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Der Mann, der der Ukraine Zeit geschenkt hat

Das polnische Kolegium Europy Wschodniej (Osteuropa-Kollegium) hat in diesem Jahr den Jan-Nowak-Jeziorański-Preis an den langjährigen Botschafter der Ukraine in Polen, Andrij Deschtschyzja, verliehen. Er selbst ist der Meinung, dass dies auch eine Auszeichnung für sein Heimatland und seine Landsleute sei, die gegen die russische Aggression kämpfen. Zu den bisherigen Preisträgern zählen Václav Havel, Joachim Gauck und Tadeusz Mazowiecki, Sergiej Kowalow, Erzbischof Borys Gudziak und Szewach Weiss, Zbigniew Brzeziński und George H.W. Bush sowie die Menschenrechtsorganisation Memorial und der polnische Exilverlag Instytut Literacki.

Die Ukrainistin Ola Hnatiuk, Professorin der Warschauer Universität und Kiew-Mohyla-Akademie, aber auch Botschaftsrätin an der Botschaft der Republik Polen in Kiew in den Jahren 2006-2020 meint, dass dieser Beweis für die Anerkennung von Verdiensten des „bisher bedeutendsten ukrainischen Botschafters in Polen“ außerordentlich wichtig sei, denn solche Preise würden „die Qualität der polnisch-ukrainischen Beziehungen sehr stark beeinflussen“. Im Gespräch für das Deutsch-Polnische Magazin DIALOG unterstreicht Frau Professor Hnatiuk insbesondere die Zeit, als Deschtschyzja nach der Revolution der Würde (Euromaidan) Außenminister wurde und nach der Flucht von Präsident Janukowytsch nicht nur mit der russischen Annexion der Krim und der Besetzung des Donbas, sondern auch mit der natürlichen Reaktion der Ukrainer fertigwerden musste, die ihrer Empörung darüber vor der russischen Botschaft in Kiew freien Lauf ließen. „Andrij Deschtschyzja hat damals die Menschenmenge davor zurückgehalten, die russische Botschaft mit Molotowcoctails in Brand zu setzen“, bringt Ola Hnatiuk in Erinnerung und fügt noch hinzu: „Wenn es dazu gekommen wäre, wäre das schon ein ganz offener Krieg“, worauf die Ukraine damals nicht vorbereitet gewesen sei.

Man könnte also befinden, dass die Ukraine dank der Haltung Deschtschyzjas acht Jahre gewonnen hat, um sich auf einen vollumfänglichen Krieg vorzubereiten.

 

Aureliusz M. Pędziwol: Ich beginne mit einer Erinnerung vom Dezember 2004. Damals reiste ich mit einer Gruppe polnischer Beobachter zur Stichwahl der Präsidentschaftswahlen Juschtschenko – Janukowytsch, die wiederholt werden sollten. Es stellte sich heraus, dass ich mit meinem österreichischen Pass ein Visum brauchte. „Du machst wohl Witze, das kann man nicht an einem Tag erledigen“, sagten mir alle. Ich habe es trotzdem versucht, und am nächsten Tag waren Sie es, der mir meinen Reisepass mit dem Visum zurückgab. Damals hatten wir uns kennengelernt. Aber noch verblüffter als über das Visum war ich über Ihre Herzlichkeit, die so enorm war, dass ich sogar noch lange darüber nachdachte, was dahinterstecken könnte. Zehn Jahre später, als Sie Außenminister in der Regierung von Arsenij Jazenjuk wurden, begriff ich, dass Sie sich einfach gefreut haben, weil wir aufpassen würden, dass die Wahl nicht wieder gefälscht werde.

Andrij Deschtschyzja: Genau! Sowohl 2004 als auch während der Revolution der Würde 2014 wollten wir Veränderungen herbeiführen, wir wollten freie Wahlen. Und wir wollten, dass diejenigen, die uns unterstützten, bei uns sind. Ich habe nichts Besonderes getan. Aber ich freue mich, dass ich Ihnen geholfen habe. Ich war gar nicht der einzige. 2004, aber auch 2014, zeigte sich die ukrainische Diplomatie ihren Aufgaben gewachsen, denn die Diplomaten gingen auf die Seite der Protestierenden über, auf die Seite von Freiheit und Demokratie.

Und das war ungewöhnlich. Nach 18 Jahren habe ich noch den Moment lebendig vor Augen, als Sie mir meinen Reisepass übergaben.

Das ist sehr nett, dass Sie sich daran erinnern, und ich freue mich sehr, Ihnen geholfen zu haben. Und Sie haben uns geholfen, in dem Sie zur Gruppe der Menschen gehörten, die für unsere freien Wahlen kämpften.

Als Chefdiplomat wurden Sie durch einen öffentlichen Auftritt berühmt, dessen Sprache gar nicht so diplomatisch war. Am 14. Juni 2014 kam es nach dem Abschuss eines ukrainischen Militärflugzeugs über dem Donbas zu einer Demonstration vor der russischen Botschaft in Kiew. Sie kamen dorthin und sagten irgendwann „Da, Putin chujlo!” (Ja, Putin ist ein Arschloch), wofür sie von den Protestierenden mit tosendem Applaus bedacht wurden. Angeblich hatte der Kreml nur auf einen Vorwand gewartet, um die ganze Ukraine anzugreifen, doch Sie haben es verhindert. War die Situation damals wirklich so aufgeheizt?

Ja, sehr aufgeheizt. An diesem Tag gab es zum ersten Mal so viele Opfer. In dem Flugzeug sind etwa 50 unserer Soldaten ums Leben gekommen. Die Einwohner von Kiew hatten sich sofort vor der russischen Botschaft versammelt. Der Protest dauerte den ganzen Tag, die Menschen begannen, Autos in Brand zu stecken. Es bestand die reale Gefahr, dass das Gebäude selbst in Brand gesetzt werden würde. Und im Gebäude befanden sich noch vier Personen, Diplomaten und Botschaftsmitarbeiter. Russische Staatsbürger.

Wir mussten auch berücksichtigen, dass sich vor unserer Botschaft in Moskau ebenfalls Protestierende versammelt hatten und das Gebäude zerstören wollten, falls so etwas in Kiew passierten würde.

Wir hatten Hinweise bekommen, dass es sich um eine Provokation handeln könnte, vielleicht sogar von den Russen selbst vorbereitet. Falls es zu einem Brandanschlag auf die Botschaft gekommen und dabei russische Diplomaten in Flammen ums Leben gekommen wären, hätte Russland einen Vorwand, um mit seinen Einheiten direkt in Kiew zu landen. Und die Welt hätte anerkennen können, dass Russland das Recht hatte, seine diplomatische Vertretung und seine Staatsbürger auf seinem Gebiet zu schützen. Dabei hätte die Ukraine das Image eines barbarischen Staates abbekommen. Das durften wir nicht zulassen.

Deshalb fuhr ich, nach Rücksprache mir Premierminister Arsenij Jazenjuk und dem geschäftsführenden Präsidenten Oleksandr Turtschynow, zur Botschaft, um den Versuch zu unternehmen, Provokationen zu verhindern. Die Emotionen der Protestierenden waren enorm. Ich habe lange mit ihnen gesprochen und gezeigt, dass ich auf ihrer Seite stand. Schließlich gelang es mir, die Situation auf eine so undiplomatische Weise zu beenden. Aber die Folge war sehr diplomatisch, denn Russland war es nicht gelungen, uns zu provozieren.

Ein Schauer läuft einem über den Rücken, wenn man sich diese Szene im Internet anschaut. Ich kann nur erahnen, unter welchem Druck Sie damals standen. Was wäre passiert, wenn Russland damals die ganze Ukraine angegriffen hätte, so wie das vor einem Jahr geschehen ist?

2014 befanden wir uns in einer viel schlechteren Situation. Nach ein paar Jahren Präsidentschaft von Wiktor Janukowytsch war die ukrainische Armee in einem sehr schlechten Zustand. Sie wurde nämlich von russischen Staatsbürgern kaputtgemacht, die von ihm zu Verteidigungsministern ernannt worden waren, von denen wir aus heutiger Perspektive sagen können, dass sie Agenten Russlands waren[1]. Damals wäre also die ukrainische Armee nicht imstande gewesen, Russland die Stirn zu bieten und sich so tapfer wie heute zu verteidigen. Innerhalb der vergangenen acht Jahre wurde sie verstärkt und modernisiert, und unsere Militärs haben entsprechende Erfahrungen gesammelt und mehr Waffen erhalten. Außerdem war das Volk 2022 besser darauf vorbereitet, der russischen Aggression Widerstand zu leisten.

2014 war wohl auch Russland nicht auf einen Angriff in einem so großen Umfang gegen die Ukraine vorbereitet?

Damit bin ich nicht ganz einverstanden. Russland hatte die Krim sehr schnell eingenommen, weil es dort bereits seine Einheiten hatte, einen Militärstützpunkt in Sewastopol. Danach hatte es sehr viel Militär in den Donbas verlegt, und so gelang es ihm, schnell einen Großteil davon zu besetzen. Und der Westen war damals weder so geeint noch so entschlossen, sich der russischen Aggression zu widersetzen. Er suchte eher nach einer Verständigung. Ich vermute, dass Russland – wenn es die Ukrainer nicht gegeben hätte, die Freiwilligeneinheiten bildeten und dann an die Front zogen – versucht hätte, noch weiterzugehen.

Das heißt, die Ukraine hätte es womöglich schon seit Jahren nicht mehr gegeben?

Es hätte sein können, dass es sie nicht mehr gäbe. Aber es ist gelungen, die Russen aufzuhalten.

Bereits 2014 verließen Sie ihren Posten als Chefdiplomat und gingen nach Polen zurück, diesmal als Botschafter. Es kommt wohl nicht oft vor, dass ein Außenminister Botschafter wird?

In unserer Diplomatie kam das vor, zum Beispiel im Fall von Borys Tarasjuk, dem heutigen Botschafter beim Europarat in Straßburg. Die Entsendung eines ehemaligen Außenministers als Botschafter nach Warschau war natürlich eine Geste, die die Bedeutung Polens für die Ukraine betonte. Ich hätte mir eine andere Hauptstadt aussuchen können, war aber mit Präsident Poroschenkos Vorschlag einverstanden, nach Warschau zu gehen, weil ich selbst der Meinung war, dass Polen für uns eine sehr wichtige Unterstützung sein könnte, falls es zu einer Eskalation mit Russland käme.

Aber Polen war für Sie wohl schon viel früher wichtig gewesen? Sie sind in Spassiw im Westen der Ukraine geboren. Es sind nicht einmal 30 km Luftlinie bis zur polnischen Grenze. Haben Sie auch familiäre Verbindungen zu Polen? Vielleicht polnische Vorfahren?

Nein, habe ich nicht, aber mein Großvater mütterlicherseits, der in Solotschiw, zwischen Lwiw und Ternopil gewohnt hatte, war Staatsbürger der Zweiten Polnischen Republik und kämpfte gegen die Deutschen. Letztens wurde er vom Präsidenten Duda posthum mit einem Verdienstkreuz für seine Teilnahme im Verteidigungskrieg 1939 ausgezeichnet, genauso wie Zehntausende anderer Ukrainer, die in der Polnischen Armee gegen Nazideutschland gekämpft hatten.

Diese Grenznähe war tatsächlich die Ursache meiner Faszination für Polen und für die Veränderungen, zu denen es dort kam. Ich habe Polnisch gelernt, indem ich Polnisches Fernsehen schaute und polnischen Rundfunk hörte, insbesondere die Sendung „Sommer mit dem Radio“. Die Nachrichten des polnischen Fernsehens waren für uns in der Sowjetunion wie Nachrichten des Senders Freies Europa. Und da ich so nahe an der Grenze lebte, brauchte ich keine besonderen Empfänger oder Antennen.

Ich war zutiefst beeindruckt von den Veränderungen, die der polnische Kampf um Freiheit und Demokratie brachte, von der Entstehung des KOR (Komitee zur Verteidigung der Arbeiterrechte), der Solidarność, und später von den freien Wahlen am 4. Juni 1989. Ich war der Meinung, dass wir dem von Polen eingeschlagenen Weg folgen und ein starkes ukrainisch-polnisches Bündnis schaffen müssen. Denn da wusste ich bereits, ohne eine freie Ukraine würde es kein freies Polen und ohne ein freies Polen keine freie Ukraine geben.

Ihre Masterarbeit über die Solidarność haben Sie an der University of Alberta in Kanada geschrieben. Ich verstehe, warum Sie sich für die Solidarność entschieden haben, doch wie kam es, dass es so weit weg war?

Ich habe einfach ein Stipendium des Canadian Institut of Ukrainian Studies, CIUS erhalten, das dort seinen Sitz hat. Aber ich kam auch deshalb dorthin, weil ich einige Professoren von dieser Hochschule kennengelernt hatte, die sich mit Zeitgeschichte beschäftigten und die Ukraine schon während der Perestroika besuchten, um über die Veränderungen, die bei uns stattfanden, zu schreiben. Es waren vor allem John-Paul Himka und Serge Cipko. Und sie hatten mir nahegelegt, dass es sich im Westen lohnen würde, über den Wandel in Osteuropa aus der Perspektive der Ukraine zu schreiben. Zwar gab es ziemlich viele Institutionen, die sich mit uns beschäftigten, doch sie befanden sich unter dem Einfluss Moskaus und waren eher auf Russland fixiert als darauf, die entscheidenden geopolitischen Veränderungen in unserer Region aufzuzeigen.

Haben Sie in Ihrer Arbeit irgendwelche Schlussfolgerungen für die Ukraine gezogen?

Ja, unbedingt. Ich habe mich in meiner Forschung mit der Übertragung der Solidarność-Erfahrung auf ukrainischen Boden beschäftigt. Wir hatten sie in der Ukraine im kleineren Maßstab Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre wiederholt. Es entstanden Organisationen, die die Solidarność als Vorbild hatten, wie zum Beispiel die Volksbewegung der Ukraine, deren Anführer Wjatscheslaw Tschornowil und Bogdan Horyn sehr gute Beziehungen zu der polnischen Gewerkschaft hatten. Schließlich führte das zum Zerfall der Sowjetunion und zur Entstehung einer unabhängigen Ukraine.

1996 kamen Sie nach Polen, als Presseattaché der ukrainischen Botschaft in Warschau. Welches Polen sahen Sie damals? Welche Polen lernten Sie kennen?

Es waren meine ersten Schritte in der Diplomatie, die erste Auslandsvertretung, die erste diplomatische Erfahrung – also auch eine große Herausforderung. Ich wollte unbedingt Diplomat werden, hatte noch beim Studium davon geträumt, obwohl das in der Sowjetunion unrealistisch gewesen war, dass jemand aus der Westukraine in den diplomatischen Dienst aufgenommen werden könnte.

Und ich sah ein Polen, das Veränderungen wollte, Reformen machte, danach strebte, der NATO und der EU beizutreten. Ich sah ein Land, das eine führende Rolle in der Region übernehmen und ein Vorbild für die Ukraine sein konnte.

War Polen der Ukraine damals freundlich gesinnt?

Ja. Ich erinnere mich an die sich sehr intensiv entwickelnden Kontakte zwischen Präsident Kwaśniewski und Präsident Kutschma. Es gab häufige Treffen, es wurden Versuche unternommen, die historischen Streitigkeiten beizulegen. Das war schwierig, doch manchmal gelang es, Lösungen zu finden. Neue Grenzübergänge wurden geöffnet, es gab Versuche, die Ukraine gegenüber Polen, gegenüber Europa zu öffnen. Aber das Tempo war natürlich viel langsamer im Vergleich zu heute.

Und die gewöhnlichen Menschen?

Sie waren der Ukraine und den Ukrainern gegenüber positiv eingestellt, obwohl es damals noch nicht so viele Kontakte zwischen uns gab.

Danach waren Sie in Finnland. 2004 kehrten Sie nach Polen zurück, und dann nach einer weiteren, längeren Pause 2014. Was sahen Sie jeweils nach Ihrer Rückkehr?

Als ich 2014 bereits als Botschafter zurückgekehrt war, sah ich, wie sehr sich Polen seit 2004, seit seinem Beitritt zur Europäischen Union, verändert hatte. Es war stärker geworden, entwickelte sich dynamisch. Das war überall zu sehen – sowohl in Warschau, als auch in den Regionen, die ich besuchte. Ich möchte den Polen zu diesem Erfolg gratulieren.

Die Stimmung gegenüber der Ukraine war immer noch positiv. Die Polen waren beeindruckt von den Veränderungen, die die beiden Revolutionen brachten: die Orange Revolution und die Revolution der Würde. Sie haben uns sowohl bei der ersten als auch bei der zweiten sehr geholfen. 2013 und 2014 gab es auf dem Euromaidan viele polnische Fahnen und polnische Politiker, die die Ukraine unterstützten. Und in Polen gab es zugleich immer mehr Ukrainer, die eine Atmosphäre schufen, in der man sich besser kennenlernen konnte.

Ich wusste, dass Polen der Ukraine helfen würde. Aber eine solche gesellschaftliche Regung wie 2022 für die vor dem Krieg flüchtenden Ukrainer hätte ich nicht erwartet. Das ist etwas ganz Außergewöhnliches, was sicherlich im Gedächtnis der Ukrainer bleiben wird, die Polen für die Aufnahme in einem schwierigen Moment sehr dankbar sind. Und es wird ein Vorbild für den Rest der Welt sein, wie man sich in Zeiten der Not verhalten sollte.

Das sind schöne Worte, danke. Und erinnern Sie sich auch an schwierige Momente? Vielleicht war es die Einführung des nationalen Gedenktags für die Opfer des von ukrainischen Nationalisten begangenen Völkermords an den Bürgern der Zweiten Polnischen Republik durch den polnischen Sejm? Oder der Film „Wolhynien“ von Wojtek Smarzowski. Oder vielleicht immer weitere Gedenkformen für Stepan Bandera und Roman Schuchewytsch in der Ukraine: Plätze, Straßen, Denkmäler, Museen, Ehrenbürgerschaften von Städten?

Ja, das war schwierig, weil darüber früher nicht gesprochen wurde. Man braucht Zeit und viele Diskussionen, um sich gegenseitig zu verstehen. Aber dazu ist doch die Diplomatie da. Solche schwierigen Fragen lassen sich in der diplomatischen Arbeit nicht vermeiden. Ich verstehe Entscheidungen, die mit der Geschichtspolitik im Zusammenhang stehen und vom Sejm oder anderen Institutionen in Polen beschlossen werden. In der Ukraine gab es auch Entscheidungen, die eine Folge der Veränderung der Geschichtsauffassung waren. Man darf jedoch nicht vergessen, dass jedes Volk ein Recht auf seine Geschichte und seine Helden hat. Und das muss man verstehen.

Andere, für mich schwierige Momente gab es, als man auf Moskaus Provokationen reagieren musste. Ich meine hier die Zerstörung ukrainischer Gedenkorte in Polen und polnischer in der Ukraine. Nach 2015 hatten wir mehr als ein Dutzend solcher Provokationen.

Das waren die Probleme, denen man sich entgegenstellen musste. Ich glaube, es ist uns gelungen, das gemeinsam zu meistern. Das Jahr 2022 hat gezeigt, dass die Einigkeit zwischen Ukrainern und Polen so stark ist, dass Moskau sie nicht erschüttern kann.

Aber man muss auch an den Prozess der deutsch-polnischen Versöhnung denken, der viel früher begonnen hatte und an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert schon so gut aussah. Und dann kam es zu einem deutlichen Rückschritt. Ich befürchte, dass auch zwischen Polen und der Ukraine noch nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte von Diskussionen nötig sein werden. Hoffen wir, dass sie in der richtigen Atmosphäre verlaufen werden, und dass Provokationen misslingen werden.

Da bin ich Ihrer Meinung.

Wie beurteilen Sie also die Bedeutung Polens für Ihr Land?

Ich bewerte das Handeln Polens und des polnischen Volkes sowohl in der Zeit, als die Ukraine entstand und man ihre Unabhängigkeit anerkennen musste als auch bei den nachfolgenden schwierigen Phasen der Zeitgeschichte sehr hoch und mit großer Dankbarkeit. Aber meine Beurteilung mag nicht objektiv sein, da ich viel Zeit in Polen verbracht habe. Ich möchte daran erinnern, dass bei einer Meinungsumfrage vom vergangenen Jahr über 80 Prozent der Ukrainer eine gute Meinung über die Polen hatten[2].

Wurde der 24. Februar 2022 auch zu einer neuen Zäsur, einem Umbruch in den polnisch-ukrainischen Beziehungen?

Ja, zu einem großen Umbruch. Polen hat gezeigt, dass es bereit ist, den Ukrainern zu helfen, und die Ukrainer befanden, dass wenn sie schon irgendwo Schutz suchen sollten, dann am besten in Polen. Ich hoffe, dass wir auf dieser Grundlage unsere künftigen Beziehungen aufbauen werden – die Beziehungen zwischen zwei sich sehr nahestehenden Völkern.

Vielen Dank für dieses Gespräch, Herr Botschafter. Слава Україні!

Героям слава! Vielen Dank.

[1] Dmytro Salamatin, der das Ministerium fast das ganze Jahr 2012 leitete, war bis 2005 russischer Staatsbürger. Sein Nachfolger Pawlo Lebedjew hatte zwar keine russische Staatsbürgerschaft, war aber Russe. Nach der Flucht von Janukowytsch am 21. Februar 2014 fuhr er noch am selben Tag nach Sewastopol, wo er bis zur Besetzung der Krim durch Russland blieb. Danach nahm er am Feiern der Annexion im Kreml teil – Anm. A.M.P.

[2] Es handelt sich um den Bericht des Juliusz-Mieroszewski-Dialogzentrums, im Rahmen dessen in der Zeit vom 11.-15. August 2022 mit Einwohnern der Ukraine, die außerhalb der besetzten Gebiete leben, 1036 Telefoninterviews durchgeführt worden sind. Auf die Frage „Wie ist Ihre Meinung über die Polen heute?” wählten 48 Prozent der Teilnehmenden die Antwort „sehr gut”, weitere 37 Prozent „gut”. Die Meinung „schlecht” oder „sehr schlecht” wählten null Prozent der Befragten. Laut dieser Umfrage haben 73 Prozent der Ukrainer ihre Meinung über Polen verbessert – Anm. A.M.P.


Der Politikwissenschaftler Andrij Deschtschyzja (Jahrgang 1965) war in den Jahren 2014-22 Botschafter der Ukraine in Polen, wo er 1996 er seine diplomatische Kariere begann. Nach Warschau kehrte er wieder zurück, nachdem er mehrere Monate lang geschäftsführender Außenminister (vom 27. Februar bis zum 19. Juni 2014) in einer sehr schwierigen Zeit war, als Russland zuerst die Annexion der Krim vollzog, dann in die ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Lugansk einmarschierte und mit der Besatzung eines Teils dieser Gebiete begann. Zuvor war Deschtschyzja Botschafter der Ukraine in Finnland und Island (2007-12) sowie Pressesprecher des ukrainischen Außenministeriums (2006-07).

Aureliusz M. Pędziwol Autor bei DIALOG FORUMAureliusz M. Pędziwol, Journalist, Mitarbeiter der Polnischen Redaktion der Deutschen Welle, vor Jahren auch der polnischen Sektionen von BBC und RFI und der Pariser Zeitschrift „Kultura“. Zwanzig Jahre lang Korrespondent des Wiener „WirtschaftsBlatts“.

 

 

 

 

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