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Ungewissheiten der Zwischenzeit

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine bedeutet eine einschneidende Zäsur. Es handelt sich nicht nur um einen blutigen und zerstörerischen kinetischen Krieg zwischen Russen und Ukrainern, sondern ganz besonders auch um einen Zusammenprall Russlands mit dem Westen im weiten Sinne unter Führung der USA. Darüber hinaus sind andere wichtige Länder in Aktion getreten, darunter China, Indien, Japan, Iran und die Türkei. Damit haben wir es also mit einer neuen Spielart der Auseinandersetzung zwischen den Großmächten zu tun, mit einer Politik der Stärke, nicht der Werte, wie sie über die letzten Jahrzehnte betrieben wurde.

Wir wissen nicht, wann und wie dieser schreckliche Krieg letztlich zu Ende gehen wird, denn beide Seiten wollen kämpfen und sind nicht verhandlungsbereit. Wir können aber mit Sicherheit jetzt schon zweierlei feststellen, egal wie der Krieg ausgehen wird: Es gibt keine Rückkehr zum Status quo ante, die Welt wird nach dem Krieg eine andere sein als vorher, die Großmächte stellen sich neu auf, und Russland wird sich in einer schwächeren Position wiederfinden, was unlängst beim Besuch des chinesischen Staatschefs Xi Jinping im Kreml nicht hätte deutlicher werden können.

Zwei Szenarien

Es ist klar zu erkennen, dass die alte Kräftekonstellation bereits zusammengebrochen ist, während sich eine neue noch nicht deutlich abzeichnet, weil sich die Mächte erst neu zu positionieren und in die neuen Ordnungsverhältnisse einzupassen suchen. Der klassische Fall einer Zwischenzeit, in der das Alte nicht mehr funktioniert, während sich das Neue erst am Horizont abzeichnet. Aber was lässt sich schon jetzt klar erkennen?

Zuallererst die beiden wahrscheinlichsten Szenarien, wie sich die Dinge weiter entwickeln werden. Eines davon entspricht exakt dem, was Wladimir Putin und Xi Jinping in ihrem berüchtigten Kommuniqué vom 4. Februar 2022 verlautbarten, demzufolge sich zwei globale Staatenblöcke herausbilden. Einer davon ein demokratischer, westlicher, um die USA geschart, der andere autokratisch, östlich, diesmal stärker dem Willen von Zhongnanhai unterworfen, dem Sitz der chinesischen Partei‑ und Regierungszentrale, weniger dem durch Krieg und Sanktionen immer mehr geschwächten Kreml. Dies ist also ein Szenarium eines „neuen Kalten Krieges“ oder eines „Kalten Kriegs 2.0“; es fußt auf der Dichotomie zwischen Demokratie und Autokratie und ihrer Konfrontation, doch erweitert es sich um völlig neue Streitfelder wie Cyberspace, Weltall, seltene Erden oder alternative Energiequellen.

Peking weist ein solches Szenario entschieden zurück, weil ihm nicht an einer direkten Konfrontation mit dem bisherigen Hegemon, den USA gelegen ist. Daher spricht es sich, wie einstmals Moskau und in letzter Zeit auch Neu-Delhi, für eine Multilateralität der Welt mit zahlreichen Entscheidungszentren aus. Allein, wer, abgesehen von Washington und Peking, sollte zu diesen Entscheidungszentren dazugehören? Neu-Delhi? Tokio? Ankara? Berlin? London? Die Karten werden neu gemischt und der Streit ist entbrannt, doch die Hauptfront, abgesehen von der im heißen Krieg im Donbas und der Ostukraine, verläuft rings um Taiwan zum einen und um die Auseinandersetzungen um Einfluss im globalen Süden zum andern. Denn letzterer sieht den russisch-ukrainischen Krieg mehr als Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen (und der NATO). Die afrikanischen und lateinamerikanischen Länder werden sich jedenfalls den Siegern dieses Kriegs anschließen, soviel steht fest.

Russland im Niedergang, China im Aufstieg

Doch ein Ende des Krieges ist noch nicht zu erkennen. Stattdessen wachsen Ungewissheit, Turbulenzen, Chaos; jeder sucht nach seinem Platz in der Hackordnung. Aber die neue Weltordnung entfaltet sich immer klarer und mit ganz bestimmten Eigenschaften vor unseren Augen. Erstens werden die USA nicht mehr die einzige Supermacht sein, obwohl Putins Entscheidungen nach hinten losgegangen sind und die Vereinigten Staaten nicht geschwächt, sondern gestärkt haben. Der Augenblick des unilateralen Machtzentrums ist bereits Geschichte. Stattdessen haben wir es jetzt, zweitens, mit einem neuen Konzert der Mächte zu tun, und die Suche nach einem neuen Mächtegleichgewicht gleicht vorläufig eher einer choreographischen Kakophonie von Kaskadeurssprüngen denn einer neuen Weltordnung.

Drittens ist in dieser neuen Weltordnung den Vereinigten Staaten von Amerika ein potentieller Rivale erwachsen, die Volksrepublik China, deren Regierung mit immer größerem Selbstbewusstsein auftritt. Das geht soweit, dass das Pekinger Außenministerium im Februar diesen Jahres ein besonderes „Weißbuch“ veröffentlicht hat, welches die Lehren aus der US-amerikanischen Hegemonie zieht, und zwar in den Bereichen Politik, Militär, Wirtschaft und gar Kultur. Anschließend veröffentlichte es dann noch einen Bericht über… den Bruch von Menschenrechten in den USA, mit besonderem Augenmerk auf die dort häufigen Amokläufe mit Schusswaffen, die Einkommensungleichheit, den Rassismus, die durchgehende Polarisierung der Gesellschaft, die Beherrschung der Politik durch finanzielle Interessen usw. So wie Russland vor unseren Augen schwächer und zum Juniorpartner, vielleicht gar zum Vasallen Chinas degradiert wird, so tritt China auf der Weltbühne mit immer größerer Selbstsicherheit als wichtiger Akteur auf, wie es nicht nur bei dem erwähnten Besuch Xi Jinpings in Moskau deutlich wurde, sondern mehr noch bei den Ausgleichsverhandlungen zwischen Sunniten und Schiiten, als Saudi-Arabien und der Iran unter chinesischer Anleitung diplomatische Beziehungen aufnahmen. Ein unbezweifelbarer Erfolg der chinesischen Diplomatie, während wir noch auf eine chinesische Vermittlungs‑ und Versöhnungsmission in der Ukraine warten.

Unterschiedliche Antworten auf die chinesische Herausforderung

Der rasche Aufstieg Chinas beunruhigt nicht allein die USA und generell den Westen, was von Meinungsumfragen klar bestätigt wird, sondern auch viele andere Hauptstädte, angefangen mit Neu-Delhi und Tokio. Die Inder haben noch manche offene Rechnung mit China, die Niederlage im Krieg von 1962 ist unvergessen, die Streitigkeiten um Tibet und den Dalai Lama, aber besonders wichtig ist – die gemeinsame Grenze ist bis heute nicht ordnungsgemäß delimitiert, während China viel schneller als Indien wächst, was Neu-Delhi durchaus irritiert und beunruhigt. Noch vor dreißig Jahren waren beide Nationalökonomien ungefähr auf gleichem Niveau, während das Pro-Kopf-Einkommen in Indien höher lag. Heute liegt die chinesische Wirtschaft beim Fünf‑ bis Sechsfachen der indischen, was den indischen Premier Narendra Modi veranlasst, ein Bündnis mit den USA, Japan und Australien im sogenannten Quadrilateral Security Dialogue (QUAD) zu suchen; zugleich achtet Modi darauf, sein Land als Drehstelle in enger Zusammenarbeit mit Japan und dem Westen zu erhalten, während es andererseits trotz des russischen Angriffskriegs weiter Geschäfte mit Russland betreibt – die beiderseitigen Handelsumsätze erreichten 2022 eine Rekordhöhe von dreißig Milliarden Dollar, hauptsächlich aufgrund gesteigerter indischer Importe von russischen Energierohstoffen, wobei allein der Rohölimport um 400 Prozent stieg. Denn aus Sicht von Neu-Delhi ist Russland nicht nur ein günstiger Rohstoff‑ und Ausrüstungslieferant, wozu auch Rüstungsgüter gehören, sondern traditionell auch ein geostrategisches Gegengewicht gegen den Einfluss des erstarkenden China.

Pekings Ambitionen, vor allem das nunmehr offen bekundete Verlangen der nicht unbedingt mit friedlichen Mitteln zu vollziehenden Annexion Taiwans, was als „innere Angelegenheit“ behandelt wird, löst auch in Tokio erhebliche Beunruhigung aus. Einst war die Insel über einen Zeitraum von fünfzig Jahren (1895–1945) eine japanische Kolonie, doch immerhin modernisierten die Japaner sie, und sie sind, abgesehen von den Taiwanesen selbst natürlich, die wohl einzigen weltweit, die sich völlig im Klaren darüber sind, was eine friedliche Vereinigung Kontinentalchinas mit Taiwan bedeuten würde. China würde damit praktisch automatisch die Nummer Eins auf der Welt, und zwar in Sachen Technologie ebenso wie in Wirtschaft und Handel, denn Taiwan ist, wie allgemein bekannt, in Sachen Halbleitertechnik eine echte Supermacht.

Mit diesen Motiven und Kalkulationen im Hintergrund, setzt Tokio auf die Stärkung seiner militärischen Kapazitäten, schließt Bündnisse wie den erwähnten QUAD, vor allem aber nähert es sich weiter den USA an, wobei es im Gefolge der russischen Aggression gegen die Ukraine für Washington ein ebenso zuverlässiger Partner war wie Warschau. Der kürzlich erfolgte Besuch von Premierminister Fumio Kushida in Kiew, der erstmalige Besuch eines japanischen Regierungschefs auf dem Gebiet eines von Krieg betroffenen Staats seit dem Zweiten Weltkrieg, sollte daher weiter nicht überraschen. In Anbetracht der chinesischen Herausforderung wird Japan zu einem starken Glied des westlichen Bündnisses.

Soft Power in einer Welt der Hard Power

Wie stellen sich dazu die übrigen Bündnispartner der USA, allen voran die Europäer? Erstens machen sie sich langsam, allzu langsam klar, dass sich das wahre Machtzentrum merklich vom Atlantik zum Pazifik verschiebt. Bezeichnenderweise ist in der neuen Weltordnung, gegebenenfalls dem neuen Konzert der Mächte mehr von Peking, Tokio, Neu-Delhi und selbst Teheran die Rede, weniger von Berlin, London, Paris oder Brüssel. Selbst wenn der Ukrainekrieg auch, vielleicht sogar vor allem ein Kampf um Europas Zukunft ist, wächst doch schmerzlich das Bewusstsein dafür, dass wir Abschied vom Eurozentrismus nehmen müssen.

So sind die Konzeptionen einer „Zeitenwende“, um mit Bundeskanzler Olaf Scholz zu reden, oder der „strategischen Autonomie“ à la Emmanuel Macron naheliegend. Wir wissen doch hier in Europa ganz genau, dass viele bisher unumstößliche Wahrheiten ganz schnell neu formuliert werden müssen. In besonders heikler Lage fand sich die Europäische Union wieder, die sich schließlich selbst über die Soft Power oder auch ihre normative Kraft definiert, während sich seit der Amtszeit von Donald J. Trump und erst recht nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wieder die klassischen Attribute von Macht in den Vordergrund geschoben haben, die Hard Power. Wieder verhält es sich so, wie vor zwanzig Jahren Robert Kagan schrieb – die Amerikaner seien vom Mars, weil sei auf Stärke setzen, die Europäer von der Venus, weil sie verhandeln, nachdenken, neue Normen und Prinzipien setzen wollen. Unterdessen dröhnen an unseren Ostgrenzen die Geschütze und fliegen die Raketen. Dies ist keine Zeit des leeren Geredes, dies ist eine Zeit des Handelns.

Security, stupid!

Die jetzige Zwischenzeit bringt nicht allein eine völlige Neuaufstellung der geostrategischen Ordnung und die Möglichkeit einer kompletten Neuordnung der Kräfte. Sie konfrontiert uns mit einer ganzen Reihe von neuen, teils völlig unerhörten Herausforderungen. Es liegt auf der Hand, das aufsteigende Märkte die globale Szene betreten, die wir noch unlängst undifferenziert als „Dritte Welt“ bezeichneten. Vielleicht noch wichtiger, alte Zivilisationen erfinden sich als Nationalstaaten neu, China und Indien. Diese haben selbstverständlich ihre eigenen Interessen und Wertesysteme, die nicht unbedingt mit unseren deckungsgleich sind. Sie haben selbstverständlich auch ihre eigenen Ambitionen. Diese sorgen dafür, dass ökologische, klimatische und energiepolitische Probleme auf die Tagesordnung gelangen, denn der Rohstoffhunger dieser Länder ist schier unersättlich.

Zudem haben die Covid-Pandemie und der Ukrainekrieg dafür gesorgt, die Block‑ oder Kalte-Kriegs-Mentalität wiederzubeleben, die uns nach Gegnern und Rivalen und nicht nach Partnern und Kooperatoren suchen lässt. Die gegen Russland verhängten Sanktionen und ein China, das, wenn auch zögerlich, Wladimir Putin unterstützt, beschleunigten einen bereits zuvor erkennbaren Vorgang: Die Unterbrechung von Lieferketten und damit der Globalisierung, was gar zur Entkoppelung führen kann, also zur Unterbrechung aller Verbindungen zwischen den größten Wirtschafts‑ und Handelseinheiten der Welt, den USA und China. Das konfrontiert die starken europäischen, bisher so fest mit China liierten Akteure mit einer ganzen Reihe neuer Herausforderungen. Werden unter diesen Voraussetzungen die transatlantischen Beziehungen, die zuvor durch den russischen Angriff auf die Ukraine noch gestärkt worden waren, Risse zeigen? Wir wissen es nicht. Dagegen ist sicher, dass an die Stelle des drei Jahrzehnte lang gültigen Motto „The economy, stupid!“, das Gewinn, Dividende, Konkurrenz, Markt und dergleichen ganz oben auf die Tagesordnung setzte, nunmehr eine ganz neue Zwischenzeit getreten ist, eine Zeit der Unsicherheit, der vielen Unbekannten und Fragezeichen, und auf der Tagesordnung steht jetzt die Parole: „Security, stupid!“, weil wir uns Sorgen machen über Energie, Klima, Ökologie, Geopolitik, Rohstoff‑ und Halbleiterlieferungen, und weitere Gefahren lauern in Gestalt von Migration und im Cyberspace.

Die neuen Zeiten und Herausforderungen sind schon da. Willkommen im schwankenden Boot inmitten des aufgewühlten Meeres!

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Bogdan Góralczyk

Bogdan Góralczyk

Professor Bogdan Góralczyk ist Politologe, Sinologe, ehemaliger polnischer Botschafter und ehemaliger Direktor des Europäischen Zentrums an der Universität Warschau.

Ein Gedanke zu „Ungewissheiten der Zwischenzeit“

  1. Es ist aus meiner Sicht ein ganz besonderer Beitrag: ausgereift, realistisch, zukunftsträchtig und last but not least verständlich und nachvollziehbar, wenn man sich denn mit den Fragen der Zeit etwas näher befasst als nur oberflächlich oder einer bestimmten einseitigen Sichtweise unterliegt.
    Ja, die Welt verändert sich rapide, nicht nur durch den Krieg in der Ukraine.
    Man kann froh sein, dass es so helle Geister wie diesen polnischen Autoren gibt, der die Dinge so komplex aufzeigen, wie sie nun mal sind!

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