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Ein Eselsohr als hohes Lob. Über den Erkenntnisgewinn diplomatischer Memoiren

Am 08. Februar 2023 wurde in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin ein Buch vorgestellt, welches spannende Blicke auf die Berufsjahrzehnte eines erfahrenen Diplomaten eröffnet. Ein exponierterer Zeitpunkt hätte sich kaum wählen lassen. Ende des Monats sollte der russische Terrorkrieg gegen die Ukraine in sein zweites Jahr treten. Die Gesellschaft in Deutschland wird von der Frage des angemessenen Umgangs damit förmlich zerrissen.

Rolf Nikel, Botschafter a.D., dessen Buch mit dem Titel „Feinde Fremde Freunde. Polen und die Deutschen“ zur Debatte stand, war zugleich Hausherr der Veranstaltung. Nach seiner aktiven Laufbahn als Diplomat wurde er im September 2020 zum stellvertretenden Präsidenten der DGAP gewählt. Aktive Diplomaten, Ex-Botschafter, die zum Stammpublikum der DGAP zählen, mischten sich mit außenpolitischen Experten, Journalisten und zahlreichen Interessierten aus der deutsch-polnischen Community der Hauptstadt. An der Podiumsdiskussion zum Buch waren bekannte Politiker beteiligt. Dariusz Pawłoś, der polnische Botschafter in Deutschland, war anwesend und saß direkt neben Wolfgang Ischinger, dem langjährigen Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, die eine Woche später stattfinden sollte. Alle großen weltpolitischen Themen lagen in der Luft, aber im Mittelpunkt stand die Frage nach der Zukunft der deutsch-polnischen- Beziehungen.

Rolf Nikel machte zu Anfang des Gespräches klar, dass der für viele vielleicht provokativ- verkürzt wirkende Titel des Buches auf Anraten des Lektors zustande kam, er aber vollauf dahinter stünde. Es sei die Kennzeichnung eines Weges von benachbarten Nationen, der eine Hoffnung für die Zukunft einschlösse. Werde hier von Feindschaft und Fremdheit gesprochen, dann seien die langen Phasen polnisch-deutschen friedlichen Zusammenlebens nicht ausgespart. Der Blick werde aber konzentriert auf die lange Zeit des Verlustes polnischer Staatlichkeit, die Eroberungs- und Auslöschungskriege, an denen der deutsche Nachbar maßgeblich beteiligt war.

Die berufliche Entwicklung des Diplomaten ließ ihn jahrzehntelang den jüngeren Weg der deutsch-polnischen Beziehungen begleiten und mitgestalten. Familiäre Bindungen über den Großvater waren eine lange zurückliegende persönliche Grundlage. Nach einer Ausbildung zum Diplomaten sammelte Rolf Nikel von 1982-1983 erste Erfahrungen im Sowjetunionreferat des Auswärtigen Amtes, um dann für drei Jahre an die deutsche Botschaft in Moskau zu gehen. Nach weiteren Dienstorten war er von 1989-1994 stellvertretender Leiter des Osteuropareferates im Bundeskanzleramt. Das bedeutete eine unmittelbare Nähe zur Machtzentrale. Es kamen erneute Wechsel, die ihn 1998 noch einmal für längere Zeit ins Bundeskanzleramt zurückkehren ließen. Nach weiteren Stationen, wechselte Nikel im April 2014 als Nachfolger des damaligen Botschafters Rüdiger von Fritsch nach Warschau. Von Fritsch gelangte an die Botschaft in Moskau, als der verdeckte Krieg Russlands gegen die Ukraine im Gange und die Krim bereits annektiert war. Seinen fünf Jahren dort, bis zu seiner Abberufung 2019, widmete er mittlerweile zwei Bücher und wurde ab spätestens ab 2022 zum gesuchten Gesprächspartner in zahlreichen Medienformaten und Talkshows. Er, der Deutschland von 2010-2014 in Warschau vertrat, hatte das Glück in Polen unter der Regierung des liberalkonservativen Donald Tusk, leichtere offizielle Partner zu finden, als das seinem Nachfolger beschieden sein sollte. Die Summe seiner Erfahrungen in Polen, Russland und anderen Stationen seiner diplomatischen Laufbahn, die Konfrontation mit der neuen Erfahrung eines internationalen Krieges, verarbeitet von Fritsch in einem aktuellen Buch „vom Umbruch der Welt, auf dass man gespannt sein kann.“

Rolf Nikel beschreibt in seinem Buch, mit welchen Hoffnungen und Erwartungen er nach Warschau kam. Im September 2014 erhielt er die Ernennungsurkunde vom amtierenden polnischen Staatspräsidenten Bronisław Komorowski, zu dem eine Freundschaft entstand. Trotz aller Angriffe, die in diesen Monaten Tusk und seine Regierung von Seiten der PiS auf sich zogen, trotz aller provozierten und tatsächlichen Skandale um seine Regierung, schien die Wiederwahl Komorowskis im Folgejahr sicher zu sein. Zahlreiche Beobachter sagten eine erneute Wahlniederlage Kaczyńskis in den Parlamentswahlen 2015 voraus. Es gab die Hoffnung, dass sich die bitteren Erfahrungen mit einer von der PiS geführten Koalitionsregierung nicht wiederholten.

Alles kam anders. In den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2015 verlor Bronisław Komorowski unerwartet gegen den aus Krakau stammenden promovierten Juristen Andrzej Duda. Der führte einen sehr engagierten Wahlkampf und holte seine entscheidenden Stimmen in den ländlich geprägten Regionen des Ostens und Südens, einer Hochburg der PiS. Obwohl Duda als Favorit Kaczyńskis galt, setzte er in seinen ersten Gesprächen mit den Vertretern der Deutschen Botschaft auf eher moderate Töne und auch die neuen Mitarbeiter der Präsidialkanzlei zeigten sich als professionelle Pragmatiker. Nikel und seine Mitarbeiter hegten darum die Hoffnung auf einen eher moderaten Kurs nach der Machtübernahme.

Sie sollten sich gründlich irren. Schnell, entschieden und kompromisslos wurde der Austausch entscheidender Kader in der Politik und Verwaltung vorangetrieben, die Angriffe auf den Rechtsstaat forciert und die Staatsmedien in ein Propagandainstrument der Regierungspartei verwandelt. Die Auswirkungen davon bekam die deutsche Seite schnell zu spüren. Deutschlandkritische Töne, die es auch vorher gab, wurden zu deutschlandfeindlichen Kampagnen, regelrechter Hetze. Brüssel zur Brutstätte antipolnischer Politik und zum Zentrum westlichen liberalen Werteverfalls erklärt.

Der deutsche Botschafter konnte sich nur noch die Augen reiben, was Warschau plötzlich von ihm erwartete. So wurde er im Januar 2016 im Eiltempo in das polnische Außenministerium zitiert. Dort hielt ihm der damalige Außenminister Witold Waszczykowski ein Interview vor, in dem der aus Deutschland stammende Europapolitiker Martin Schulz die polnische Regierung mit der russischen verglich. Was sollte er als Repräsentant Deutschlands in Polen darauf antworten? Welches Politikverständnis lag diesem Ansinnen zugrunde? Ohne zu ahnen, wie hart es kommen würde, hatte der protestantische Christ Nikel seinem polnischen Gesprächspartner ein kleines Gastgeschenk mitgebracht. Eine aktuelle Ausgabe der Herrnhuter Losungen.

Sein Sinn für Humor und vermittelnde Gesten wurde immer dann auf eine besonders harte Probe gestellt, wenn sich vereinzelte persönliche Angriffe auf ihn bis zur Absurdität steigerten. Die aus Bayern stammende Gattin des Botschafters hatte ihm einen Trachtenjanker für Gelegenheiten in der Freizeit geschenkt. Als er den an einem Wochenende trug, tauchten in den sozialen Medien prompt Bilder auf, die daraus eine deutsche Uniform machten. Er brauchte Wochen für eine mediale Richtigstellung.

Viel schlimmer als ihm erging es Arndt Freiherr Freytag von Loringhoven, seinem Nachfolger als Botschafter, der nur eine kurze Amtszeit hatte. Dessen Vater diente als Wehrmachtsoffizier noch in den letzten Monaten des Dritten Reiches im Führerbunker bei Adolf Hitler. Die PiS-Regierung und Jarosław Kaczyński sahen darin eine Provokation, verweigerten von Loringhoven ohne Ankündigung monatelang die Akkreditierung. Als er diese im September 2020 endlich erhielt, war er bereits Gegenstand einer medialen Schmutz- und Verleumdungskampagne, die sich bis hin zu überall in Warschau geklebten Plakaten, welche den Botschafter in Nazi-Uniform zeigten, steigerte. Teile des offiziellen Polens verweigerten sich den Kontakten mit der Botschaft, blieben auch den großen offiziellen Anlässen fern, bei denen sich am Einheitsfest zum 3.Oktober sonst tausende von Gästen im weitläufigen Garten der Botschaft einfanden. Es gab auch positive Kontakte und von Loringhoven entwickelte eine eigene Verbundenheit mit Polen. Aber sollte er je Erinnerungen über seine Zeit als Botschafter in Warschau verfassen, würden diese wahrscheinlich in eher dunklen Tönen gehalten sein.

Für Botschafter Nikel wurde es besonders schwierig, als die polnische Seite mit allen Mitteln die Wiederwahl von Donald Tusk zum Präsidenten des europäischen Rates verhindern wollte und meinte, sie könne sich in dem komplizierten Abstimmungsprozedere auf Deutschland stützen. Vermeintliche diskrete Absprachen mit der deutschen Kanzlerin, die es so nicht gab, wurden ins Feld geführt und es bedurfte aller diplomatischen Geschicklichkeit in der Richtigstellung.

Mit jedem Folgejahr in Polen sah sich Rolf Nikel mit immer größeren Hürden und Hypotheken für die polnisch-deutsche Annäherungs- und Partnerschaftspolitik konfrontiert. Eine Situation, die ihn schwer belastete. Als junger Beamter an der Seite Helmut Kohls hatte er ab 1989 dem Grenzvertrag mit Polen zugearbeitet. Im Freundschafts- und Nachbarschaftsvertrag, der 1991 das Fundament für die beiderseitige umfassende Zusammenarbeit legte, waren einzelne Formulierungsvorschläge von seiner Seite eingeflossen.

Die Nähe zu den damaligen entscheidenden politischen Akteuren ließ Botschafter Nikel den wiederholten russischen Behauptungen entgegentreten, die Westmächte oder die Bundesrepublik Deutschland hätten der Sowjetunion mündliche Garantien über die Nichterweiterung der NATO über das vereinte Deutschland hinausgegeben. Eine Rede von Hans-Dietrich Genscher in Tutzing und Äußerungen des damaligen US-Außenministers James Baker in Moskau Anfang 1990, die in diese Richtung gingen, waren Testballons und nicht von ihren jeweiligen Chefs abgesegnet. Helmut Kohl und Georg H. W. Bush hatten diese Überlegungen weder gebilligt noch sind sie irgendwo schriftlich fixiert. Das räumte auch der frühere sowjetische Präsident Michail Gorbatschow im Jahre 2014 öffentlich ein.

Der Kompromiss, auf den sich die beiden Seiten letztlich verständigten, war die NATO-Russland-Grundakte von 1997, eine völkerrechtliche Absichtserklärung, nach der sich die Sowjetunion und die NATO nicht als Gegner ansehen. Am Entschluss Polens Mitglied der NATO zu werden, sollte das nichts mehr ändern. Rolf Nikel hält in seinen Erinnerungen fest, dass für Polens damaligen Außenminister Bronisław Geremek der Beitritt seines Landes zur NATO 1999 das „wichtigste Ereignis seit der Christianisierung Polens“ darstellt. An die Bedeutung Geremeks, einem der wichtigsten intellektuellen Solidarność-Berater, späteren Diplomaten und Europa-Politiker, der im Jahr 2007 einen tragischen Unfalltod fand, wird in Deutschland viel zu wenig erinnert. Auch er wurde, ob seiner jüdischen Abkunft und seiner frühen Mitgliedschaft in der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, noch nach seinem Tod zum Gegenstand rechter Angriffe und Verleumdungen.

Rolf Nikel wollte angesichts der immer stärkeren Skepsis von großen Teilen der deutschen Eliten, der Medien und der öffentlichen Meinung, ob man mit den ständig auftrumpfenden, egomanischen Polen überhaupt eine Partnerschaft haben könne, ob nicht alles eher auf einen „Polexit“ hinsteuere, nicht einfach kapitulieren. Zuviel an den Brücken, an denen er selbst mitgebaut hat, stand für ihn dabei auf dem Spiel. Er ist auf der anderen Seite Realist und ehrlich genug, entscheidende Anteile für das immer heftigere Zerwürfnis, auf der deutschen Seite zu sehen. In verschiedenen Kapiteln seines Buches schreibt er darüber und kommt vor allem an einer Stelle zu einer gelungenen komprimierten Zusammenfassung.

Als Gast der Buchvorstellung hatte sich Janusz Reiter, polnischer Germanist und Publizist, von 1990-1995 polnischer Botschafter in Deutschland, im Vorfeld ein Exemplar besorgt, in dem er als routinierter Schnellleser blätterte. Dabei stieß er auf die Seiten 157/158, die er mit einem Eselsohr versah, weil dort Entscheidendes zu finden war und er kein anderes Merkzeichen zur Hand hatte. Rolf Nikel vergleicht dort den unterschiedlichen ostpolitischen Ansatz Deutschlands und Polens in Sachen Ostpolitik, konstatiert die vernichtende und selbstzerstörerische Politik der russischen Führung und fährt fort:

„Dennoch steht Deutschland vor einem der größten außenpolitischen Scherbenhaufen seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland, weil wir die Dinge – wie viel andere – nicht rechtzeitig haben kommen sehen, Abhängigkeiten unterschätzt haben und von zu optimistischen Annahmen über den Charakter des russischen Systems und seine aggressive Außenpolitik ausgegangen sind. Während Afghanistan noch als kollektives Versagen des Westens insgesamt abgetan werden konnte, ist das Scheitern der deutschen und europäischen Russland- Ukraine- und Energiepolitik auf eine im Nachhinein bedenkliche deutsche Politik zurückzuführen. Das Verhältnis zu den östlichen Mitgliedstaaten, die vor diesen Entwicklungen gewarnt haben, und der deutsche Einfluss im östlichen Teil der Europäischen Union sind angeknackst. In Polen sind ein tiefgreifender Imageschaden und ein schwerwiegender Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust entstanden. Die deutsch-polnischen Beziehungen befinden sich in der schwersten Krise seit der Wende vor 30 Jahren.“

Janusz Reiter, dessen Eselsohr zum hohen Lob geriet, ist allerdings der Letzte, der auf einseitige Schuldzuweisungen setzt. Wie viele andere ehemalige Diplomaten und Außenpolitiker, Experten und Intellektuelle bleibt er konsequent in der Beschreibung dessen, welchen Flurschaden die polnische Außen- und Innenpolitik unter der Ägide der PiS angerichtet hat. Die gelegentlich zu hörende deutsche Sorge, es könne für die künftige bessere Ausgestaltung der Partnerschaft auf den sensiblen Feldern der Europa-, Außen- und Sicherheitspolitik an geeigneten polnischen Partnern fehlen, sei völlig unbegründet. Diese finden sich selbst in den Reihen moderater und pragmatischer Politiker, Diplomaten und Experten, die sich heute als Anhänger der aktuellen Regierung deklarieren, ihre Zukunft aber nicht an den Endkampf Jarosław Kaczyńskis ketten werden. Der hat die für den Herbst anstehenden Sejm-Wahlen zu den entscheidendsten seit 1989 erklärt und setzt alles auf einen harten, polarisierenden antieuropäischen und antideutschen Wahlkampf.

Die größte Gefahr, so führte Reiter aus, drohe dann, wenn es nicht gelinge, die für die maximale Unterstützung der Ukraine und das Niederringen des russischen Terrorregimes notwendigen Kräfte zu bündeln. Die immer engere Verbindung Polens mit den baltischen und nordeuropäischen Staaten bräuchte Deutschland als starken Partner. Nicht als abgehobene Führungsmacht, sondern mit all seinem Potential, welches es besitzt. Deutschland müsse mit vorangehen, eine Führung von hinten oder aus der Mitte heraus reiche hier nicht aus.

Rolf Nikel will mit seinen Überlegungen keine Rezepte verteilen und falsche Gewissheiten verbreiten. Ein Wahl- oder Kriegsrabatt gegenüber Polen angesichts flagranter Einschränkungen von Demokratie- und Freiheitsrechten liegt ihm nicht. Alle damit verbundenen Punkte müssten unmissverständlich angesprochen und kritisiert werden. An einem ruhigen aber durchgehaltenen und kraftvollen Engagement auch bei unbequemen Gegenübern führt für ihn kein Weg vorbei. Dies sei der notwendige Weg anstatt mit „strategischer Geduld“ zuzuwarten, was denn wohl in nächster und übernächster Zeit passieren werde.

Vor allem steht für Rolf Nikel Deutschland gut an, ohne Besserwisserei und Dünkel vor der eigenen Tür zu kehren, grundlegende systemische Fehler und Irrtümer der Vergangenheit gründlich aufzuklären. Nicht um personeller Schuldzuweisungen willen, sondern um möglichst vor der Wiederholung der gleichen Fehler gewappnet und gemeinsam den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein.

 

 

 

Wolfgang Templin

Wolfgang Templin

Philosoph und Publizist, ehemaliger DDR-Bürgerrechtler.

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