Kurz vor Jahresende veröffentlichte der stellvertretende Leiter des Polnischen Entwicklungsfonds, Bartosz Marczuk, auf Twitter die Gesamtsumme, die Polen seit Beginn der russischen Aggression am 24. Februar 2022 für die Ukrainehilfe aufgebracht hat. Wie die Daten zeigen, lag der Betrag im vergangenen Jahr bei insgesamt etwa 35 bis 40 Milliarden Złoty (7,5 bis 8,5 Milliarden Euro). Davon entfielen zehn Milliarden auf Rüstungsgüter, sechs Milliarden wurden aus dem Staatshaushalt für die ukrainischen Flüchtlinge bereitgestellt, darunter für Sozialhilfe für Kinder, etwa zehn Milliarden sind Hilfsleistungen, die von Lokalverwaltungen und Nichtregierungsorganisationen aufgebracht wurden, weitere etwa zehn Milliarden wurden von Polinnen und Polen privat gespendet. Im selben Tweet schätzte Marczuk, Ende 2022 habe die Anzahl der Flüchtlinge aus der Ukraine in Polen bei 950 Tausend gelegen. Eine große Mehrheit (90 Prozent) dieser Menschen sind Frauen und Kinder, etwa sechs Prozent haben Behinderungen.
Die genannten Zahlen stützen sich selbstverständlich auf offizielle Daten, die aufgrund der sogenannten PESEL-Datenbasis [PESEL: elfstellige persönliche Identifikationsnummer; A.d.Ü.] erhoben wurden und höchstwahrscheinlich nicht das gesamte Ausmaß der Kriegsmigration erfassen noch den wirklichen Umfang der privaten Hilfe, welche die Polen vor dem Krieg Zuflucht suchenden Ukrainern gewährt haben. Denn beide Aspekte werden nicht immer von den regierungsoffiziellen Statistiken erfasst, sind aber Realität und für die Entwicklung in beiden Ländern von Bedeutung. Auch wenn die genannten Daten Bewunderung für das polnische Engagement bei der Ukrainehilfe abnötigen, sagen sie uns doch wenig über die Herausforderungen, denen wir uns im neuen Jahr werden stellen müssen. Wir wissen allein, dass dieses Jahr in Polen wie in der Ukraine noch schwieriger werden könnte als das vergangene.
Die amtierende polnische Regierung bereitet sich auf die für den Herbst 2023 angesetzten Sejmwahlen vor und wird genauestens die gesellschaftlichen Stimmungen beobachten, mit besonderem Augenmerk darauf, was die Leute wollen, nicht zuletzt im Hinblick auf die Flüchtlinge aus der Ukraine. Seit Herbst 2022 zeichnet sich ab, dass die Hilfsbereitschaft zurückgeht und ukrainische Flüchtlinge unversehens für die sich verschlechternde Wirtschaftslage in Polen verantwortlich gemacht werden. Im internationalen Vergleich hat die Inflation Polen besonders schwer getroffen; im Herbst lag sie bei 17 bis 18 Prozent. Die wirtschaftliche Verschlechterung und selbst die Aussicht auf ein weiteres schwieriges Jahr, wie sie die meisten Haushalte zu spüren bekommen, haben jedoch nichts an der Haltung der Polen zum Krieg an sich geändert. Ganz im Gegenteil. In dieser Hinsicht ist der Trend stabil: Die Polen stehen weiter fest auf ukrainischer Seite und nehmen Russland unverändert als den Aggressor wahr.
Seit dem Herbst sind jedoch Veränderungen bei den Entscheidungen der Regierung zu beobachten. Die Hilfsleistungen werden von der Flüchtlingshilfe an Ort und Stelle zu Projekten in der Ukraine selbst umgelenkt. Ein Beispiel für letztere sind die sogenannten Containerhäuser, die seit Mai 2022 von polnischen Firmen an vielen Orten in der Ukraine aufgestellt wurden, unter anderem in Butscha. Dabei steht im Vordergrund, so viele Menschen wie möglich im Land zu halten und ihnen einigermaßen zu ermöglichen, bis Kriegsende auszuharren.
Doch unser Bild von Land und Leuten wäre nicht vollständig, wenn wir uns allein auf Statistiken und Regierungsentscheidungen verließen (unabhängig davon, wer gerade die Regierung stellt). Die Polen bringen es immer wieder fertig, die Welt zu überraschen, indem sie gegen festgefahrene Ansichten und Medienklischees verstoßen. So war es bei Kriegsbeginn; denn entgegen früheren flüchtlingsfeindlichen Einstellungen, wie sie sich 2015 oder dann wieder 2021 an der polnisch-belarusischen Grenze zeigten, waren sie in großer Zahl bereit, den ukrainischen Kriegsflüchtlingen zu helfen. Während die Ukrainehilfe und die Grenzöffnung Polens ramponiertes Ansehen in der Welt bei Kriegsbeginn erheblich verbesserte, ist doch inzwischen dieses Image einer komplizierten und ständig in Veränderung begriffenen Situation gewichen. So wird es in den kommenden Monaten bleiben, wie ich es seit einiger Zeit in Krakau wahrnehme, der Stadt, in der sich nach Warschau und Breslau die meisten ukrainischen Flüchtlinge aufhalten.
Um die Dynamik der Entwicklung besser zu verstehen, verabrede ich mich mit der Koordinatorin der Hilfseinrichtung „Łagiewnicka[-Straße] 54“, einem der Orte, an denen seit Kriegsbeginn Sachspenden an ukrainische Flüchtlinge verteilt werden (Kleidung, Hygieneartikel und andere Dinge des täglichen Bedarfs). Die Stelle wird von der Stiftung „Dobro Zawsze Wraca“ (Das Gute zahlt sich immer aus) geleitet und ist einer von wenigen in Krakau verbliebenen Orten, an denen noch täglich und vorbehaltlos Flüchtlingshilfe geleistet wird.
Agnieszka Szyluk koordinierte zuvor die Unterstützung für ukrainische Frauen und Kinder in einem Krakauer Nachtasyl. Im Juni wechselte sie an die Einrichtung an der Łagiewnicka-Straße, wo sie bis heute die Hilfe am Ort und Transporte in die Ukraine organisiert und beaufsichtigt. Sie hilft auch bei einer der in Polen bekanntesten informellen Initiativen mit, die unter dem Namen „Suppe für die Ukraine“ firmiert. Diese regt die Krakauer dazu an, Suppe für Flüchtlinge zu kochen, die dann in Einmachtöpfen an die Hilfsbedürftigen verteilt wird. Im Frühjahr wurden Töpfe mit Suppe aus Krakau an die Front und an Hilfsorganisationen in der Ukraine verschickt. Sie gelangten unter anderem nach Butscha, nachdem dieses von ukrainischen Truppen befreit worden war.
„Wie ist die Lage gegenwärtig im Vergleich zum Februar letzten Jahres?“, frage ich Agnieszka zu Beginn unseres Treffens. „Am Anfang hatten wir praktisch alles, und die Spenden trafen geradezu in rauen Mengen ein. Die Leute kamen aus der Güte ihres Herzens mit allem, was sie hatten. Aber jetzt, Monate später, sind diese Möglichkeiten praktisch erschöpft. Wenn ich also selbst etwas nicht finden kann oder ein früherer Mitarbeiter mich nicht anruft, haben wir den Flüchtlingen nichts von dem anzubieten, was sie brauchen.“ Am meisten fehlt es an Hygieneartikeln und Putzmitteln, aber auch immer mehr an Kleidung, warmen Decken und kleineren Haushaltsgeräten. Es fehlt an medizinischen Hilfsmitteln, besonders für Ältere, kleine Kinder und Behinderte. Gerade diese Gruppen sind am meisten auf die in Krakau angebotene Hilfe angewiesen. Soweit ich sehe, ist die Situation in anderen Hilfseinrichtungen ähnlich, selbst dort, wo vorher die Spendenannahme verweigert wurde, weil sie noch im Juli dafür keinen Platz in den Magazinen hatten und es zeitweise mehr Spenden gab, als nachgefragt wurden.
Wenn ich systematisch Facebook durchsehe, ist die Entschlossenheit, Hilfe zu finden, nicht zurückgegangen, trotz aller Schwierigkeiten. Es gibt emotionale Posts über leere Regale und fehlende Suppe und Hygieneartikel, die manches Mal lange nachhallen und von der Findigkeit ihrer Autoren zeugen. „Wieso macht ihr das?“, frage ich Agnieszka, und ich möchte wissen, ob die Polen nicht schon ganz von den vielen Spendenaufrufen abgestumpft sind. „Natürlich merken wir, dass Privatpersonen jetzt weniger helfen als am Anfang. Wir wissen, dass viele schon alles gegeben haben, was sie hatten, doch der Bedarf ist unvermindert groß. Mit der neuen Flüchtlingswelle wächst er vielmehr noch.“
„Aber gibt es denn eine neue Flüchtlingswelle?“, frage ich nach, wobei mir die kürzliche Behauptung eines polnischen Ministers in den Sinn kommt, der vermehrte Verkehr an der polnisch-ukrainischen Grenze sei nur auf Feiertagsbesuche zurückzuführen. Doch Agnieszka sieht bereits seit Oktober einen verstärkten Zustrom von Flüchtlingen, und seit Beginn der massiven Angriffe auf die kritische Infrastruktur an verschiedenen ukrainischen Orten gibt es ihrer Meinung nach viel mehr Menschen, die in Polen Schutz suchen, auch wenn sie vielleicht weniger sichtbar sind.
Tatsächlich lässt ein Besuch auf dem Krakauer Bahnhof, der noch im Juni von Ankömmlingen und freiwilligen Helfern überfüllt war, keine neue Welle erkennen. „Natürlich kamen die meisten Flüchtlinge bei Kriegsbeginn,“ erklärt Agnieszka weiter, „und wir reagierten entsprechend auf ihre Ankunft. Jetzt reisen viele zu ihren Familienangehörigen, die bereits in Polen Unterkunft gefunden haben. Nur wenige suchen Hilfe bei den Nachtasylen“, erklärt Agnieszka.
Die Unterbringung ist ganz klar das größte Problem, das die Ankömmlinge aus der Ukraine zu bewältigen haben. In den Großstädten sind die Mieten für die meisten Einwohner schon ein Alptraum, und die Anzahl der bezahlbaren Wohnungen hält bereits lange nicht mehr mit der Nachfrage mit. Wohnungsprogramme der Regierung sind immer wieder gescheitert und Anlass für Frust gerade der jüngeren Generation. Dasselbe gilt für die Wohnungshilfe für Personen und Einrichtungen, die Flüchtlinge bei sich aufgenommen haben. Es gibt eine bescheidene Zahlung von vierzig Złoty (neun Euro) pro Tag und Person, die aber nur den Hausherren zusteht, und das nur auf begrenzte Zeit. Wenn diese Frist verstrichen ist, verlieren viele Menschen ihre Unterkunft und sind gezwungen, eine neue Bleibe auf dem immer brutaleren Wohnungsmarkt zu suchen.
Wie die Daten aus dem eingangs zitierten Tweet von Bartosz Marczuk zeigen, arbeiten 60 bis 70 Prozent der Ukrainer, aber viele nutzen immer noch die Sachhilfen, die Punkte wie „Łagiewnicka 54“ anbieten. „Ich sehe auf Facebook oft Posts, dass jemand aus der Ukraine eine neue Wohnung sucht, da er seine jetzige räumen muss, weil die Frist abläuft, in der die Miete vom Staat übernommen wird. Aus Gesprächen mit Neuankömmlingen weiß ich aber, dass Leute, die arbeiten, nach Miete und Gebühren nicht genug zum Leben bleibt. Dabei gibt es in solchen Familien doch viele wirtschaftlich Abhängige: Kinder, Eltern, Behinderte. Die galoppierende Inflation trägt zusätzlich dazu bei, dass sie mit ihrem Einkommen allein nicht über den ganzen Monat kommen. Deshalb werden sie weiter die Hilfseinrichtungen in Anspruch nehmen.“
Am Ende unseres Gesprächs frage ich, wie es unter diesen Umständen mit Einrichtungen wie der an der Łagiewnicka-Straße oder der Initiative „Suppe für die Ukraine“ weitergehen wird. Agnieszka weiß darauf eine klare und vielsagende Antwort: „Es wird noch schlimmer kommen, aber wir werden mit der Hilfe nicht aufhören.“ Daher suchen sie auch außerhalb von Polen nach Unterstützung für ihre Initiativen und wenden sich verstärkt an Partner aus der europäischen Nachbarschaft. Dort sind die Möglichkeiten zu helfen anscheinend noch etwas besser, und darauf setzen die polnischen Freiwilligen ihre größten Hoffnungen.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann
Spendenaufruf
Wir appellieren an unsere Leser, die Stiftung Dobro Zawsze Wraca zu unterstützen, die einen kostenlosen Laden in Krakau betreibt: Kleidung, Schuhe (für Erwachsene und Kinder), Babyartikel, Kosmetika, Bettwäsche, Handtücher, Spielzeug und andere nützliche Dinge für zu Hause. In der Lagiewnicka 54 ist alles kostenlos. Sie können die Stiftung unterstützen, indem Sie über unsere Seite (https://forumdialog.eu/ueber-uns/spenden-an-dialog-forum/) eine beliebige Geldspende unter Angabe des Verwendungszwecks „Ukrainehilfe“ bis zum 10.02.2023 tätigen. Die eingesammelten Gelder werden ohne jegliche Abzüge in Gänze an die Stiftung weitergeleitet. Die Redaktion |
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