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Beim Schreiben fühle ich mich zuhause

Natalia Prüfer im Gespräch mit dem deutsch-polnischen Schriftsteller Przemek Zybowski

Natalia Prüfer: Dein Roman „Das pinke Hochzeitsbuch“ [München: Luchterhand, 2022] erzählt von einem achtjährigen Jungen, den die Eltern bei der Großmutter lassen, während sie mit seiner jüngeren Schwester 1984 in die Bundesrepublik ausreisen. Erst nach einem Jahr reist er den Eltern nach. In Interviews sagst du immer wieder, du selbst seist dieser Junge, und obwohl du dich an vieles aus dieser Zeit nicht erinnern könnest, identifizierst du dich mit dem Helden deines Romans, und das Schreiben sei für dich eine Art von Selbsttherapie gewesen. Deinem Studium nach bist du klinischer Psychiater, du arbeitest in der Schweiz in deinem Beruf. Ich frage dich als Arzt und Patienten, ob dir die Therapie geholfen hat. Geht es dir jetzt besser?

Przemek Zybowski: Als ich mit dem Schreiben begann, dachte ich an keine Therapie. Ich tat es, weil ich das Schreiben liebe und Schriftsteller werden wollte. Das Thema ist nicht einfach, doch ist daraus kein trauriges Buch geworden. Ich begann mit dem Schreiben vor mehr als zehn Jahren, danach wurde ich Arzt. Erst jetzt denke ich, dass das Schreiben eine Art von Autotherapie gewesen sein mag. Mit Hilfe des Schreibens habe ich mich selbst und meine Geschichte besser kennengelernt und mir bewusst gemacht, dass für mich wichtig war, was einmal passiert ist. Ich dachte daran, wie die Eltern ihre Entscheidung trafen und nach Deutschland ausreisten. Aber was hat das wirklich für sie und für mich bedeutet? Je länger ich darüber nachdachte, desto schwerer fiel mir die Antwort. Was empfanden die Eltern, als sie Polen verließen? Schließlich war das ein sehr katholisches Land, deshalb begann der Achtjährige zu fragen: Gibt es Gott? Und wenn ja, wieso hat er dann zugelassen, dass die Eltern geflohen sind? Diese Zeit war für den Jungen ein Erdbeben. Und das ist mir erst im Laufe des Schreibens klargeworden. Ich habe viel über mich gelernt, und das hat mir geholfen.

Die Frage nach der Existenz Gottes, oder nach dem Schuldgefühl des Jungen – da die Eltern ihn zurückgelassen haben, muss er doch sicher etwas Böses getan haben? – hast du dir diese Frage schon als Kind gestellt?

Von der Zeit, die ich ohne Eltern in Polen verbrachte, habe ich nichts in Erinnerung. Als ich das Buch schrieb, versuchte ich, mich in den Jungen hineinzuversetzen, also das sind sozusagen seine Fragen. Heute frage ich nicht mehr, ob es Gott gibt.

Haben deine Eltern das „Pinke Hochzeitsbuch“ gelesen, und hast du mit ihnen darüber gesprochen?

Unlängst hatte ich eine Buchlesung in Karlsruhe, wo meine Eltern nach ihrer Ausreise aus Polen wohnten und wo ich dann auch meine Jugend verbrachte. Ich fuhr erstmals nach vielen Jahren wieder hin. Ich dachte mir, es führt kein Weg daran vorbei, die Eltern anzurufen, was ich dann auch tat. Meine Mutter sagte, sie habe das Buch noch nicht gelesen und warte auf die polnische Ausgabe. Mein Vater hatte das „Pinke Hochzeitsbuch“ gekauft, vielleicht hat er es auch gelesen, ich weiß es nicht. Die Eltern haben sich nie für meine Arbeit als Schriftsteller interessiert, sind nie ins Theater gegangen, wenn eins meiner Stücke aufgeführt wurde. Einmal schenkte ich ihnen ein Exemplar meines Stücks „Hosianna“, das meiner Meinung noch ein sehr polnisches Werk ist. Wir haben nie darüber gesprochen, also ich weiß nicht.

Vielleicht haben sie Angst, das zu lesen und darüber zu sprechen, vielleicht wissen sie, dass sie das verletzen könnte?

Vielleicht, ich weiß es nicht [lange Pause]. Das ist ein ganz schwieriges Thema, ich denke schon so lange darüber nach… Ich verstehe meine Eltern nicht. Ich glaube, das hat schon viel mit Schmerz zu tun, aber nicht nur mit der schmerzvollen Beziehung zwischen ihnen und mir, sondern auch mit dem Schmerz, der von Polen ausgelöst wurde, von ihrer Ausreise und von dem, was während des Krieges in meiner Heimatstadt Radomsko passierte und von dem, was sie als Emigranten in Deutschland durchmachten. Das verstehe ich. Sie wollten in den achtziger Jahren nicht in Polen leben, das war ein schwarzes Loch ohne Aussicht auf Besserung. Sie hatten die Chance zu entkommen, selbst wenn ohne ihren Sohn, also haben sie die Chance genutzt, bis zu diesem Punkt verstehe ich alles. Eigentlich ist ja alles gut ausgegangen, schließlich konnte ich ihnen nachreisen. Aber dieses Schweigen nach diesem traumatischen Erlebnis ist bei ihnen zurückgeblieben. Erst beim Schreiben des Romans habe ich mir bewusst gemacht, dass sie auch eine Flucht aus dem Schtetl ergriffen haben, von dem, was im Zweiten Weltkrieg in Radomsko geschehen war, aus dem ich stamme, und worüber bei uns niemals gesprochen wurde.

Wichtig war für mich auch die Ausstellung im Polnischen Pavillon auf der Biennale 2011 in Venedig, die aus Installationen und Filmen von Yael Bartana bestand, der ersten nichtpolnischen Künstlerin, die Polen auf der Biennale vertrat. Ich unterhielt mich mit ihr während der Arbeit an meinem Theaterstück „Posen in Angst“. Ihre Filme erzählen von der Shoah, von Polen, und machten auf mich einen großen Eindruck. Es war eine Trilogie. In dem Film „Mary Koszmary [M. Alpträume]“ gab es eine Szene, in der ein von Sławomir Sierakowski gespielter linker Aktivist eine Rede in einem leeren Fußballstadion in Warschau hält und die Juden zur Rückkehr nach Polen aufruft. Das hat mich ungeheuer berührt. Ganz wie die Lektüre von Timothy Snyders Buch „Schwarze Erde“ [Black Earth. The Holocaust as History and Warning, London: The Bodley Head, 2015; dt. Ausgabe: Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann, München: Beck, 2015]. Das brachte mich auf den Gedanken, dass ich in Deutschland diese Geschichte nie auf diese Art erzählt gehört habe und so, wie ich sie in mir trage.

Du trugst in dir nicht diesen deutschen Blick auf die Shoah und auf den Zweiten Weltkrieg. Alle historischen Ereignisse sind aus der Sicht verschiedener Länder unterschiedlich.

Genau, es gibt verschiedene Narrative und Perspektiven. Heute sehen wir das, wenn wir den Krieg in der Ukraine beobachten. Um auf meine Eltern zurückzukommen, ich glaube, sie haben mir so eine Aufgabe gestellt. Sicher sind sie auf ihre Art stolz auf mich, neugierig darauf, was ich mache, aber sie verstehen nicht, dass wir über das alles, was zwischen uns vorgefallen ist, sprechen sollten, dass wir um Verzeihung bitten sollten, sagen sollten: „hör mal, du hast das damals großartig gemacht“. Jetzt ist es sicher zu spät, und so ein Gespräch ist nie zustande gekommen.

Und als ihr nach langer Trennung wieder zusammen wart, lebtet ihr, als wäre nie etwas passiert?

Genau.

Habt ihr zuhause polnisch gesprochen?

Die Eltern wollten so schnell wie möglich Deutsch lernen, sich integrieren, in ihrem Beruf arbeiten. Ich weiß, sie waren nicht die einzigen, die das machten. Wir hatten kein Geld. Wir verhungerten nicht und bekamen Sozialhilfe oder auch Karten für das Schwimmbad, aber Papa lernte tagsüber und fuhr in der Nacht Gemüse auf den Markt aus. Mama hatte in Polen als Apothekerin gearbeitet, aber in Deutschland bekam sie keine Erlaubnis, in ihrem Beruf zu arbeiten und konnte in der Apotheke nur Hilfsarbeiten machen. Dafür bekam sie nicht viel bezahlt und verdiente in einem Restaurant dazu. Sie stand um vier in der Frühe auf, ging zur Arbeit, kam zurück, machte uns Frühstück und schickte uns zur Schule. Erst abends kamen wir alle zusammen, wenn jeder schon müde war. Viele Migranten haben wohl so gelebt.

Als die politische Wende kam, wollten die Eltern da nicht nach Polen zurück?

Wir fuhren damals nach Polen. Anscheinend waren die Eltern nicht nur vor dem politischen System geflohen, sondern auch vor ihren Familien. Doch die Beziehungen in den Familien waren schlecht, und ich glaube, die deutsche Besatzung hatte das noch verschlimmert, so dass eigentlich niemand da war, zu dem wir hätten zurückkehren können.

Wie ist das zu verstehen?

Meine Großmutter war in Frankreich als Tochter eines polnischen Emigranten geboren. Ihre Eltern gingen mit ihr 1936 nach Polen zurück, als sie sechs Jahre alt war; sie sprach schlecht polnisch, nur französisch. Das hat in ihr für immer Spuren hinterlassen. Nach Radomsko, wo sie wohnte, kam der Krieg schon Anfang September 1939, dort entstand eines der ersten Ghettos für die jüdische Bevölkerung. Die Großmutter machte den Krieg und die Shoah durch. Sie litt an Epilepsie, in der Schwangerschaft konnte sie keine Medikamente nehmen, ihr Mann hat sie dann wegen der Anfälle verlassen. Die Krankheit hatte schlimme Folgen für ihr Leben, sie hatte Angst, aus dem Haus zu gehen. Heute ist die Großmutter 93 Jahre alt, seit einigen Jahren lebt sie im Seniorenheim. Sie hat ein schlechtes Gedächtnis, erinnert sich nicht, dass sie eine Tochter hat. Wenn ich sie anrufe, erinnere ich mich nach wenigen Minuten daran, wer ich bin, die Erinnerungen kommen zurück. Wir haben immer noch ein enges Verhältnis. Mir fällt alles wieder ein, wenn ich nur mit ihr spreche. Meine Verbindung zu ihr ist sehr stark, ich weiß nicht, was sein wird, wenn sie nicht mehr lebt.

„Das pinke Hochzeitsbuch“ ist auch ein Roman über die Großmutter und darüber, wie die Verbindung zwischen ihr und dem achtjährigen Enkel entstand, als dieser allein bei ihr zurückgeblieben war. Die Tochter war nach Deutschland ausgereist, in ein Land, das sie so sehr hasste. Die Großmutter konnte die deutsche Sprache nicht leiden.

Ich weiß, dieses Buch konnte nicht auf Polnisch geschrieben werden, davon handelt die Erzählung auch. Meine Großmutter konnte nicht verstehen, wieso ihre Tochter ausgerechnet nach Deutschland ausreiste. Radomsko, der Ort, an dem sie wohnten, war während des Kriegs ein jüdisches Städtchen und hörte fast zu bestehen auf. Die Großmutter erlebte viele Dinge, von denen sie nie sprechen mochte. Ich aber war stolz, als ich erfuhr, dass die Eltern in Deutschland waren, weil ich den anderen erzählen konnte, Mama und Papa lebten im Westen. Dieser Junge, also ich, er wartete. Er wartete darauf, dass die Eltern ihn holen würden. Die Großmutter aber sprach ständig davon, wie schlimm die Deutschen seien. Die Mutter und die Großmutter lebten in völlig anderen Welten. Man kann sagen, ich habe das Buch für die Großmutter geschrieben, ich habe ihre Welt dort beschrieben. Aber das war auch meine Welt.

Du stehst der Großmutter immer noch sehr nah. Verbindest du sie mit Polen und deiner Kindheit?

Als ich noch ganz jung war, habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Ich studierte in Heidelberg, dann ging ich nach Amerika und spürte zum ersten Mal die Sehnsucht nach der polnischen Kultur und Sprache. Das war merkwürdig, denn zuhause sprach ich mit den Eltern doch deutsch. Doch meinem Gefühl nach konnte ich nicht auf Deutsch schreiben, ich fühlte mich fremd in der Sprache, sie passte nicht zu mir. Noch dazu konnte ich mit der medizinischen Sprache, mit der ich im Studium ständig zu tun hatte, überhaupt nichts anfangen. Ich verstand zwar alles, aber ich kam mir vor wie ein Stummer, wie jemand mit einer Behinderung, was sich vor allem im Umgang mit anderen bemerkbar machte. Irgendwas stimmte nicht.

Was macht ein Medizinstudent, wenn ihn das Heimweh packt? Er kehrt nach Hause zurück? Er wirft das Studium hin?

Ich steckte in einer Krise. Die Eltern hatten schon Angst, ich würde das Studium nicht beenden, daher waren sie nicht davon angetan, dass ich schrieb und im Theater arbeitete. Damals dachte ich nicht, Schriftsteller zu werden, aber ich begann, Philosophie zu studieren. Die Eltern interessierten sich nicht für Kunst, ihnen machte das Angst.

Also zuerst war da die Medizin, erst dann kamen das Theater und die Literatur?

Ja. Ich kam mir dumm vor, soviel kann ich ganz bestimmt sagen. Ich konnte kein Gespräch mit Leuten führen, etwas blockierte mich. Ich konnte nicht von mir erzählen, woher ich kam, wer ich überhaupt war. Erst beim Schreiben begann ich, meine Sprache zu finden. Ich schreibe auf Deutsch, aber diese Sprache trägt meine besonderen Züge. Ich fühle mich wie jemand, dem die Chance zu schreiben gegeben wurde. Das hilft mir. Beim Schreiben fühle ich mich zuhause.

Es gibt viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die nicht aus Deutschland stammen und auf Deutsch schreiben, obwohl die Sprache von ihrer Herkunft und Geschichte gefärbt ist, zum Beispiel Nino Haratischwili, Saša Stanišić und Katja Petrowskaja. Die deutschen Leserinnen und Leser sehen darin einen ungeheuren Vorzug. Und was sind deine Erinnerungen an die Schule in Deutschland?

Die sind gemischt. Ich erinnere mich, dass uns der Lehrer im Karlsruher Gymnasium einmal die Aufgabe gab, eine Ausstellung über unsere Vorfahren zu machen. Jeder sollte erzählen, was seine Großeltern im Jahr 1935 taten, als die Nürnberger Rassengesetze eingeführt wurden. Alle suchten Informationen, gingen in die Bibliothek, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte. Der Lehrer beruhigte mich, er sagte, alles sei in Ordnung. Meine Mitschülerinnen und Mitschüler erzählten ihre Geschichten, und ich, der Junge aus Polen, klebte sie an die Tafel. Das war meine einzige Aufgabe.

Wie kamst du dir dabei vor?

Ich freute mich ein bisschen. Ich hatte nichts zu machen, die anderen erzählten von ihren schwierigen Familiengeschichten, und ich nichts. Komisch, dass mir der Lehrer damals keine Fragen stellte. Ich denke, das war sowas Deutsches. Er wollte nicht mit den Polen um die Täterschaft konkurrieren. Vielleicht fürchtete er, ich würde ihm erzählen, dass nicht nur die Deutschen, sondern auch die Polen die Juden hassen konnten. Bei dieser Aufgabe war die deutsche Sicht auf die Geschichte wichtig, genauer gesagt das Geschichtsbild, wie es durch die rosarote Brille des Westens gesehen wird. Natürlich war von Auschwitz und anderen Vernichtungslagern die Rede, aber niemanden interessierten die Jahre des Naziterrors in Polen. Ich fürchte, das hat sich nicht geändert. Es gibt keine übernationale Sichtweise dieser historischen Ereignisse.

Lass uns für einen Augenblick nochmal auf die Emigration aus Polen und die Anfänge in Deutschland zurückkommen. Du, Emilia Smechowski, Matthias Nawrat, ihr seid Kinder polnischer Emigranten, die zuerst in Polen, dann in Deutschland aufwuchsen und Romane in deutscher Sprache schreiben, oft über die eigenen Erfahrungen und die Familiengeschichten. Seid ihr miteinander bekannt?

Leider noch nicht.

Ihr habt vieles miteinander gemeinsam, nicht nur literarisch. Emilia Smechowski hat in ihrem Buch „Wir Strebermigranten“ [Berlin: Hanser, 2017] keine guten Erinnerungen an die ersten Jahre in Deutschland, und du?

Das war für die ganze Familie eine etwas traurige Zeit. Wir lebten mit dem Druck, so schnell wie möglich Deutsch zu lernen, die Mutter war darin besonders streng.

Du fuhrst damals nicht nach Polen und hattest auch keine polnischen Freunde, nicht wahr?

Nein. Die Eltern wollten absolut nichts mit Polen zu tun haben. Ich denke daran, um die Zeit zu beschreiben, die ich in Karlsruhe verbrachte. Ich begriff dort, dass ich unter Beobachtung stand, aber in Polen hatte ich das nicht gespürt. In Deutschland hatte ich plötzlich ein Publikum, es gab Leute, die mich ganz genau beobachteten und bewerteten. Ich erzähle dir mal von einem Erlebnis. Ich hatte gerade erst angefangen, in Deutschland zur Schule zu gehen, vielleicht seit zwei, drei Monaten. Ich gucke, was an der Tafel steht, übersetze es und schreibe es auf, aber auf Polnisch. Kommt die Lehrerin zu mir, schaut ins Heft und sagt nicht in scharfem Tonfall, aber eben doch: „Was ist das? Schreibe auf Deutsch.“ Wieso erzähle ich davon? Dieses Erlebnis machte mir bewusst, dass die polnische Sprache für mich etwas Natürliches und Warmes ist. Ich musste mir aus einer anderen Welt in die meine übersetzen. Heute kann ich nicht gut polnisch schreiben. Ich habe es einmal ausprobiert.

Assoziierst du die Sprache mit deiner Kindheit?

Ja. Ich kann auch keine Gedichte auf Deutsch lesen, sie müssen in polnischer Sprache sein. Gemeinsam mit Dagmara Krause habe ich einmal Miron Białoszewskis Gedichte übersetzt. Das gefiel mir sehr. Białoszewski lebte eine Zeitlang in den Vereinigten Staaten, kehrte aber nach Polen zurück, weil er sich dort besser fühlte. Ich stelle mir vor, er fühlte sich in Polen zuhause, seine Dichtung war die seine in Polen.

Du schreibst Theaterstücke, das „Pinke Hochzeitsbuch“ ist zwar dein erster Roman, aber schon seit langer Zeit ist die Emigration dein Hauptmotiv. Du kommst immer wieder auf diese Zeit zu sprechen, erzählst gern davon. Wird sich das Thema deinem Eindruck nach einmal für dich erschöpfen, oder wirst du im Gegenteil immer weiter über diese Zeit schreiben, über die Emotionen, die sie begleiteten?

Ich werde weiter davon schreiben. Ich möchte sehr gern ein Buch über das Leben in Karlsruhe schreiben, also über meine ersten Jahre in Deutschland. Wie sie mich formten, welchen Menschen sie aus mir machten. Natürlich wird der historische, politische und deutsch-polnische Kontext sehr wichtig sein. Außerdem interessiert mich besonders das Thema Shoah und die polnisch-jüdischen Beziehungen. Ich glaube, in Polen war ich ein normaler Junge, wäre ich dort geblieben, hätte ich nicht mit dem Schreiben angefangen noch mich für Kunst interessiert, denn dort empfand ich kein Bedürfnis dafür. Ich las nicht viele Bücher, die Eltern nahmen mich nicht ins Theater mit. Erst die Ausreise nach Deutschland brachte mich zum Schreiben.

Du bist, wer du bist, weil die als kleiner Junge allein mit der Großmutter zurückbliebst, und dann reistest du aus und kamst nicht mehr zurück. Hast du nie daran gedacht, nach Polen zurückzukehren und dort zu arbeiten?

Gegen Ende des Studiums kam mir der Gedanke, aber ich hatte meine spätere Frau kennengelernt, ich fühlte mich wohl in Berlin. Ich verfolge, was in Polen vor sich geht, aber eher aus der Distanz. Es ist zu viel Zeit vergangen. Wir verbringen die Ferien in Polen oder in Frankreich, meine Frau ist Französin. Es war sehr wichtig für mich, dass meine Kinder polnisch sprechen.

Wieso?

Das war mir so wichtig, dass ich auf diese Frage nichtmals eine Antwort weiß. Das war mir von Anfang an klar. Ich musste später ein bisschen lockerlassen, denn ich wollte sie nicht zwingen, aber das war wichtig für ihre Identität. Damit sie wissen, woher sie kommen. Egal, ob sie später die Sprache auch sprechen oder nicht.

In unserem Gespräch haben wir uns auf das Motiv der Emigration konzentriert und auf die deutsch-polnischen Aspekte im „Pinken Hochzeitsbuch“. Aber die Autorenlesungen, zu denen du eingeladen bist, finden vor allem in Deutschland und der Schweiz statt. Was interessiert die Leserinnen und Leser in diesen Ländern ganz besonders?

Für sie ist die Emigration kein besonders wichtiges Motiv. Mein Verleger hat sich auch nicht sonderlich dafür interessiert. Für ihn war der Erzähler selbst wichtiger, wer er wirklich ist, wieso er so unsicher ist. In Deutschland wird besonders auf das Verhältnis zwischen der Hauptfigur und seinen Eltern geachtet. Ich werde zu Podcasts über Kindererziehung eingeladen, was mich nicht interessiert, denn ich will kein Elternratgeber sein. Die deutschen Leser fragen mich, wieso ich meinen Eltern nicht vergeben habe, wieso ich mich nicht mit ihnen aussöhnen kann. Ich habe nie gesagt, dass ich mich nicht aussöhnen kann.

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann


Przemek Zybowski. Autor. 27.06.22 © Jens Oellermann

Przemek Zybowski ist 1976 in Lodz geboren, seit 1985 wohnt er in Deutschland. Er studierte in Heidelberg und Berlin Medizin und arbeitet als Psychiater. Er verfasste die Theaterstücke „Rome“, „Martha“, „Hosianna“, „Die lange Rückkehr in den Westen“ und „Posen in Angst“. Er gewann den österreichischen Literaturpreis Floriana 2012. Er lebt und arbeitet in Zürich und ist häufig in Berlin. „Das pinke Hochzeitsbuch“ ist sein Debütroman.

 

 

 


Natalia Staszczak-Prüfer ist Theaterwissenschaftlerin, freiberufliche Journalistin und Übersetzerin.

Gespräch

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