Zum Inhalt springen

Zwischen Adler und Drachen. Zu Frankreichs Fernostpolitik

Kaum eine Aussage des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron sorgte seit seiner Äußerung von November 2019 zur vermeintlich „hirntoten NATO” für so zahlreiche Reaktionen im Ausland wie das Interview, das er auf dem Rückflug nach seinem Staatsbesuch in China den Journalisten von Politico gewährte. Zwar war der Kontext ein ganz anderer als vor fast dreieinhalb Jahren, doch eine gewisse Kontinuität in Hinblick auf den Duktus der französischen Außenpolitik lässt sich nicht übersehen: Zugehörigkeit zum Westen, doch gleichzeitig Selbstständigkeitsanspruch im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und Bereitschaft zum Dialog mit den Herausforderern des Westens im Sinne einer multipolaren Weltordnung. Die Tatsache, dass dies nun im Zusammenhang mit China und der angespannten geopolitischen Lage in der Formosastraße zum Ausdruck kam, ist einerseits auf den internationalen Kontext zurückzuführen, hat aber andererseits auch mit den Prioritäten zu tun, die sich die französische Diplomatie schon vor sechzig Jahren hinsichtlich ihrer Fernostpolitik gesetzt hatte.

Zwar bestand in Frankreich wie auch in vielen anderen europäischen Ländern eine bis in die Neuzeit zurück reichende Faszination für China und seine alte Kultur, die in der westlichen Wahrnehmung zur Schaffung und Übertragung eines stark orientalisierenden China-Bildes führte. Mehr Realismus setzte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Beginn des Kalten Kriegs langsam durch. Als mit dem Sieg Mao Zedongs und der chinesischen Revolution die Volksrepublik China ab 1949 neben der Sowjetunion zum zweiten bedeutenden staatlichen Akteur der internationalen kommunistischen Bewegung heranwuchs, galt im Westen zunächst das Prinzip der Eindämmung und Nichtanerkennung – zugunsten des kleinen selbstproklamierten, prowestlichen Inselstaats der Republik China (Taiwan). Allerdings führte die neue Ausrichtung der französischen Außenpolitik nach der Gründung der Fünften Republik (1958) unter General Charles De Gaulle zu einer Neuorientierung von Frankreichs Ost- und Fernostpolitik.

Als einer der ersten westlichen Entscheidungsträger beschloss De Gaulle im Rahmen seiner Öffnungspolitik auf den Ostblock, auch die französisch-chinesischen Beziehungen der tatsächlichen geopolitischen Lage in Asien entsprechend neuzugestalten. Nur das Vereinigte Königreich hatte früher, bereits im Januar 1950, damals noch als einziger westlicher Staat, Maos Regime offiziell anerkannt. Auch in Frankreich setzte sich nun die Anerkennung der Fakten in Hinblick auf die wachsende Bedeutung des kommunistisch regierten chinesischen Festlands im Verhältnis zu der zwar westlich orientierten, doch für China kaum repräsentativen taiwanesischen Regierung durch. Während die Bevölkerung der Volksrepublik China noch an den katastrophalen Folgen des „Großen Sprungs nach vorne“ (1958–1962) zu leiden hatte, durch welchen die bislang größte Hungersnot der Menschheitsgeschichte mit schätzungsweise 27 bis 30 Millionen Todesopfern ausgebrochen war, wurde sowohl das wirtschaftliche Potenzial des Landes als auch die zunehmende Bedeutung Pekings in den internationalen Beziehungen – nicht zuletzt als Konkurrenz zu Moskau – für westliche Beobachter immer deutlicher. Dementsprechend lässt sich auch die Bereitschaft Frankreichs, diplomatische Beziehungen mit der Volksrepublik China aufzunehmen, erklären. Dies erfolgte im Januar 1964, wodurch es Frankreich – laut De Gaulle – um nichts Weiteres ging, als „die Welt so anzuerkennen, wie sie ist“. Auch Amerika zum Trotz.

Nichts Anderes behauptet Präsident Emmanuel Macron nun, wenn er sich dafür ausspricht, Frankreich und die Europäische Union in den chinesisch-chinesischen Spannungen zwischen Festland und Taiwan außerhalb der Auseinandersetzung zu lassen. Für Irritierung sorgte in Washington der in Macrons Stellungnahme deutlich artikulierte gaullistische Tenor, es müsse eine europäische Autonomie im Verhältnis zu den asiatischen Interessen der Vereinigten Staaten angestrebt werden. Damit verfolgt der französische Präsident im Grunde genommen weiterhin sein Ziel, seine europäischen Partner innerhalb der EU davon zu überzeugen, dass die Verbundenheit zum Westen Selbstständigkeit in Sachen Außen- und Sicherheitspolitik nicht ausschließt, ja die EU dafür sorgen sollte, ihre eigene Stimme hörbar zu machen bzw. nicht grundsätzlich im Kielwasser US-amerikanischer Flugzeugträger zu fahren.

Nun ist es ratsam, dieses Mantra französischer Außen- und Europapolitik angesichts des besonderen internationalen Kontexts auf seine Wirksamkeit und tatsächliche Durchsetzungskraft zu prüfen. Während sich Paris und Peking darauf vorbereiten, im Jahre 2024 sechzig Jahre diplomatischer Beziehungen u.a. durch kulturpolitische Ereignisse zu feiern, kann man nicht genug unterstreichen, dass die Lage heute eine ganz andere ist als zu Zeiten De Gaulles: Glomm damals der Kalte Krieg, so tobt heute an den östlichen Toren der EU ein allzu heißer Konflikt, in dem es sowohl um das Überleben der Ukraine als Staat und der Ukrainer als Nation, als auch um die Zukunft der europäischen territorialen Ordnung geht. Die bald fünfzehn Monate seit der Zuspitzung des russisch-ukrainischen Konflikts haben bis jetzt wieder gezeigt, wie schwer es den Europäern fällt, sicherheits- und verteidigungspolitisch einen gemeinsamen Nenner zu finden. Der Krieg hat auch verdeutlicht, dass selbst führende EU-Staaten seit Jahren bzw. Jahrzehnten ihr Militär unterfinanzieren und ohne den kolossalen Einsatz der USA außer Stande wären, den enormen ukrainischen Bedarf an Waffen, Munition und Ausrüstung auch nur annähernd zu decken. Daran ändert auch der ohnehin recht überschaubare französische Beitrag an der ukrainischen Verteidigung nichts Wesentliches.

So sehr der französische Präsident im Gespräch mit dem chinesischen Staatsoberhaupt Xi Jinping dafür plädiert hat, China möge von Waffenlieferung an Russland absehen, um eine Eskalierung des Konflikts in der Ukraine zu vermeiden, so wenig war er imstande, vom Pekinger Regime in Hinblick auf die weltpolitische Gemengelage – vom Krieg in der Ukraine bis hin zu der angespannten Lage um Taiwan – als die Stimme der EU wahrgenommen zu werden. Dies liegt nicht nur an der chinesischen Perzeption, sondern auch an den tatsächlichen Spaltungen innerhalb der EU in Hinblick auf die Beziehungen zu China, aber auch zu Russland.

Mit Moskaus Aggressionskrieg rückt einerseits der Schwerpunkt der EU nach Osten, wobei seit rund einem Jahr auch der zunehmende Anspruch ostmitteleuropäischer EU-Mitgliedstaaten, an der Definition der Nachbarschaftspolitik nach Osten hin und insbesondere an der Russlandpolitik teilzuhaben, unübersehbar und verständlicherweise lauter geworden ist. Andererseits ist aber dadurch angesichts der deutschen Zögerlichkeit, die angekündigte „Zeitenwende“ mit Taten zu bekräftigen, sowie des manchmal unklaren französischen Pas-de-deux im Dialog mit Russland in den ersten Monaten der russischen Offensive, das einst Rumsfeldsche Motiv der Teilung Europas wieder lebendig geworden. Der im Juni 2021 verstorbene, ehemalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld mag sein knapp zwei Jahrzehnte zuvor im Kontext des Irakkriegs lanciertes Schlagwort über das „alte“ und das „neue“ Europa später teilweise revidiert haben, es hat jedoch weiter gelebt und wird in letzter Zeit auch dankbar wieder aufgegriffen – in den europäischen Ländern etwa, denen weiterhin die Zusammenarbeit mit den USA und dem transatlantischen Bündnis am meisten gelegen ist, allen voran Polen. Dementsprechend gab der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki während seines jüngsten Besuchs in Washington in seinem Gespräch mit Vizepräsidentin Kamala Harris offen – und recht offensiv – den ‚Anti-Macron‘. Für die lautesten westlichen Reaktionen auf Macrons Aussage zum Thema Taiwan sorgten im Übrigen neben den amerikanischen vor allem polnische Pressestimmen. Dies sagt jedoch noch nichts darüber aus, ob und inwiefern Polens proamerikanischer Kurs innerhalb der EU (geschweige denn in der UNO) mehrheitsfähig sein kann. Denn auch Deutschland zum Beispiel sieht bei allen transatlantischen Beteuerungen von Bundeskanzler Olaf Scholz eine mögliche Eskalierung der Spannungen in der Formosastraße als Bedrohung seiner insbesondere wirtschaftlichen Interessen in Asien.

Frankreich verfolgt seinerseits darüber hinaus auch eigene Ziele im Pazifik, und ist bemüht, seine Einflüsse in und um seine Überseegebiete zu behalten und zu sichern. Französische strategische Interessen sieht man in Paris durch amerikanische Vorstöße mitunter gefährdet. Das zeigte etwa im September 2021 die Ankündigung einer verstärkten angelsächsischen militärischen Kooperation im Rahmen der AUKUS-Allianz zwischen Australien, dem Vereinigten Königreich und den USA, die für Frankreich nahezu wie ein Blitz aus heiterem Himmel einschlug und den Hoffnungen auf die Realisierung französisch-australischer Abmachungen in Hinblick auf die Lieferung von U-Booten an Australien in die Quere kam.

Wenn Frankreich seine europapolitischen Ziele in Hinblick auf mehr europäische außen-, verteidigungs- und sicherheitspolitische Selbstständigkeit im Verhältnis zu den USA realisieren möchte, muss es imstande sein, konkrete Angebote darzulegen, die auch dem spezifischen, historisch motivierten Sicherheitsbedürfnis ostmitteleuropäischer EU-Partner genügen. Selbst seine fern von Europa bestehenden Interessen im indopazifischen Raum hängen im Endeffekt teilweise davon ab, ob Paris es schafft, seine zur Zeit misstrauischsten Partner in der EU dazu zu bringen, auf die Vision einer westorientierten, doch autonomen, integrierten Sicherheitspolitik und -architektur für Europa einzugehen.

 

 

 

Pierre-Frédéric Weber

Pierre-Frédéric Weber

Dr. habil. Pierre-Frédéric Weber ist Historiker und Politikwissenschaftler und lehrt als Dozent an der Universität zu Szczecin (Polen). In seinem jüngsten Buch befasst er sich mit dem Phänomen der Angst vor Deutschland in Europa seit 1945 ("Timor Teutonorum", Schöningh, Paderborn 2015).

Ein Gedanke zu „Zwischen Adler und Drachen. Zu Frankreichs Fernostpolitik“

  1. Merci beaucoup / Dziekuje bardzo
    für diesen Beitrag, den ich mit Interesse gelesen habe. Er gibt einmal mehr Einblick in die Interessen Frankreichs, hier: in Vertretung von Emmanuel Macron.
    Mit seinen Vorstellungen, die ich durchaus bemerkenswert finde, ist er schon geraume Zeit aufgefallen.
    Eine Expertise wage ich jedoch mangels Wissen nicht.
    Mit einer “Zeitenwende”, wovon gegenwärtig oft die Rede ist, dürfte das Ganze aber auch zu tun haben.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Symbol News-Alert

Bleiben Sie informiert!

Mit dem kostenlosen Bestellen unseres Newsletters willigen Sie in unsere Datenschutzerklärung ein. Sie können sich jederzeit austragen.