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Rentenreform in Frankreich – Gründe und Folgen des Protests

Für Emmanuel Macron ging es bei der Rentenreform von Anfang an um viel: Mit seinem Prestige-Projekt wollte er als Reformer und starke Führungspersönlichkeit in die Geschichte Frankreichs eingehen. Das ist ihm nun gelungen. Fragt sich nur, zu welchem Preis.

Anstatt eine Abstimmung im Parlament und eine mögliche Niederlage zu riskieren, hat der Präsident die Reform mit der Brechstange – dem Verfassungsartikel 49.3 – durchgedrückt. Die Chance, sein Image aufzupolieren, hat er damit meilenweit verpasst. Im Gegenteil, viele Französinnen und Franzosen sehen sich in dem Bild, das sie von Macron haben, bestätigt: das Bild eines arroganten, uneinsichtigen Staatsoberhauptes, das nicht auf den Willen seines Volkes hört. Es wird Macron, der bereits geschwächt aus seiner Wiederwahl im letzten Jahr hervorgegangen war, wohl für den Rest seiner Amtszeit anhaften. Laut einer Umfrage sind seine Beliebtheitswerte allein im März um sechs Prozentpunkte gesunken[i]. Der Präsident selbst betont, das einzig Richtige getan zu haben – auch wenn er sich dadurch unbeliebt mache. So erklärte er in seiner ersten Stellungnahme nach der Verabschiedung der Reform: „Zwischen den Umfragen und der Kurzfristigkeit und dem allgemeinen Interesse des Landes entscheide ich mich für das allgemeine Interesse des Landes.“[ii]

Nicht nur der Präsident, auch die Regierung rund um Premierministerin Elisabeth Borne hat durch die Reform erheblichen Schaden genommen. Angesichts der fehlenden absoluten Mehrheit im Parlament hatte sie immer wieder ihre Kompromiss- und Dialogbereitschaft betont. Doch letztlich gelang ist es ihr nicht, einen Gesetzestext auszuarbeiten, hinter den sich das eigene Bündnis und die ebenfalls reformwilligen „Les Républicains“ gemeinsam stellen konnten. Anstatt weiter um eine parlamentarische Lösung zu ringen, verließ sie sich auf das Staatsoberhaupt und Artikel 49.3.

Experten warnen, dass das bereits angeschlagene Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie und das politische System Frankreichs durch die aktuellen Ereignisse einen neuen Tiefpunkt erreichen könnte. Jean Quatremer, Kolumnist der linken Tageszeitung Libération, teilt diese Meinung. Der Präsident trete die Demokratie regelrecht mit Füßen. „Macron rechtfertigt seine Sturheit hauptsächlich mit dem Argument, dass die Franzosen ihn für seine politischen Ideen gewählt hätten, doch das ist vollkommen falsch. (…) Seine Legitimität beruht auf der Ablehnung der Extreme. Das hätte ihn eigentlich dazu zwingen müssen, nach einem für die Gesellschaft akzeptablen Kompromiss zu suchen. Indem er diesen ablehnt und davon überzeugt ist, als einziger Recht zu haben, schwächt er die französische Demokratie, die bereits unter der Covid-Pandemie gelitten hat. Doch aus den Folgen der Pandemie wurde nichts gelernt. Emmanuel Macron, der vorgab, die Demokratie wiederzubeleben, könnte sich als ihr Totengräber herausstellen.“[iii] Auch der Schriftsteller Nicolas Mathieu spricht in einem Kommentar in der Internet-Zeitung Mediapart davon, dass der Staatsgewalt ihre Legitimität abhandengekommen sei. „Die Exekutive ist in ihrer Funktionsweise legitim, dank unserer Gesetze und der Stärke unserer Institutionen, aber sie hat das verloren, was wahre politische Legitimität in einer Demokratie mit Leben füllt: ein gewisses Maß an Zustimmung des Volkes.“[iv]

Zudem dürfte der politische Alltag in Frankreich in den kommenden vier Jahren alles andere als einfach werden. Macron und seine Regierung müssen sich im Parlament auf einigen Gegenwind gefasst machen. Einen Ausblick darauf lieferte das Ergebnis des fraktionsübergreifenden Misstrauensvotums, dem sich Premierministerin Borne nach dem Beschluss der Rentenreform stellen musste: Lediglich neun Stimmen fehlten, um sie zu stürzen. Besonders besorgniserregend für das Regierungsbündnis: Auch 19 Abgeordnete der Republikaner stimmten für den Antrag – fast ein Drittel der Fraktion. Dabei ist das Regierungslager dringend auf die Stimmen der Partei angewiesen, um eine Mehrheit in der Assemblée Nationale zu haben. Dort wiederum haben die heftigen Debatten um die Rentenreform die Gräben vertieft. Insbesondere die Abgeordneten des Linksbündnisses NUPES brachten die anderen Parteien gegen sich auf. Sie unterbrachen Sitzungen durch wilde Zwischenrufe und beschimpften ihre politischen Gegner. Französische Medien berichten, der Plenarsaal habe zeitweise einem Pausenhof geglichen, auf dem niemand mehr sein eigenes Wort versteht.[v] Hinzu kamen die mehreren tausend Änderungsanträge der NUPES. Dadurch behinderten sie die Debatten und sorgten dafür, dass über wichtige Punkte der Reform gar nicht erst diskutiert wurde. Auch das erinnerte viele im Land – nicht zu Unrecht – an das Verhalten von Kleinkindern.

Auf den Straßen ähnlich chaotische Szenen. Seitdem Regierungschefin Borne im Januar die Rentenreform vorgestellt hat, geht eine Protest- und Streikwelle durch Frankreich. Bahnen fahren regelmäßig nicht, auf den Gehwegen in Paris und anderen Metropolen stapeln sich die nicht abgeholten Müllsäcke und immer wieder kommt es zu Massendemonstrationen. Zu Hochzeiten sollen laut der Gewerkschaft CGT mehr als drei Millionen Menschen auf den Straßen gewesen sein. Gerade zu Beginn gab es viel Lob für die CGT und andere führende Gewerkschaften. Sie hätten bei der Organisation des Protests große Einigkeit bewiesen und es geschafft, Gewalt weitgehend zu verhindern. Doch die über Wochen friedlichen Kundgebungen werden in letzter Zeit immer wieder von Ausschreitungen überschattet – der Einsatz des Artikels 49.3 wirkte wie ein Katalysator für die Wut einiger gewaltbereiter Demonstrierender. Sie setzen Autos und Läden in Brand, blockieren Straßen oder beschießen die Polizei mit Feuerwerkskörpern. Aber auch den Einsatzkräften wird vorgeworfen, unverhältnismäßig gewaltsam vorzugehen. In den sozialen Netzwerken kursieren dutzende Videos und Tonaufnahmen, die das beweisen sollen.

Ein Umfragebarometer aus dem März zeigt: Während immer mehr Menschen die Reform ablehnen (69%), wächst die Unterstützung für die Protestbewegung (70%).[vi] Doch warum erhitzt die Rentenreform die französischen Gemüter eigentlich derart? Ein Blick auf die harten Fakten hilft bei der Beantwortung dieser Frage nur bedingt weiter. Denn Tatsache ist: Französische Rentner stehen im internationalen Vergleich sehr gut da. Wer durchschnittlich verdient, wird auch weiterhin rund 74 Prozent seines früheren Nettoeinkommens erhalten – das sind 12 Prozentpunkte mehr als im OECD-Schnitt.[vii] Gleichzeitig ist die Lebenserwartung in Frankreich vergleichsweise hoch, sodass die Menschen dort ihren Ruhestand besonders lange genießen können. Und: Anders als in Deutschland beispielsweise gibt es eine Mindestrente, die mit der Reform auf 1200 Euro hochgesetzt werden soll und damit im guten OECD-Mittelfeld liegt.

Die meiste Kritik zielt auf den Kern der Rentenreform ab: die schrittweise Anhebung des Rentenalters bis 2030. In Zukunft sollen die Französinnen und Franzosen nicht mehr mit frühestens 62 sondern mit 64 Jahren abschlagsfrei in Renten gehen können – unter der Voraussetzung, dass sie mindestens 43 Jahre lang Beiträge gezahlt haben. Auch das aber fällt nicht aus dem europäischen Rahmen. In Deutschland zum Beispiel wird das Renteneintrittsalter stufenweise auf 67 Jahre angehoben. Früher kann aktuell nur in Rente gehen, wer auf 45 Beitragsjahre kommt. Kein Wunder also, dass gerade die Deutschen nur wenig Verständnis für den vehementen Widerstand im Nachbarland aufbringen können.

Womöglich hat dieser Widerstand aber auch weniger sachliche als soziokulturelle Gründe. Denn seit mehr als 25 Jahren ist die Rente ein heikles Thema in Frankreich, Protestmärsche gegen Reformvorhaben haben fast schon Tradition. Zurück geht diese Haltung auf das Jahr 1995. Damals versuchte der konservative Regierungschef Alain Juppé die Regeln aller Rentensysteme – bis heute gibt es fast 40 unterschiedliche Systeme, von denen einige ihren Versicherten große Vorteile bieten – zu vereinheitlichen. Massive Proteste jedoch legten das Land drei Wochen lahm und die Regierung sah sich gezwungen, die Reform zurückzunehmen. Seitdem steht diese Episode im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung für die Machtlosigkeit der Politik gegenüber der Straße und stärkt das Selbstbild eines nicht reformierbaren Landes.

Einigen Beobachtern zufolge ist die Rentenreform mehr Auslöser als Ursache für die Proteste – ähnlich wie bei den Gelbwesten. Eine geplante Erhöhung der Treibstoffsteuer trieb sie ab November 2018 auf die Straße. Eigentlich aber sei der Protest damals wie heute Ausdruck einer viel tiefer sitzenden Unzufriedenheit – mit der Arbeitsbelastung, der Wohlstandsverteilung und dem politischen System im Allgemeinen. Ein Teil der Demonstrierenden sind ehemalige Gelbwesten, erklärt der Soziologe Michel Wieviorka in Libération.[viii] Sie hätten das Gefühl, dass die Schwierigkeiten in ihrem Alltag bei der Rentenreform nicht ausreichend berücksichtigt würden.

„Wenn Sie in einer medizinischen Wüste wohnen, in der es keine ausreichenden öffentlichen Verkehrsmittel gibt und die Post geschlossen wurde, erleben Sie ein Gefühl der Verlassenheit und des Sinnverlusts“, so Wieviorka.

Während sich die Wut der Menschen auf den Straßen Bahn bricht, fordern die Gewerkschaften die Regierung weiterhin dazu auf, die Reform zurückzunehmen. Eine erste Gesprächsrunde mit Premierministerin Borne scheiterte allerdings. Mitte April wird schließlich der Verfassungsrat darüber entscheiden, ob die Reform verfassungskonform ist. Das könnte die Spannungen weiter verstärken, analysiert der Politikwissenschaftler Bruno Pallier im Interview mit dem paneuropäischen Fernsehsender euronews. „Jedes Mal, wenn Schritte gegen die öffentliche Meinung geschehen, (…) gibt es eine noch stärkere Reaktion. Wenn also der Verfassungsrat den Entwurf in Teilen oder ganz durchgehen lässt, dann wird das die Opposition gegen die Reform befördern.”[ix]

Eine Deeskalation ist derzeit also nicht in Sicht. Derweil wächst bei manch einem in Frankreich die Angst vor den politischen Folgen der aktuellen Ereignisse. Denn eine Partei verhielt sich während der Debatten um die Rentenreform auffällig still und gesittet – und scheint jetzt von der allgemeinen Krisenstimmung zu profitieren: das rechtsextreme Rassemblement National. Die Partei von Marine Le Pen ist die einzige, deren Umfragewerte im Vergleich zum Vorjahr gestiegen sind.[x] Die Front gegen Rechts, die eben noch Macrons Wiederwahl gesichert hat, könnte bei den nächsten Präsidentschaftswahlen also endgültig in sich zusammenbrechen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[i]: https://www.francetvinfo.fr/politique/emmanuel-macron/reforme-des-retraites-la-popularite-d-emmanuel-macron-en-net-recul-selon-deux-sondages_5737130.html

 

[ii]: https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2023/03/22/13h-linterview-du-president-emmanuel-macron-sur-tf1-et-france-2

 

[iii]: https://www.liberation.fr/idees-et-debats/emmanuel-macron-fossoyeur-de-la-democratie-francaise-20230326_PQSLYQZ24FDK3LR7MRO5Y7QZNY/

 

[iv]  : https://www.liberation.fr/idees-et-debats/emmanuel-macron-fossoyeur-de-la-democratie-

francaise-20230326_PQSLYQZ24FDK3LR7MRO5Y7QZNY/

 

[v]: https://www.lefigaro.fr/politique/retraites-bruit-et-fureur-a-l-assemblee-nationale-20230206

 

[vi]: https://www.tf1info.fr/politique/sondage-70-des-francais-soutiennent-la-mobilisation-contre-la-reforme-des-retraites-2252332.html

 

[vii]: https://www.oecd.org/publications/oecd-pensions-at-a-glance-19991363.htm

 

[viii]: https://www.liberation.fr/politique/reforme-des-retraites-grandes-villes-et-peripheries-se-mobilisent-dans-un-meme-combat-20230131_3TYJF3U5CNCGTPSNTJ7UQBPT2M/

 

[ix]: https://de.euronews.com/my-europe/2023/04/03/franzosische-rentenreform-fronten-verhartet-extreme-rechte-legt-zu

 

[x]: https://www.tf1info.fr/politique/sondage-le-rassemblement-national-grand-gagnant-de-la-reforme-des-retraites-2253068.html

 

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Lisa Müller

Lisa Müller

Lisa Müller ist eurotopics-Korrespondentin für Frankreich sowie die französischsprachigen Teile Luxemburgs, Belgiens und der Schweiz. Sie studierte Kommunikationswissenschaften und deutsch-französischen Journalismus in Freiburg und Straßburg.

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