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„Die gegenseitige Wahrnehmung sowie die gesellschaftliche Zusammenarbeit sind von der politischen Wetterlage unabhängiger geworden“

DIALOG-Gespräch mit Simona Koß, der neuen Vorsitzenden der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Bundesverband und Brandenburger Bundestagsabgeordneten

Sie wurden im Oktober 2022 zur neuen Vorsitzenden des Bundesverbandes der Deutsch-Polnischen Gesellschaften gewählt. Woher kommt Ihre Affinität für Polen und die deutsch-polnischen Beziehungen?

Meine Eltern stammen aus Schlesien und Oberschlesien, somit wurde mir von vornherein das Interesse für unser Nachbarland in die Wiege gelegt. Zum anderen rührt meine Affinität für Polen aus der Tatsache, dass ich im Märkisch-Oderland, einer Grenzregion, zu Hause bin, wo ich ab 2008 als Leiterin einer Förderschule in Seelow tätig war. Damals machte ich meine ersten Erfahrungen in der deutsch-polnischen Zusammenarbeit im Bildungsbereich. Von polnischer Seite kamen Anfragen für Kulturprojekte mit benachteiligten Schülerinnen und Schülern, die wir dann gemeinsam umsetzten. Das war eine wertvolle Erfahrung, auch für die Grenzregion, weil gerade jene Gruppen meist nicht im Fokus bilateraler Projekte stehen. Als Sonderpädagogin kann ich nicht oft genug betonen, welch integrative Funktion ein aktives Miteinander hat. Kunst, Musik und Tanz haben die Einstellung der oftmals zu Gewalt und Aggression neigenden Schülerinnen und Schüler verändert, sie weltoffener gemacht.

Darüber hinaus war ich im Vorstand des Bildungs- und Begegnungszentrums Schloss Trebnitz tätig und habe dort mit Jugendlichen zusammengearbeitet. Trebnitz ist auf die deutsch-polnische Zusammenarbeit spezialisiert. Ich konnte mehrfach beobachten, wie viele Freundschaften zwischen Jugendlichen aus Deutschland und Polen geknüpft wurden, vor allem aber, wie wichtig das Erlernen der Sprache des anderen ist. Den Bereich der Bauwirtschaft haben wir im Rahmen von Projektreihen stark gefördert, ja sogar eine deutsch-polnische Ausbildung initiiert.

All diese Erfahrungen habe ich dann in meine kommunalpolitische Arbeit mit aufgenommen und mit polnischen Partnern gemeinsame Initiativen erfolgreich durchgeführt. Wir haben beispielsweise eine baufällige Kirche in Prädikow erhalten und dort einen deutsch-polnischen Kindergarten gegründet, den nun Kinder aus beiden Ländern besuchen. Auch haben wir ein binationales Kräuterfest etablieren können, welches seit nunmehr acht Jahren kontinuierlich fortgesetzt wird. Weiteres ist in Planung!

Das Bild Polens in Deutschland hat in den vergangenen 30 Jahren mehrere Wandlungen durchlebt, genauso wie die bilateralen Beziehungen. Wie verhält es sich mit der Grenzregion? Wie bewerten Sie die deutsch-polnischen Beziehungen aus der Perspektive Ihre grenznahen Erfahrungen?

Was die große Politik betrifft, so sind die Beziehungen im Laufe der letzten 30 Jahre sicherlich viel enger geworden. Natürlich gab und gibt es Höhen und Tiefen, die sich auf die mediale und gesellschaftliche Wahrnehmung des Nachbarn auswirken. Aber ich bin der Meinung, die mediale und gesellschaftliche Dimension sind nicht mehr so eng verknüpft, wie noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Die gegenseitige Wahrnehmung sowie die gesellschaftliche Zusammenarbeit haben sich verselbständigt, sind von der politischen Wetterlage unabhängiger geworden. Dies spiegelt die Situation im Grenzland wider. Die Grenzregionen arbeiten parteiunabhängig auf zivilgesellschaftlicher Ebene gut zusammen, denn im Zentrum steht meist die Frage: Was können wir konkret für die Menschen bewegen? Was haben wir bereits auf den Weg gebracht? Was sollten wir stärker fördern?

Was die Wahrnehmung Polens betrifft, so kann ich aus meinen Beobachtungen in Märkisch-Oderland sagen, viele blicken manchmal etwas neidisch auf die polnische Grenzregion, weil die wirtschaftlichen Entwicklungen dort schneller vorangehen. So sind dort große Industriegebiete mit entsprechenden Sonderwirtschaftszonen entstanden, was viele Investoren anzieht. Auch im Bereich Freizeit, Bildung, Kultur und beim Ausbau der Radwege, man denke nur an die wunderbaren Radwege in Bogdaniec, geschieht im polnischen Grenzgebiet viel. Es dominiert auf der deutschen Seite, zumindest kann ich das in meinem Wahlkreis beobachten, große Anerkennung für die Erfolge, die Polen seit dem großen Transformationsprozess in den 1990er Jahren erzielt hat, Bewunderung für den Lebensstandard, den sich die Menschen in Polen aufgebaut haben. Viele Polen ziehen mittlerweile in unsere Region. Wir haben heute bereits viele polnische Kinder in Kitas und Schulen, die Bevölkerung im Grenzraum vermengt sich zunehmend. Auf der anderen Seite sehen wir, wie immer öfter Deutsche nach Polen ziehen, um zu arbeiten. Die Zeiten, in denen die polnische Grenzregion nur mit günstigem Benzin und Polenmärkten in Verbindung gebracht wird, sind also längst vorbei.

Die bilateralen Beziehungen stehen politisch betrachtet vor vielen Herausforderungen. Welche sind aus Ihrer Sicht in naher Zukunft von besonderer Bedeutung?

Simona Koß, MdB

Als Kulturpolitikerin ist mir natürlich sehr daran gelegen, mehr in den zivilgesellschaftlichen, den kulturellen- und Bildungsaustausch zu investieren, insbesondere mehr Begegnungen zwischen der jungen Generation zu ermöglichen. Auf politischer Ebene müssen wir viel aktiver vorgehen und Initiativen unterstützen, die die bilateralen Beziehungen von unten mit Leben füllen. Ein großes Thema, das die bilateralen Beziehungen derzeit belastet, ist die Frage nach den Reparationen. Was die Reparationen betrifft, so hat die Bundesregierung eine klare Position bezogen. Das Thema der Reparationen ist aus rechtlicher Sicht abgeschlossen. Es ist sehr schade zu sehen, wie die Vereinigte Rechte in Polen diesen Aspekt mitunter zum Wahlkampfthema macht, was natürlich dazu führt, dass Deutsche und Polen sich vielleicht wieder ein stückweit voneinander politisch entfremden. Aber, und ich erinnere mich an die Diskussionen während unserer Jahrestagung „Nachbarschaft in der Mitte Europas“ in Rzeszów, wir als Deutsche könnten und sollten viel mehr tun, um das während des Zweiten Weltkrieges Polen zugefügte Leid stärker im deutschen Bewusstsein zu verankern. Dies ist Teil unserer historischen Verantwortung.

Der Bundestag hat dieses Defizit erkannt und 2020 beschlossen, in Berlin einen „Ort des Erinnerns und der Begegnung“ zu schaffen. Wie geht es mit dem Projekt nun weiter?

Für 2023 hat der Bundestag Mittel im Haushalt zugewiesen, damit das Vorhaben in die weitere, konkrete Planungsphase übergehen kann. Solche Projekte werden nicht von einem auf den anderen Tag umgesetzt, es bedarf Zeit. Neben dem geplanten „Ort des Erinnerns“ soll außerdem ein Dokumentationszentrum zur Geschichte der deutschen Besatzung Europas 1939–1945 entstehen, welches das Deutsche Historische Museum realisieren soll. Wir haben es daher mit zwei Projekten zu tun, die beide ineinandergreifen sollen. Wir gehen an das Thema mit breiter Perspektive heran und ich begleite den Prozess im Kulturausschuss des Bundestages.

Eine vollkommene Wiedergutmachung des zugefügten Leids ist leider nicht möglich. Ein Wiederaufbau bestimmter, symbolträchtiger Bauten, die von deutscher Hand zerstört wurden, etwa das Sächsische Palais in Warschau, hingegen schon. Ich sehe hier weitere Möglichkeiten, wie wir dabei auch auf politischer Ebene stärker zusammenarbeiten.

Ein weiterer wichtiger Punkt, der jüngst breit in den Medien kommentiert wurde, ist das Thema Sprachförderung. Der Bundestag hat nun erstmalig im Bundeshaushalt Mittel zur Förderung des polnischen Sprachunterrichts beschlossen. Wie bewerten Sie das?

Das ist ein sehr wichtiger Beschluss. Er zeigt, wie die deutsche Seite in dem Bereich ebenfalls auf die polnische Seite zugeht. Die polnische Regierung behauptet, wir würden zu wenig auf die hier lebenden Polen beziehungsweise polnischstämmigen Bürgerinnen und Bürger zugehen und sie unterstützen. Natürlich gehört Bildung in Deutschland hauptsächlich zu den Kompetenzen der Länder, aber mit dem Beschluss, Bundesmittel zur Förderung der polnischen Sprache in Deutschland zur Verfügung zu stellen, setzen wir ein Zeichen, dass wir in diesem Bereich mehr tun wollen. Ich hoffe, diese Förderung kann die Länder stärker zur Eigeninitiative anregen, etwa bei der Bedarfsermittlung in Sachen Polnischunterricht an deutschen Schulen. Für die Migration aus Polen nach Deutschland ist das ein gutes Zeichen, denn die vielen Menschen, die aus Polen nach Deutschland umziehen, werden erkennen, welche Möglichkeiten wir schaffen, damit ihre Kinder ihre Herkunftssprache pflegen und ausbauen können. Das gilt genauso für die vielen deutsch-polnischen Ehepaare, deren Kinder gezielt durch solche Sprachangebote zum Erlernen des Polnischen animiert werden.

Vielleicht werden durch die Sprachförderung mehr Deutsche in Zukunft Polnisch lernen. Gerade im Grenzgebiet wäre das ein großer Vorteil.

Kulturelle Bildung ist ein Garant für den Frieden in Europa, hilft die Perspektive des anderen verstehen, schafft Empathie. Kultur und Bildung sind zwei in der internationalen Politik unterschätzte Faktoren für gute Zusammenarbeit. Wie bewerten Sie die deutsche Kultur- und Bildungspolitik vor dem Hintergrund, Europa-Kompetenzen zu schaffen?

Das können wir in erster Linie eben über die Sprache erreichen. Denn Fremdsprachenunterricht bedeutet ja mehr, als nur das Erlernen fremder Wörter. Über den Sprachunterricht wird das vermittelt, was sich hinter der Sprache verbirgt, nämlich die Kultur und Tradition der jeweiligen Nation. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie wichtig es ist, fächerübergreifend zu unterrichten, beispielsweise den Sprachunterricht mit Politik, Geschichte und Geografie zu verbinden. Gerade im deutsch-polnischen Grenzgebiet ist das besonders wichtig. Dort haben wir, wie schon erwähnt, eine Basis, um ein bilaterales Miteinander im europäischen Sinne vorzuleben. Zur Schaffung eines europäischen Wir-Gefühls reicht Bildung und Sprache jedoch nicht aus. Es bedarf zudem einer größeren Sensibilisierung für „den anderen“, für seine Erfahrungen, Sorgen und Wünsche. Das ist ein Schritt, der dem Nationalismus vorbeugt. Im deutsch-polnischen Kontext heißt dies für mich, wir sollten auf deutscher Seite mehr unternehmen, um Verständnis für Themen zu schaffen, die für Polen eine besondere Rolle spielen. So sollten vor allem auf schulischer Ebene viel stärker vermitteln, was der Zweite Weltkrieg für Polen bedeutet hat und immer noch bedeutet.

Ein weiteres Thema, das sich auf die bilateralen Beziehungen derzeit auswirkt, ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Trägt die Wahrnehmung des Krieges auf deutscher und polnischer Seite dazu bei, dass sich beide Gesellschaften weiter entzweien oder enger zusammenrücken?

Ich glaube, dieser schreckliche Krieg fordert Deutsche und Polen zur engeren Zusammenarbeit auf. Und das geschieht auch, obwohl es medial, wo meist die große Politik im Vordergrund steht, nicht oft vermittelt wird. Zugleich lohnt sich ein Blick auf die kommunale Ebene, wo ganz konkret gehandelt wird. In meinem Wahlkreis habe ich von unserem Amtsdirektor die Anfrage erhalten, wie unsere Gemeinde sich an Unter­stützungsaktionen für die Ukraine beteiligen könnte. Wir, also einige Gemeinden des Amtes Barnim-Oderbruch, waren uns alle einig, dass wir uns gemeinsam mit unseren polnischen Partnern, die sehr erfolgreiche Spendenaktionen initiiert haben, engagieren sollten. Hier wurde auf kleiner Ebene europäisch gedacht.

Die oft zu vernehmenden kritischen Stimmen aus Polen, Deutschland würde zu wenig für die Ukraine tun, gehen an der Realität vorbei. Abgesehen von den für deutsche Verhältnisse durchaus umfangreichen Waffenlieferungen an die Ukraine hat die Bundesrepublik auf humanitärer Ebene sehr viel geleistet, zum Beispiel viele Flüchtlinge aufgenommen. Und mit Blick auf die eisigen Temperaturen sowie die russischen Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur müssen wir uns darauf vorbereiten, dass weitere Menschen Richtung Westen fliehen werden. Diesen Menschen muss geholfen werden. Es ist mir auch wichtig, den Stimmen hier in Deutschland entschieden entgegenzutreten, die in der Bewertung des Krieges etwa eine Umkehr von Opfern und Tätern vornehmen oder die Flüchtlingswellen aus der Ukraine als „Sozialtourismus“ charakterisieren. Das dürfen wir nicht akzeptieren.

 

Mit Simona Koß sprachen Basil Kerski und Arkadiusz Szczepański

 

Das Gespräch erschien in der neuen Ausgabe unseres zweisprachigen Magazins DIALOG

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