und ist von deren Wirksamkeit überzeugt. Er hebt hervor, Putin habe den ungeschriebenen Vertrag mit dem eigenen Volk verletzt. Die Russen stimmten seiner Herrschaft zu, aber im Gegenzug forderten sie eine relative Stabilisierung und wollten von den Behörden in Ruhe gelassen werden. Die vom Präsidenten ausgerufene Mobilisierung bedeutet daher einen Vertragsbruch. Der Autor ist der Meinung, Putin fürchte besonders den Unmut der russischen Bevölkerung. Die massenhaften Ausreisen verursachen einen Aderlass wie seit der Revolution von 1917 nicht mehr.

Von Fritsch überlegt, ob in Russland ein Aufstand möglich wäre, der die Macht bedrohen könnte. Um auf diese Frage zu antworten, greift er auf die Erfahrungen zurück, die er in Polen gesammelt hat. Als angehender Diplomat war er Ende der 1980er Jahre in der deutschen Botschaft in Warschau für die Kontakte mit der Opposition zuständig. „Eines Tages taucht der `schwarze Schwan` auf, und es entsteht eine unvorhergesehene und in ihren Weiterungen unkalkulierbare Situation. Dann klettert ein unbekannter polnischer Werftarbeiter, dem es reicht, aufs Danziger Werkstor und ruft: ‘Mir nach!’“, so von Fritsch.

Wie er betont, fürchtet Wladimir Putin nichts mehr, als einen russischen Lech Wałęsa, einen charismatischen Anführer, „den noch niemand kennt, auch der Geheimdienst nicht“.

Demokratie oder Militärdiktatur?

Sollte es in Russland zu einer Volkserhebung kommen, stellt sich die Frage, ob sich hieraus eine demokratische Entwicklung ergeben könnte. Nicht auszuschließen ist, dass in einem solchen Fall erst einmal der Sicherheitsapparat die Oberhand gewinnt, indem er Stabilität und Ordnung verspricht, die Umverteilung von Reichtum und Wohlstand und Bestrafung der Schuldigen. Große Teile der russischen Bevölkerung begegnen der Demokratie mit Misstrauen, und bringen sie mit westlicher Dekadenz und Verfall in Verbindung. In Betracht wird auch folgendes Szenario gezogen: Enttäuscht von den ungünstigen Entwicklungen würde das Militär einschreiten, und einen Machtwechsel vollziehen.

„Wird das russisch-europäische Verhältnis dauerhaft von Konfrontation bestimmt bleiben?“, fragt von Fritsch. Er gibt pessimistisch zu, alle Träume, Entwürfe und Visionen der vergangenen Jahre scheinen in Trümmern zu liegen. Der gemeinsame politische Raum von Lissabon – beziehungsweise Vancouver – bis Wladiwostok ist in unerreichbare Ferne gerückt.

Putin hat den Weg der Konfrontation gewählt. „Einhegung, ‘containment’, ist unabdingbar, ‘constrainment’, das Abhalten von weiterem Ausgreifen, muss hinzukommen“, meint der Autor. Trotzdem gibt er die Hoffnung nicht auf, eine Zusammenarbeit mit Russland, zumindest bei den „großen Zukunftsthemen“ würde möglich bleiben. Von Fritsch nennt dabei den Klimawandel, Pandemien, Migration und Terrorismus sowie Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung von nuklearen Waffen. „Hier müssen wir gemeinsam zumindest zur ‘geordneten Konfrontation’ kommen.“

Die russische Gesellschaft bleibt unser Partner

Von Fritsch ist, wie die ganze deutsche Diplomatie, von der Wirksamkeit eines Dialogs überzeugt, sogar mit den schlimmsten Autokraten, und so bemüht er sich zum Schluss um ein wenig Optimismus. „Wladimir Putin ist zwar Russlands Macht, aber er ist nicht Russland“, hält der Autor fest. „Wo uns dies möglich ist, müssen wir bestehende Verbindungen nutzen und die Tradition des Austauschs fortsetzen, die wir in der Kultur oder der Wissenschaft haben. Auch wenn die russische Zivilgesellschaft unter den zunehmenden Repressionen enorm zu leiden hat, bleibt sie ein wichtiger Partner. Und sie braucht uns an ihrer Seite“, erklärt er.

„Weder ist ausgemacht, dass Chinas Weg auf Dauer erfolgreich ist, noch, dass Russland sich nicht wandelt“, stellt er fest.

Leider hat von Fritsch keine magische Zauberkugel, die das Ende des Krieges voraussagen könnte. In seinem Buch stellt er vier mögliche Szenarien dar: den ukrainischen Sieg, den russischen Sieg, einen Patt und die Eskalation des Konfliktes, ohne vorwegzunehmen, welches er für das realistischste hält. Seit der Veröffentlichung des Buches ist ein halbes Jahr vergangen, doch diese Frage bleibt immer noch offen.

Rüdiger von Fritsch, Zeitenwende. Putins Krieg und die Folgen, Verlag Aufbau, Berlin 2022

 

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Jacek Lepiarz

Jacek Lepiarz

Jacek Lepiarz ist Germanist, Historiker und Journalist. Er arbeitet mit der Deutschen Welle zusammen. Zuvor war er Berlin-Korrespondent der Polnischen Presseagentur sowie Warschau-Korrespondent der DPA.

2 Gedanken zu „Putin hat den Tisch umgeworfen“

  1. Aus meiner Sicht ein hervorragender Beitrag, verständlich und nachvollziehbar!
    Er hebt sich erfreulicherweise von vielen anderen Einschätzungen mit halbgarem Wissen ab. Insofern dient er zur Erweiterung des eigenen Horizonts und weit darüber hinaus.

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