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Papst, Heiliger und Nationalheld – ein Scherbengericht

Ehrlich gesagt, interessiert es mich nicht sonderlich, ob Papst Johannes Paul II. in der Zeit, da er noch Karol Wojtyła, Erzbischof von Krakau war, sich durch die Vertuschung von Fällen von Kindesmissbrauch durch Priester schuldig gemacht hat oder nicht. Die Opfer verdienen selbstverständlich Wiedergutmachung, soweit das überhaupt möglich ist. Ich denke, nach so vielen Jahren wird es schwierig sein, die Fakten präzise zu rekonstruieren, und dass die Beweisdokumente von Sicherheitsamt (UB) und Sicherheitsdienst (SB) [aufeinanderfolgende Bezeichnungen der politischen Polizei der Volksrepublik Polen; A.d.Ü.] stammen, macht die Sache nicht einfacher. Dieselben, die diese Art von Unterlagen für beweiskräftig halten, wenn es darin um Leute geht, die sie anklagen wollen, machen geltend, sie seien gefälscht, wenn sie ihnen nahestehende Personen betreffen. Kein Gericht wird eine Entschädigung allein auf der Grundlage von Zeugenaussagen zu Ereignissen von vor so langer Zeit zuerkennen, selbst wenn die Erinnerungen der Zeugen noch so ans Gemüt gehen. Aber es ist wichtig, sich mit diesen Vorgängen auseinanderzusetzen, die der Kirche so schweren Schaden zufügen. Die schiere Zahl der Missbrauchsfälle in verschiedenen Ländern gestattet nicht, sie herunterzuspielen, selbst wenn es dabei tatsächlich nur um eine begrenzte Anzahl von Priestern ginge.

Bei einem ganz anderen Problemkreis ist mir in Erinnerung geblieben, was mir ein Kollege sagte, der mit den deutschen Entschädigungen für Zwangsarbeiter befasst war. Wieder mal hatte er einem Antragssteller zu erklären, welche Dokumente dieser beizubringen hatte. Der naturgemäß bereits ältere Mann reagierte mit Empörung. Er zeigte dem Kollegen seinen Arm mit der eintätowierten Nummer und schrie: „Reicht euch das nicht aus?!“ Unabhängig davon, dass und wie man alle Anstrengungen machen sollte, die Entschädigungen auszuzahlen, bleibt die Geschichte der Zwangsarbeiter ein wichtiges Thema für die Forschung. Dasselbe gilt für viele Aspekte der Kirchengeschichte.

Als Nichtgläubiger kann ich mich nicht kompetent zur Frage der Heiligkeit äußern. Mein Allgemeinwissen sagt mir aber, dass so mancher Heilige keineswegs ein auf Erden wandelnder Idealmensch war. Auch ist allgemein bekannt, dass selbst hochangesehene Menschen in ihrer Biographie dunkle Seiten hatten, ob diese nun mit ihren Charaktereigenschaften oder aus den Normen ihrer Zeit zu erklären sind. Als Historiker ist mir bewusst, dass sich vergangene Epochen kaum mit den Normen von heute bewerten lassen; doch lohnt sich nachzuvollziehen, wie sich diese Werte fortentwickelt haben. Als Historiker bin ich eher zurückhaltend, wenn es um den Sturz von Denkmälern geht, um Umbenennungen, um die Zerstörung von Objekten mit Symbolwert; denn diese alle zeugen vom Leben der Menschen zu unterschiedlichen Zeiten. Kriterien zur Bestimmung des künstlerischen Werts, die über Zerstörung oder Bewahrung entscheiden, sind vielfach sehr subjektiv und für sich genommen wandelbar in der Zeit. Selbst wenn die weitaus meisten in Polen für Johannes Paul II. aufgestellten Denkmäler ganz gewiss keinen künstlerischen Wert besitzen, sind sie doch für den Historiker Ausdruck einer bestimmten Einstellung der jeweiligen lokalen Gemeinschaft.

Im Folgenden jedoch die eigentlichen Anmerkungen eines Nichtgläubigen, wie Johannes Paul II. mit bestimmten Dingen umging, und zur Auseinandersetzung um die Erinnerung an ihn, wie sie sich gegenwärtig in Polen abspielt.

Die katholische Kirche pflegte in der Volksrepublik Polen das Selbstbild einer belagerten Festung. Dazu hatte sie gute Gründe, insbesondere bis zum Jahr 1956, danach vielleicht in geringerem Maße, doch auch weiterhin. Natürlich lässt sich behaupten, dass die Dinge sich in Polen weniger schrecklich verhielten als in den meisten „friedliebenden Ländern unter der Führung der Sowjetunion“. Wir sollten nicht vergessen, dass die kommunistische Staatsspitze in mindestens zwei Fällen von der Kirche Unterstützung erwartete, nämlich an der Jahreswende 1956/57 sowie in den 1980er Jahren. Doch das gesellschaftspolitische System blieb wie eh und je in Beton gegossen, es war bis zu seinem Untergang stalinistisch geprägt, und es musste schon sein letztes Stündlein geschlagen haben, damit sich Delegierte des Primas gemeinsam mit Vertretern der Regierung an den Runden Tisch setzen konnten. Gerade als der Druck nicht mehr so stark war, hatte das für die Kirche noch zweierlei Folgen. Die Kirchen füllten sich. Vielen erschien die Kirche eine glaubwürdige Institution, eine soziale Plattform, eine von wenigen Möglichkeiten, innerhalb der bestehenden politischen Verhältnisse noch funktionieren zu können, manchen war sie ein Sprungbrett.

Es ist dummes Zeug zu meinen, alle Polen hätten den Kommunismus gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Wie es damals schon hieß, gingen viele sonntags zur Kirche, montags aber zur Parteiversammlung. Doch sie gingen eben auch zur Kirche, manchmal vielleicht gerade deshalb. Zugleich sah sich die Kirche als belagerte Festung. In einer belagerten Festung bestehen aber keine Chancen auf Reformen, werden keine Meinungen von außen gehört, die für Veränderungen plädieren, und überhaupt ist an Kritik nicht zu denken, auch wenn sie aus der eigenen Mitte kommt. Ansonsten bestand die Kirche inmitten der Gesellschaft, wie sie nun einmal war, nämlich einer Gesellschaft, an der die Modernisierung großenteils vorbeigegangen war. Im Kommunismus entstand einerseits die Schwerindustrie, andererseits war aber die Entwicklung von Geisteskultur und Lebensverhältnissen im Vergleich zum Westen stark verlangsamt. Zudem war die Gesellschaft aus unterschiedlichen Gründen mit starken Komplexen behaftet.

Und dann gab es plötzlich einen polnischen Papst. Das ließ die Nation förmlich aus dem Häuschen geraten. Damals hielt der heute bereits etwas in Vergessenheit geratene Schriftsteller Kazimierz Brandys fest:

„Am Tag der Wahl Karol Wojtyłas zum Papst [16. Oktober 1978] liefen die Leute in Warschau durch die Straßen und jauchzten vor Freude. Als M. über die Świętojańska-Straße ging, wurde sie von einem unbekannten Alten umarmt, dem Tränen in den Augen standen: ,Haben Sie gehört? Ein Wunder! Ein Wunder!‘ – Es waren nicht die Dichter der Romantik, die sich den polnischen Messianismus ausdachten. Plötzlich wurden zur selben Stunde alle zu Messianisten, als hätten sie seit zweihundert Jahren in Erwartung des Tages der Wiederkunft gelebt. Solch ein kollektiver Reflex des Irrationalismus konnte nur von den Genen einer Nation übermittelt werden, die im Laufe von zehn Generationen den Glauben an die irdische Gerechtigkeit der Geschichte verloren hatte. Es waren so viele häusliche Sintfluten, so viele Teilungen und Verrätereien nötig, damit sich das, was in anderen Ländern politisches Denken, Bürgerbewusstsein oder Rechtsgefühl ausmacht, hier in ein Verlangen nach einem übernatürlichen Zeichen der Himmel verwandelte.“

Und dann notierte er noch:

„Der Mensch in Polen ruft heute den Papst an: Kaufe uns frei, gebe uns die Würde einer großen Nation zurück und sage der Welt, wer wir sind.“ (Kazimierz Brandys, Miesiące [Monate], Warszawa: Nowa, 1980, S. 82, 83)

Später tat der Papst das Seine zum Fall des Kommunismus. Was heute ständig behauptet wird, nämlich der Papst habe den Kommunismus gestürzt, ist sinnlos, gleichwohl ist wahr, dass er dazu beigetragen hat. Die Kirche ebenso. Viele von uns, selbst die ganz Religionsfernen, sympathisierten damals mit der Kirche. Natürlich hatten wir diese nicht als Ganzes im Blick. Überdies werden wir alle in Momenten des Umbruchs zu besseren Menschen, und dann wollen wir auch alle um uns herum als bessere Menschen sehen. Über den Papst lässt sich viel Gutes sagen. Ich selbst schätze besonders die wichtigen Schritte, die er machte, um mit den Würdenträgern anderer Religionen ins Gespräch zu kommen, was im Falle Polens besonders wichtig vor dem Hintergrund der Beziehungen zwischen Christen und Juden war. Aber Johannes Paul II. trat nicht unbedingt für die Reform der Kirche in Polen ein. Er wollte Polen und die polnische Kirche in Europa, aber wohl gerade, um sie dem immer säkularer werdenden Westen entgegenzustellen. Aus der Volksrepublik brachte er eine defensive Einstellung mit. In Lateinamerika, wo er den Einzug des Kommunismus fürchtete, weihte er konservative Bischöfe, während er gewiss in der Befreiungstheologie fast so etwas wie Kommunismus sah.

Unterdessen begannen paradoxerweise für die Kirche in Polen schwierige Zeiten. Sie erwartete, wenn ich sie hier einmal so personalisieren darf, dass mit dem Fall des Kommunismus die Religion Fortschritte machen würde. Dass sich das Land stärker auf Nationalität und Religion besinnen würde. In der Tat erlebte das Land eine nationale und katholische Wiedergeburt. Die Religion gelangte in die Schulen, im Sitzungssaal des Sejms wurde ein Kreuz aufgehängt, viele Kirchen wurden gebaut, die Kirche erhielt ihre Besitztümer zurück und erweiterte ihre Macht in vielerlei Hinsicht, alles war von religiösem Zeremoniell geprägt… Für viele dieser Vorgänge lassen sich gute Gründe finden. Gläubige haben einen Anspruch auf einen kurzen Weg zur Kirche, so mögen auch fromme Abgeordnete auf ein religiöses Symbol blicken wollen, solange es nur kein Staatssymbol wird und politische Schützenhilfe leistet… Doch in derselben Zeit kamen noch andere Dinge ins Rollen. Die Anzahl der Kirchgänger war rückläufig, es begann die für den Westen typische Säkularisierung, der Zugewinn an Macht und Reichtum der Kirche gefiel nicht allen, der Religionsunterricht an den Schulen war oft von zweifelhafter Qualität und gewiss weniger beliebt als die frühere Katechisierung in den Gemeinden. Zudem ist auch die Gesellschaft stark gespalten zwischen Modernisierung und Konservatismus. Letzterer steht in einem Näheverhältnis zur Kirche, erstere distanziert sich umso mehr von ihr. Natürlich muss das nicht unbedingt viel mit dem persönlichen Gottesglauben oder Nichtglauben zu tun haben. Es geht hier um die Haltung zur Amtskirche und ihrer öffentlichen Geltung.

Mitten hinein platzten die Meldungen über den Kindesmissbrauch durch Priester. Weil das Problem in vielen Ländern ruchbar wurde, konnte es auch vor Polen keinen Halt machen. Es kam die Kritik an Johannes Paul II. auf, er habe als Erzbischof von Krakau pädophile Priester geduldet. Zudem wurde diese Kritik auch noch in Filmen vorgebracht, die immer eine stärkere Wirkung haben als Texte. In der Überzeugung, der Kirche und der Wahrung des Gedächtnisses Johannes Pauls II. besonders nahe zu stehen, machte sich das Regierungslager an die Verteidigung des Papstes. Dazu kam ein weiterer Faktor. In Anbetracht der näher rückenden Wahlen erkannte das Regierungslager eine großartige Gelegenheit. Es behauptete, seine Gegner würden nicht nur den polnischen Papst herabwürdigen, den hervorragendsten Polen aller Zeiten, sondern seien schlicht gegen die Nation! Die Verteidigung des Papstes (ich lasse hier die Frage außen vor, ob er diese wirklich nötig hat!) fällt zusammen mit der seit langem vorgetragenen Kritik an der Opposition, sie bestehe aus nationalen Renegaten. Es geht gar nicht um die Verteidigung des Papstes, oder doch zumindest nicht nur um die Verteidigung seiner Person und Heiligkeit. Es geht um die Verteidigung des polnischen Heiligen und des polnischen Papstes, um die Verteidigung der Nation! So kann man sich die Autorität des Papstes auf die Fahnen schreiben. So kann man den US-Botschafter in das Außenministerium einbestellen, um ihm Vorwürfe zu machen, ein mit US-Kapital finanzierter Fernsehkanal habe einen Film gezeigt, der behaupte, Kardinal Wojtyła habe vom Kindesmissbrauch seiner Priester gewusst.

Erinnern wir uns, dass Johannes Paul II. als Kind in seinem Heimatort Wadowice kremówki (Crèmeschnitten) liebte, wovon er selbst einmal erzählte, so dass sich das im kollektiven Gedächtnis eingeprägt hat, und deshalb bei Gelegenheit kremówki an Intercity-Passagiere verteilte, wie ich es verstehe, auf Firmenkosten. Man kann Straßenumzüge zur Verteidigung Johannes Pauls II. organisieren, einen Sejmbeschluss zu seiner Ehrenrettung verabschieden… Aber ich kann nur sagen, dass all dies, unabhängig von der jeweiligen Auffassung, ganz schnell jeden Sinnes entbehrt. Vielleicht taugen diese kremówki noch am besten dafür, die Debatte zu entspannen. Mit einem leckeren Kuchen wird der Blick auf die Geschichte doch viel leichter, und das wäre in Polen schon mal ein Fortschritt, anstatt sich weiter mit schwerem Geschütz zu beharken.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Marcin Kula

Marcin Kula

Marcin Kula, Historiker und Soziologe, emeritierter Professor an der Universität Warschau. Er spezialisiert sich auf die lateinamerikanische Geschichte, die jüngere polnische Geschichte, forscht zu Migration und nationalen Minderheiten sowie Geschichte der Soziologie. 

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