Aureliusz M. Pędziwol spricht mit der Politologin Agnieszka Bryc
Die Vollversammlung der Vereinten Nationen sollte Russland als faschistischen Staat verurteilen und eine Debatte darüber beginnen, ob es als solcher noch einen Anspruch auf seinen Sitz im Sicherheitsrat hat.
Aureliusz M. Pędziwol: Haben die Entwicklungen seit Herbst vergangenen Jahres, nämlich die Gegenoffensive der Ukrainischen Streitkräfte, eine neue Qualität in den Krieg gebracht?
Ja, das hat eine neue Qualität. Und diese neue Qualität kommt von den spektakulären Erfolgen der ukrainischen Offensive, die den einfachen Russen klargemacht hat, dass Russland als Großmacht eine Luftnummer ist; nach außen hin zeigt sich ein großes Russland, vor dem alle Angst haben, aber sobald es einmal drauf ankam, stellte sich heraus, dass es innen ganz hohl ist. Seine Wirtschaft ist ineffizient, seine Armee ist nicht die zweitstärkste der Welt.
Weil sie sich in einem schlechteren Zustand als erwartet befindet?
Weil sie durch korrupte Militärs um ihre Schlagkraft gebracht wurde. Wie sich zeigt, ist sie außerstande, diesen Krieg zu gewinnen. Dabei drängt die Zeit, die Wirtschaftskrise verschärft sich und kann die Russen finanziell noch sehr schwer treffen.
So dass sie schließlich auf die Barrikaden gehen?
Nein, das werden sie wohl nicht tun. Es wird jedoch Unmutsäußerungen geben. Wir wissen nicht, ob die Wirtschaftslage ihnen derart zu schaffen machen wird, dass sie von ihrer Couch hochkommen und auf die Straße gehen. Doch wird ihnen aufgehen, dass dieser Krieg überflüssig ist und Russland zerstört. Und sie werden anfangen zu fragen, wer dafür verantwortlich ist. Schon werden solche Stimmen laut, vorerst von Seiten der sogenannten Z-Patrioten oder Ultrapatrioten, also aus radikalnationalistischen, russisch-imperialistischen Kreisen.
Von Leuten wie Kadyrow?
Wie Kadyrow, Prigoschin, Girkin. Wie sich zeigt, gibt es in Sachen Kriegspropaganda Leute, die noch extremer sind als Putin.
Und Putin selbst?
Hat ein Problem. Der Mythos des allzeit eine glückliche Hand habenden Präsidenten ist verflogen. Der Mythos des Staatslenkers, dem alles gelingt. Er konnte den Westen täuschen und auf seine Seite ziehen. Er war imstande, einige Kriege zu gewinnen, die er Spezialoperationen nannte. Bislang war ihm das immer gelungen.
Zuletzt in Syrien.
Genau. Die Russen wussten, dass sie vielleicht nicht gerade beliebt waren, man sie aber fürchten musste. Als Putin auf die Bühne trat, waren sie überzeugt, endlich ein Staatsoberhaupt zu haben, das Russlands Macht und Größe wiederherstellen würde. Und da haben wir einen Krieg mit der nach der Zahl 25. Armee der Welt, mit einem Staat, dessen Bevölkerung nichtmals eine Nation ist, schließlich sind das nur mindere Russen, Kleinrussen [dies war die im zarischen Russland übliche Bezeichnung für die Ukrainer; A.d.Ü.]. Und ausgerechnet die versenken das Flaggschiff der Schwarzmeerflotte, das Glanzstück der russischen Kriegsmarine. Und sind in der Lage, das Symbol von Putins Macht zu beschädigen, das Symbol der Annexion der Krim und ihrer Vereinigung mit Russland, nämlich die Brücke von Kertsch. Und dann sollten wir auch noch an die Rückeroberung von Cherson denken.
Und dabei hatte die russische Armee doch stets gesiegt! So hatte man es ihnen beigebracht, so steht es in den Geschichtsbüchern. Und so langsam wächst den Russen das über den Kopf.
Afghanistan hatte das nicht schon verändert?
Auch Tschetschenien nicht. Zwei Kriege, zwei Traumata. Aber der Krieg in der Ukraine hat sie sehr schnell in jeder Hinsicht übertroffen. Sowohl bei der Zahl der Opfer, dem Umfang des Militäreinsatzes als auch der russischen Bestialität. Die Russen haben daher das Gefühl, dass mit ihrem Land etwas Böses geschieht. Und sie sehen immer deutlicher, dass sie keineswegs eine Großmacht sind.
Während des Afghanistankriegs protestierten die Soldatenmütter. Und was tun die Mütter der in die Ukraine geschickten Soldaten?
Sie protestieren ebenfalls, nur nicht in dem Ausmaß, wie die Mütter der Soldaten im Afghanistankrieg, noch wie die Mütter derjenigen, die in Tschetschenien kämpften. Sie schreiben Briefe an die Gouverneure ihrer Regionen. Doch das wächst sich nicht zu einer gesamtrussischen Bewegung aus.
Wo befinden wir uns demnach zurzeit? Welche Entwicklungen sind zu erwarten?
Wir hatten schon die Rakete, die im Herbst in Ostpolen einschlug. Damit begann ein neues Kapitel dieses Krieges. Zuerst hatten wir die militärischen Operationen, die immer noch andauern, aber das ändert sich bereits. Indem es die kritische Infrastruktur der Ukraine zerstört, die wesentlichsten Bedürfnisse der Menschen angreift, wie Sicherheit, Wärme und Nahrung, ist Russland zu einem Terrorkrieg gegen die Zivilbevölkerung übergegangen, dessen einziger Zweck darin besteht, ihre Moral zu brechen. Und jetzt befinden wir uns in der nächsten Phase, in der Russland die Möglichkeit einer direkten Konfrontation mit der NATO demonstriert.
Lassen Sie uns nochmal auf den Anfang des Kriegs zurückkommen…
Also auf das Jahr 2014. Denn der Krieg begann nicht erst im Februar 2022.
Natürlich. Was war die Ursache dafür?
Zuvörderst die Ambitionen und Komplexe von Präsident Putin. Dass er sich scharf in Richtung eines politischen Revisionismus orientierte, signalisierte er mit seinem Auftritt auf der Sicherheitskonferenz in München 2007. Er lehnte damals die strategische Zusammenarbeit mit dem Westen ab und kündigte an, Russland werde sich auf die Verteidigung seiner nationalen Interessen zurückbesinnen, die seither umgesetzt werden sollen, indem Russland Probleme schafft, Verhandlungen erzwingt oder die internationale Ordnung zerstört.
Im darauffolgenden Jahr ließ er seinen Worten Taten folgen und trat den Krieg gegen Georgien los. Doch seine kriegerischen Absichten waren schon vorher abzusehen. Nach der Orangen Revolution in der Ukraine 2004 und besonders nach dem Versuch, den Präsidentschaftskandidaten Wiktor Juschtschenko zu vergiften, konnten wir bereits sehen, dass Putin Russland auf ein neoimperiales Gleis setzte und es darauf anlegen würde, eine russische Einflusszone wiederherzustellen.
Doch der Westen glaubte das nicht. Erst am 24. Februar 2022 änderte er seine Meinung.
Wir hatten dreimal die Gelegenheit zu sehen, wie Russland wirklich ist, und nicht durch die rosa Brille zu schauen und zu überlegen, ob es sich nicht vielleicht doch demokratisiere: die russischen Reaktionen auf die Orangene Revolution, Putins Rede in München und der Krieg in Georgien. Doch wenn Putin sein Land in eine russische Version von Nordkorea oder Pakistan verwandelt hätte, wären wir immer noch im Wunschdenken befangen.
Blicken wir also in die Zukunft. Wie sollten Polen, die NATO und die Europäische Union sich in dieser neuen Lage verhalten, da der Krieg bereits den Westen erreicht hat?
Erstens sollten sich Polen noch entschiedener als die Türkei verhalten, die sich am häufigsten auf Artikel 4 beruft, nämlich Konsultationen im Rahmen der NATO. Als 2012 der Bürgerkrieg in Syrien ausbrach, bat die Türkei um die Aufstellung von Luftabwehrsystemen des Typs Patriot und bekam sie auch. Zweitens sollten wir noch mehr die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine stärken. Drittens sollten wir dafür sorgen, das Russland an internationalem Status einbüßt. Wir sollten den Raschismus (oder Ruschismus) offiziell als russische Version des Faschismus einstufen und Russland als Staat, der sich auf eine verbrecherische, totalitäre Ideologie stützt. Darüber ist abzustimmen entweder in den einzelnen Ländern oder aber auf internationaler Ebene in denjenigen Organisationen, die das tun können. Und wenn wir Russland schon einen raschistischen, also faschistischen Staat nennen, werden davon früher oder später auch die Russen selbst hören. Viertens sollten wir auch bei den Vereinten Nationen einen entsprechenden Antrag stellen. Es gibt keine Chance auf einen Beschluss des Sicherheitsrats, aber vielleicht gelingt es, eine Koalition zusammenzubringen, die ein entsprechendes Verfahren in der Vollversammlung einleiten könnte. Wenn aber Russland offiziell als faschistischer Staat eingestuft wird, ist eine sehr ernste Diskussion darüber zu eröffnen, ob es noch einen Anspruch auf seinen Sitz im Sicherheitsrat hat. Die Reform des Sicherheitsrates ist schon lang im Gespräch, und dies wäre ein sehr gewichtiges Argument, diese Diskussion wiederzubeleben.
Russland ist sehr darauf bedacht, seinen Status als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats zu behalten, denn das ist ein zentrales Kennzeichen seines Großmachtstatus. Wenn es den Sitz verlöre, wäre das ein enormer Prestigeverlust.
Wann wäre eine solche Debatte einzuleiten?
So bald wie möglich. Wir sollten in dieser Sache eine umfassende diplomatische Kampagne in Bewegung setzen, denn wir müssen die Partner davon überzeugen. Es ist höchste Zeit, über das Thema zu sprechen.
Weil die Ukrainer wenig Zeit haben?
Natürlich! Umso schneller das passiert, desto besser.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann
Politologin am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen der Nikolaus-Kopernikus-Universität Thorn. Sie befasst sich mit russischer Außenpolitik, das heißt zurzeit vor allem mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine. Ein weiteres ihrer Interessengebiete ist die Sicherheitspolitik Israels unter besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zu Russland und der Ukraine. Bis 2018 war sie Mitglied im Rad des Zentrums für Oststudien in Warschau. Sie veröffentlicht auf dem Internetportal „Nowa Europa Wschodnia/ New Eastern Europe“.
Journalist, Mitarbeiter der Polnischen Redaktion der Deutschen Welle, vor Jahren auch der polnischen Sektionen von BBC und RFI und der Pariser Zeitschrift „Kultura“. Zwanzig Jahre lang Korrespondent des Wiener „WirtschaftsBlatts“.