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Brief an einen ukrainischen Freund, ein Jahr danach

Mein Lieber!

Sie haben uns die Sprache gestohlen. Unsere Gespräche und unseren Briefwechsel führten wir in der Sprache der großen russischen Literatur. Jetzt ist das Russische für die ganze Welt die Sprache derer, die ukrainische Städte bombardieren und Kinder töten, die Sprache von Kriegsverbrechern, die Sprache von Mördern. Man wird sie für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilen. Ich will fest daran glauben, dass alle auf der Anklagebank sitzen werden, die diesen Krieg vorbereitet und daran teilgenommen oder auf irgendeine Weise unterstützt haben. Aber wie ist ein Verbrechen gegen die Sprache zu verurteilen?

Als mein Vater siebzehn Jahre alt war, ging er an die Front, um seinen von den Deutschen getöteten Bruder zu rächen. Nach dem Kriege hasste er sein ganzes Leben lang die Deutschen und alles Deutsche. Ich versuchte, ihn zu bereden: „Papa, aber es gibt doch die große deutsche Literatur! Deutsch ist eine wunderbare Sprache!“ Doch das zeigte bei ihm keine Wirkung. Was werden wir nach dem Krieg den Ukrainern sagen können, denen die Russen die Häuser zerbombt und ausgeplündert und die Familien erschlagen haben? Dass die große russische Literatur doch so wunderbar sei? Und die russische Sprache so einzigartig?

Bringen Diktatoren und Diktaturen eine Bevölkerung von Sklaven hervor, oder bringt eine Bevölkerung von Sklaven Diktatoren hervor? Die Ukraine hat es geschafft, aus diesem Teufelskreis herauszukommen, sich von unserer gemeinsamen, scheußlichen, blutigen Vergangenheit zu befreien. Dafür wird sie von dem russischen Usurpator gehasst. Schließlich kann eine freie, demokratische Ukraine der erschöpften russischen Bevölkerung als Beispiel dienen, deshalb liegt ihm so viel daran, Euch zu vernichten.

Bei uns in Russland gab es weder eine Entstalinisierung noch Nürnberger Prozesse gegen die KPdSU. Das Ergebnis steht uns vor Augen: Eine neue Diktatur. Ihrer Natur nach kann eine Diktatur nicht ohne Feinde bestehen, also nicht ohne Krieg.

Gemäß Plan des russischen Generalstabs hätte sich die NATO weigern sollen, Euch mit ihren Streitkräften zu verteidigen, und in den ersten Kriegstagen schien es, als ginge dieser Plan vollständig auf. Doch Ihr Ukrainer habt Euch Putins Plänen entgegengestellt. Ihr habt Euch nicht ergeben, Ihr seid seinen Panzern nicht mit Blumen entgegengezogen. Ihr verteidigt nicht nur Eure Freiheit und Menschenwürde, Ihr verteidigt nun die Freiheit und Menschenwürde der ganzen Menschheit. Ihr seid nicht zu besiegen, weil der Krieg nicht durch die Zahl der Panzer und Raketen entschieden wird, sondern durch die Stärke der Freiheitsliebe. Ihr seid freie Menschen, und diejenigen, die die verbrecherischen Befehle der russischen Generäle ausführen, sind Sklaven.

Vor einem Jahr, als die russischen Panzer bereits auf Kiew zurollten, wunderte sich die ganze Welt, wieso es in Russland keine Massenproteste gegen den Krieg gab, wieso nur einzelne Personen auf die Straße gingen. Ich erklärte das mit Angst. Schweigen ist die russische Überlebensstrategie. Wer damals protestierte, sitzt heute im Gefängnis. Auf diese Weise – mit Schweigen – überlebten die Russen generationenlang. Puschkin formulierte diese russische Verhaltensweise im letzten Vers seines Historiendramas „Boris Godunow“: „Das Volk schweigt.“ Und mit Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine „schwieg“ das Volk. Aber dann begann im Herbst die Massenmobilisierung, und es lässt sich nicht mehr mit Angst erklären, dass hunderttausende Russen sich gehorsam losschicken ließen, um Ukrainer zu töten und getötet zu werden. Das ist etwas anderes, es sitzt tiefer, es ist schrecklicher.

Ich sehe nur eine Erklärung dafür: Mein Land ist aus der Zeit gefallen. Im 21. Jahrhundert trägt der Mensch selbst die Verantwortung für die Entscheidung, was gut und was böse ist. Und wenn er sieht, dass sein Land einen niederträchtigen, schändlichen Krieg führt, wird er sich gegen sein Land und gegen seine Nation stellen. Aber die meisten Russen leben im Geiste noch in der Vergangenheit, als sich die Menschen mit ihrem Stamm gemein machten. Unser Stamm hat immer Recht, und die übrigen Stämme sind unsere Feinde und wollen uns von der Erde tilgen. Wir tragen keinerlei Verantwortung, wir fällen keine Entscheidungen, für uns werden alle Entscheidungen vom Führer oder Chan oder Zaren getroffen. Wenn die Feinde, die Faschisten aus der Ukraine und die NATO, unser Mutterland angreifen, dann schreiten wir zu seiner Verteidigung, wie es unsere Großväter gegen die deutschen Faschisten verteidigten. Vaterlandsliebe und das hohe patriotische Gefühl wurden immer schon von Diktatoren für ihre Zwecke eingesetzt. Mein Vater dachte, er verteidige sein Heimatland gegen das Hitlerregime, dabei verteidigte er ein ebenso faschistisches Stalinregime. Die Russen ziehen jetzt in den Krieg, wie ihnen die Putin-Propaganda erklärt hat, um ihr Heimatland gegen den „europäischen und amerikanischen Nazismus“ zu verteidigen, und sie begreifen nicht, dass sie die Macht einer kriminellen Bande im Kreml verteidigen, die ihr Land in Geiselhaft genommen hat.

Es gibt nur einen Ausweg – dem Putinregime muss eine Niederlage beigebracht werden. Deshalb müssen die demokratischen Länder den Ukrainern mit allem helfen, was nur möglich ist, vor allem mit Waffen. Nach dem Krieg wird die ganze Welt Euch zur Hilfe kommen, um das Zerstörte wiederaufzubauen, und das Land kann wiederentstehen. Und Russland wird in den Ruinen seiner Wirtschaft darniederliegen und in den Ruinen seines Bewusstseins. Eine Wiedergeburt meines Landes ist nur möglich durch die völlige Vernichtung des Putinregimes. Es ist unumgänglich, das Imperium aus dem russischen Menschen herauszuoperieren wie eine bösartige Krebsgeschwulst. Russland braucht unbedingt diese „Stunde Null“. Mein Land wird nur dann eine Zukunft haben, wenn es eine totale Niederlage erleidet, wie das mit Deutschland geschah.

Слава Україні! Слава Украине! Ruhm der Ukraine!

Aus dem Russischen von Andreas R. Hofmann

 

 

 

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Michail Schischkin

Michail Schischkin

Russischer Schriftsteller, geboren 1961 in Moskau. Zu seinen Büchern gehört der Roman „Pismov’nik“ (Moskva: Astrel’, 2011; dt. Ausgabe: Briefsteller, München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2012). Seit 1995 lebt er in Zürich und schreibt auch auf Deutsch. Er weigerte sich aus politischen Gründen, Russland bei der BookExpo 2013 in den USA zu vertreten.

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