Es ist Januar, doch das Thermometer zeigt ganz und gar keine der Jahreszeit entsprechende Temperatur an. Wie ich durch die Straßen Stettins spaziere, scheint es mir, als wolle zaghaft der Frühling beginnen, nur die Oder riecht noch nach frisch geschmolzenem Schnee. In Deutschland, wo ich seit zwanzig Jahren lebe, ist der Januar für viele die Zeit, erstmals zu prüfen, ob man denn auch seine guten Vorsätze im neuen Jahr einhalte. Wer sich aber mit der historischen Verantwortung Deutschlands befasst, insbesondere in Anbetracht der aktuellen geopolitischen Lage in Europa, für den ist es eine Zeit verstärkten kritischen Nachdenkens über eine schändliche Vergangenheit. Denn die Medien erinnern regelmäßig an drei historische Ereignisse, die sich im Januar zutrugen: Die Machtübernahme durch Adolf Hitler 1933, mit der das Ende der Demokratie und der Beginn brutaler Rechtlosigkeit eingeleitet wurde; die Wannseekonferenz 1942, bei der die Vernichtung der europäischen Juden geplant wurde; schließlich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau durch Soldaten der Roten Armee (in der Hauptsache Ukrainer) am 27. Januar 1945. Im Jahr 1996 erklärte Bundespräsident Roman Herzog diesen Tag zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, der seither in Deutschland begangen wird. Die auf Halbmast gesetzten Fahnen an öffentlichen Gebäuden sollen Scham und Schmerz über die von den Nationalsozialisten begangenen Verbrechen zum Ausdruck bringen.
An diesem bedrückend grauen Nachmittag kehre ich in Gedanken zu jenen historischen Ereignissen zurück, denn sie läuteten auch das Ende des deutschen Stettins ein, das sich als Hauptstadt Pommerns um 1900 wirtschaftlich und kulturell rasant entwickelt hatte. Pommern erlag als eine der ersten preußischen Provinzen der Nazipropaganda. Ich kehre gedanklich dahin zurück, weil die Jahre 1933 und 1945 wie keine anderen in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts für mich nicht voneinander zu trennen sind: Das eine wäre nicht möglich ohne das andere. Um Günther Anders, den in Breslau geborenen Schriftsteller und Philosophen, zu paraphrasieren: Das Feuer, das die deutschen Städte 1945 verschlang, wurde von den Deutschen selbst gelegt, und zwar schon in den dreißiger Jahren. Symbolisch, als ein wenig begabter österreichischer Maler Reichskanzler wurde, und real, als überall im Land die jüdischen Gebetshäuser brannten.
Ich möchte den Ort besuchen, an dem die 1938 zerstörte Neue Synagoge stand, an der ulica Dworcowa (vormals Grüne Schanze) in Stettin. Im Internet sind einige historische Aufnahmen des Bauwerks zu finden. Die mit einer auf den Brand der Synagoge gaffenden Menschenmenge zieht meine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Ich versuche, mir die Katastrophe vorzustellen, die immer noch landläufig „Reichskristallnacht“ genannt wird, während derer in ganz Deutschland nicht nur viele jüdische Einrichtungen geschlossen oder zerstört, sondern auch Menschen ermordet oder in Konzentrationslager verschleppt wurden. Die in Stettin festgenommenen jüdischen Männer kamen meist in das Lager Sachsenhausen nördlich von Berlin. Die Lücke, die der Pogrom in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 mit der niedergebrannten Synagoge hinterließ, ist bis heute zu sehen. Ein unlängst fertiggestelltes Wandbild mit einer Darstellung der Synagoge lenkt für einen Augenblick davon ab, dass sie nicht mehr dort steht.
Nach den Ereignissen des November 1938 begann ein massenhafter Exodus der jüdischen Bevölkerung aus Stettin. Nach statistischen Angaben verließen von den 2500 Mitgliedern der jüdischen Gemeinde im Jahr 1933 bis 1940 etwa 1600 die Stadt. Wer bleiben wollte oder musste, hatte dafür seine Gründe. In vielen Fällen wurde kein Ausreisevisum erteilt, die Menschen wollten ihre Familie und Verwandten nicht verlassen oder sie glaubten, aus heutiger Sicht naiv, daran, dass die Nationalsozialisten sich nicht dazu versteigen würden, Gewalt gegen eigene Staatsangehörige anzuwenden, die ihre Sprache sprachen und im Ersten Weltkrieg an der Front gedient hatten. Die folgenden Jahre sollten zeigen, wie sehr sie sich irrten.
In der Nacht vom 12. auf den 13. Februar 1940 wurden im Regierungsbezirk Stettin und der Stadt selbst über 1120 Frauen, Männer und Kinder, Reichsangehörige jüdischer Abstammung und ihre Begleitpersonen, verhaftet, zum Güterbahnhof gebracht und von dort unter unmenschlichen Umständen nach Lublin verschickt. Die ganze Aktion verlief fast geräuschlos, ohne Protest von Passanten, Nachbarn oder der Deportierten selbst, die apathisch den Befehlen Folge leisteten und bisweilen sogar den Tätern freiwillig ihre Wohnungsschlüssel übergaben.
Die Fahrt in unbeheizten Waggons dritter Klasse in das von den Nationalsozialisten nach dem Überfall auf Polen 1939 geschaffene Generalgouvernement dauerte drei Tage und kostete viele das Leben. Nach der Ankunft mussten die Kranken in Lublin bleiben, die übrigen Deportierten wurden an einige Kilometer entfernte Orte geschickt: Piaski, Bełżyce, Głusk i Bychawa. Anfangs wurden sie bei jüdischen Familien untergebracht, doch im Herbst 1940 wurden sie in die neu eingerichteten Ghettos geschickt und von dort in die Konzentrations- oder Vernichtungslager. Gerade einmal 19 Personen überlebten die Deportation. Darunter war der 1930 in Stettin geborene Manfred Heymann. In einem mehrstündigen Interview, das er in den 1990er Jahren der BBC gab, schockiert der authentische Bericht des Überlebenden über mehrere Lageraufenthalte, die er als Kind überstand, es schockieren auch die Spuren von Erfrierungen an den Händen, die wahrscheinlich von der tagelangen Fahrt des Zehnjährigen im unbeheizten Zug bei fast dreißig Grad minus stammen. Die Kälte ist auch in den wenigen erhaltenen Briefen der Deportierten ein allgegenwärtiges Thema. Soweit ich mir die Wetterlage im Februar 1940 vorstellen kann, die sich von unserer gegenwärtigen so sehr unterscheidet, kann ich die Kälte und Gleichgültigkeit derjenigen nicht verstehen, die Zeugen der Deportation waren und nichts unternahmen, um sie zu verhindern. Irgendwo in mir steckt ein Funke Hoffnung, dass sie sich heute anders verhalten würden, aber auch die Angst, dass das nicht der Fall sein könnte.
Neuste Statistiken zeigen, dass junge Deutsche immer weniger über den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg wissen. Ebenso wenig wissen sie über die Verwicklung ihrer Familien in das NS-System. Meine persönlichen Erfahrungen bestätigen das. Ich höre ständig, wie anständig die Zwangsarbeiter angeblich behandelt worden seien, doch ich höre so gut wie nie vom sprichwörtlichen Großvater in der Wehrmacht. Es besteht die Befürchtung, dass mit dem Abtritt der Erlebnisgeneration sich dieses Unwissen noch vertiefen wird, ganz zu schweigen von der Geschichte der seit 1945 außerhalb der deutschen Grenzen befindlichen Gebiete. Schon heute ist die Vorkriegsgeschichte Stettins, insbesondere die jüdische, beinahe ein Geheimwissen. Sie interessiert einige wenige darauf spezialisierte Einrichtungen und ein Häuflein der dort Beschäftigten, dann höchstens noch ein paar Aktivisten, die sich auf eigene Rechnung engagieren. Dafür gibt es verschiedene Gründe: In Westdeutschland, wo das Narrativ von der deutschen Vergangenheit dieser Gebiete lange Zeit durch die stark politisierten Vertriebenenverbände vereinnahmt wurde, geriet sie bei denjenigen, die nicht zu ihnen gehörten, allmählich in Vergessenheit. In der DDR hingegen wurde im Namen der Freundschaft der Ostblockstaaten die Erinnerung an die Gebiete jenseits von Oder und Neiße mit einem ideologischen Tabu belegt. Was die Geschichte der Jüdinnen und Juden im sogenannten deutschen Osten betrifft, so war die Sache komplizierter: Während in der alten Bundesrepublik die Beschäftigung der Vertriebenen mit dem Heimatverlust eine tiefergehende Reflexion über dessen Ursachen – und somit über die Mitverantwortung am Holocaust – verhinderte, verlagerte in der DDR der antifaschistische Gründungsmythos die Frage der Schuld in den Westen und führte so zur kollektiven Amnesie im historischen Bewusstsein. Die Polinnen und Polen ihrerseits, die sich ab 1945 in den ehemaligen deutschen Gebieten niederließen, verband mit ihrer neuen Heimat jahrelang nichts weiter als ein Gefühl der Fremdheit und der Einstweiligkeit, mitunter sogar der Angst. Auch die Einstellung zum jüdischen Erbe war hier meist negativ gefärbt; es wurde eigentlich nicht von den anderen deutschen Hinterlassenschaften unterschieden und mit der Zeit dem Verschweigen und Vergessen überlassen.
Ich wage hier einmal die Behauptung, dass erst die Aktivitäten des Stettiner Journalisten und Aktivisten Andrzej Kotula auf diesem Gebiet eine Wende herbeiführten; ihm gelang es 2015, mit Unterstützung vieler wohlgesonnener Personen und Institutionen eine Gedenkveranstaltung anlässlich des 75. Jahrestages der Deportation der Jüdinnen und Juden aus dem Regierungsbezirk Stettin zu organisieren. Bei dieser Gelegenheit begannen Polen und Deutsche erstmals öffentlich über die von den einen wie den anderen ungewollte und niemandem zugehörige Geschichte miteinander zu sprechen. Andrzej Kotulas Engagement hatte einen Schneeballeffekt und regte in den Folgejahren viele weitere internationale Aktivitäten zur deutsch-jüdischen Geschichte an. Eine der interessantesten davon ist das Projekt „Die Übung“ von Natalia Szostak und Weronika Fibich, das vom 19. Januar bis zum 21. März 2023 in der Stettiner Villa Lentz präsentiert wird. Diese Ausstellung ist das Ergebnis der mehrjährigen Arbeit der Künstlerinnen zur Deportation der jüdischen Bevölkerung aus Stettin im Februar 1940, aber eben auch dessen, was vor acht Jahren Andrzej Kotula initiierte.
Der Projekttitel knüpft an Hannah Arendt an, die die Deportation von 1940 als „Übung“ bzw. „Experiment“ bezeichnete, mit dem die Reaktion der Gesellschaft auf die Massenverhaftungen ausgetestet werden sollte, anders gesagt als ein Vorspiel zu dem, was die Nationalsozialisten die „Endlösung der Judenfrage“ nannten.
Die Ausstellung ist ein Bericht von der Wanderung auf den Spuren ausgewählter Menschen aus dem Deportationstransport, eine Wanderung durch die Zeit und eine Suchaktion im Raum. Sie wird begleitet von Archivmaterialien, wie Adressbüchern, Deportationslisten und Kennkarten, persönlichen Dingen der Deportierten, wie etwa die von Martin und Käthe Meyer von ihrem Verbannungsort geschriebenen Briefe an Angehörige, sowie performativen Elementen, wie Abschreiben, Vorlesen, Reisen zu den Orten der Deportation, die uns befähigen, uns zu erinnern und vor allem emphatisch zu sein.
Neben dem Emotionalen, für das der Ausgangspunkt die Situation von Mitte Februar 1940 ist, spielt die Topografie eine Schlüsselrolle im Projekt. Auf dem Stadtplan von Stettin, konkret auf dem Plan des Stadtteils Śródmieście (vormals vor dem Berliner Tor), in dem einige der Deportierten wohnten, markieren die Künstlerinnen die Orte der Abwesenheit seiner früheren Einwohnerinnen und Einwohner. Dazu gehören Else Fonfé, Frieda Hirschlaff, Wilhelm Stransky und Martin Wohlgemuth, von denen wir aus den Dokumenten wissen, dass sie in den 1930er Jahren noch in den Häusern an der repräsentativen Falkenwalder Straße wohnten (heute aleja Wojska Polskiego), und dass sie nicht unter den 19 Überlebenden waren. Ihre im Projekt auf den Stadtplan eingetragenen Namen machen sie wieder zu Einwohnerinnen und Einwohnern, zu Nachbarinnen und Nachbarn derjenigen, die 1940 durch die Gardinen beobachteten, wie sie weggeschafft wurden, aber auch zu Nachbarinnen und Nachbarn derjenigen, die jetzt dort wohnen. Die Verbindung des tragischen Schicksals der Deportierten mit dem Stadtraum und dem Raum generell ist besonders überzeugend in den Fotografien sowie Audio‑ und Videoaufnahmen, die die Künstlerinnen bei ihren Reisen in die Region Lublin gemacht haben. Die Landschaft dort ist schnee‑ und eisbedeckt, einsam und feindselig, sie gibt die Atmosphäre der Orte wieder, an denen die Deportierten vor ihrem Tod oder ihrer Umsiedlung in ein anderes Lager leben mussten, und sie symbolisiert auch die Gleichgültigkeit und Kälte der Menschen, mit denen sie aus Stettin verabschiedet wurden und die ihnen in ihren letzten Lebensjahren begegneten, ohne Hoffnung auf Hilfe.
Den Künstlerinnen gelingt in ihrem Projekt etwas Seltenes, das über die Möglichkeiten von populärwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Arbeiten hinausgeht: Über Fragmente, Bruchstücke, winzige Ausschnitte aus der Geschichte der einzelnen Opfer geben sie behutsam die Tragödie der Menschen wieder, deren einziges „Verschulden“ in einer fatalen Koinzidenz von Geburt und Herkunft bestand. Sie berichten von Individuen, deren Lebensgeschichten in der Erzählung von den sechs Millionen anonymisiert und im in Blöcke aufgeteilten Europa der Nachkriegszeit in der kollektiven Erinnerung eingefroren wurden. Natalia Szostak und Weronika Fibich brechen mit großem Feingefühl dieses Eis auf und bringen uns Menschen näher, die uns objektiv zwar unbekannt sind, aber dennoch nicht fremd bleiben.
Der Ort der Präsentation des Projekts ist nicht zufällig gewählt. Nach Vorstellungen im Stettiner Zentrum für zeitgenössische Kunst TRAFO und im Pommerschen Landesmuseum in Greifswald ist die Ausstellung nun in der Villa Lentz, einem der inspirierendsten Orte der Stettiner Kulturlandschaft, zu sehen. Das kann gelesen werden als eine nächste kluge Fußnote zu der von den Künstlerinnen erzählten Geschichte oder auch als eine Weiterentwicklung der künstlerischen Exploration des Raums. Die im ausgehenden 19. Jahrhundert errichtete Villa befindet sich an der aleja Wojska Polskiego 84, also in direkter Nachbarschaft zu den Häusern, in denen die Deportierten wohnten. Ab 1935 befand sich hier die Parteizentrale der NSDAP (später ein Kommando der Wehrmacht), die für die Umsetzung der Beschlüsse der Wannseekonferenz mitverantwortlich war. Ist es nicht etwa eine Ironie der Geschichte, dass heute, 83 Jahre nach den Ereignissen vom Februar 1940, an den Wänden dieses Hauses das Schicksal von Holocaustopfern thematisiert wird? Von Menschen, denen andere Menschen alles wegnahmen und von denen nur ein paar Worte, Orte, Zahlen und Daten geblieben sind. Mögen sie uns allezeit in Erinnerung bleiben. Möge es mehr Projekte wie „Die Übung“ geben.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann