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105 Jahre Belarusische Volksrepublik

Der 25. März ist ein besonderer Tag für die Belarusen. Allerdings mit der Einschränkung – nicht für alle. Oder noch genauer, bis unlängst nur für wenige. Am 25. März 1918 wurde die Belarusische Volksrepublik (BVR) ausgerufen. Wieso ist das ein besonderes Datum, und wieso nur für einen Teil der belarusischen Gesellschaft?

Das Ende des Ersten Weltkriegs brachte Europa ungeheure Veränderungen. Die Epoche der alten Monarchien und der auf dem Konzert der Mächte beruhenden Ordnungen war beendet. Für viele Nationen Westeuropas oder allgemeiner der westlichen Welt war der Große Krieg ein Konflikt gewesen, der Millionen von Opfern gekostet hatte und aus Sicht des Manns von der Straße eine völlig sinnlose Auseinandersetzung zwischen den Imperien gewesen war. Der 11. November, an dem in Compiègne der Waffenstillstand zwischen Deutschland und den Ententemächten geschlossen wurde, mit dem der Krieg faktisch beendet war, ist dem Andenken an diesen Krieg gewidmet und wird je nach Land Gedächtnistag oder Waffenstillstandstag genannt. Es ist ein Tag des Nachsinnens über die Fragilität des Lebens, wie es in den Schützengräben vernichtet wurde. Doch in den Ländern Ostmitteleuropas verbindet sich das Jahr 1918 mit einem ganz anderen Bündel an Assoziationen. An erster Stelle steht der Niedergang der großen Imperien, der österreichisch-ungarischen Monarchie und des zarischen Russland. Er ermöglichte vielen Nationen die Rückgewinnung oder Herstellung eines souveränen Staats. Doch nicht allen gelang es, ihren Staat auch zu behalten. Zu diesen Geschichten des Jahres 1918 zählt Belarus.

Die Oktoberrevolution und der Bürgerkrieg in Russland beschleunigten den Rückzug der russländischen Truppen von der Ostfront. Der Kampf der Weißen (der zaristischen Truppen) gegen die Roten (die Bolschewiki) half vielen Einwohnern der Region dabei, aus dem „Gefängnis der Nationen“, wie Lenin das zarische Russland bei Gelegenheit nannte, in die Unabhängigkeit zu entkommen. Noch 1917 verkündeten die Finnen ihre Unabhängigkeit. Kurz darauf folgten Litauer, Letten, Esten, Polen, aber auch Aserbaidschaner, Georgier, Armenier, Ukrainer und Belarusen. Im Falle der letzteren war wichtig, dass es in der Geschichte zuvor noch nie einen gesonderten belarusischen Staat gegeben hatte.

Diese Feststellung soll natürlich nicht heißen, dass es keine belarusische Nation gegeben habe. Das für die umfassende Ausbildung nationaler Identitäten wichtige 19. Jahrhundert ermöglichte auch bei den Belarusen die Kristallisation ihres nationalen Bewusstseins. Eine Vorstellung von einem gesonderten Belarusentum entwickelte sich während des polnischen Januaraufstands von 1863. Konstanty Kalinowski, in Belarus bekannt als Kastuś Kalinoŭski, ist bis heute ein wichtiger Protagonist im Pantheon der belarusischen Nationalhelden. In den folgenden Jahrzehnten verbreitete sich der Gebrauch der belarusischen Sprache in Alltag, Presse, Literatur, Gesellschaft und Politik. Als am 3. März 1918 Lew Trozkij namens Sowjetrusslands in Brest-Litowsk (wohlgemerkt, einer belarusischen Stadt) den Friedensvertrag mit den Mittelmächten unterschrieb, waren infolgedessen die führenden Schichten der belarusischen Nation bereit für den Kampf um die Unabhängigkeit. Infolge des Friedens von Brest-Litowsk befanden sich die belarusischen Gebiete unter deutscher Kontrolle.

Als die Regierung, genannt die Rada (Rat), der Belarusischen Volksrepublik am 25. März 1918 die Unabhängigkeit proklamierte, zählte sie auf die Anerkennung durch das Deutsche Reich und dessen Unterstützung gegen die von Russland ausgehenden Gefahren, gleich ob sie von den Weißen oder den Roten drohten. Doch das kurz vor dem eigenen Fall stehende Deutsche Kaiserreich war ganz mit dem Halten der Westfront beschäftigt, wollte nicht den Bruch des eben erst unterzeichneten Friedens riskieren und weigerte sich, die Republik anzuerkennen. Damit begann für die BVR ein Kampf ums Überleben. Da sie über keine eigenen Streitkräfte verfügte und es für den Moment auch keine konkrete militärische Bedrohung gab (wir erinnern uns: die belarusischen Gebiete befanden sich unter deutscher Kontrolle), sondierte das höchste Exekutivorgan des neugegründeten Staats, das Volkssekretariat von Belarus unter Leitung von Jasep Waronka, auf diplomatischem Wege, ob nicht doch Verbündete zu finden seien. Es gelang dem Sekretariat, bei den Deutschen zumindest eine stillschweigende Akzeptanz zu finden. Obwohl Deutschland die BVR offiziell noch immer nicht anerkannte, duldeten es die Aktivitäten des Volkssekretariats und überließen ihm eine Reihe staatlicher Zuständigkeiten, so etwa auf den Gebieten Bildung und Kultur.

In den folgenden Monaten versuchten die neugebildeten belarusischen Regierungsorgane, rudimentäre Strukturen eines Staates zu entwickeln, doch nach dem genannten Waffenstillstand von Compiègne am 11. November erfolgte der schrittweise Abzug der deutschen Truppen und Verwaltung. Nach nicht ganz einem Monat, am 10. Dezember 1918, zogen die Bolschewiki in Minsk ein. Die Regierung der BVR wurde nach Hrodna (Grodno) evakuiert, das sich noch unter deutscher Kontrolle befand. Mit Neujahr 1919 bestand nur noch ein belarusischer Zwergstaat im Gebiet dieser Stadt. Weil gleichzeitig von Osten die Sowjets und von Westen die Polen heranrückten, stand die belarusische Exekutive in den Folgemonaten vor der Aussicht, auch noch dieses Restterritorium zu verlieren, und verlegte sich nach Kaunas, das von den Litauern kontrolliert wurde. Die Deutschen zogen sich im Frühjahr 1919 endgültig zurück, und die belarusischen Gebiete wurden zum Schauplatz im Krieg zwischen Polen und den Bolschewiki. Die Belarusen bemühten sich um eine Vereinbarung mit den Polen, die ihnen den Erhalt des eigenen Staates ermöglicht hätte. Als die Polen Ende April 1919 Hrodna eingenommen hatten, paradierten belarusische und polnische Einheiten daher am polnischen Verfassungs‑ und Nationalfeiertag, dem 3. Mai, gemeinsam. Ganz wie im Falle der Ukrainer, mussten die Belarusen jedoch ihre Hoffnungen endgültig begraben, als Józef Piłsudski sich am 18. März 1921 auf den Rigaer Frieden mit Sowjetrussland einließ und das belarusische Gebiet zwischen Polen und Russland aufgeteilt wurde.

Vorher noch hatte in den stürmischen Jahren 1918/19 die Regierung der BVR unter Leitung von Ministerpräsident und Außenminister Anton Luzkewitsch weitere Anstrengungen unternommen, international anerkannt zu werden und Unterstützung für ein unabhängiges Belarus zu gewinnen. Den größten Erfolg hatte sie damit bei Nationen, die gleichfalls ihre Unabhängigkeit vom Russländischen Reich erlangt hatten. Finnland war jedoch der einzige Staat, der die BVR förmlich anerkannte. 1919 wurden Gespräche mit Litauen, Lettland, der Ukraine und Polen geführt. 1920 gelang es sogar, ein belarusisches Konsulat in der Freien Stadt Danzig zu eröffnen. In dem verwirrenden Mosaik, dass die jungen ostmitteleuropäischen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg bildeten, bestanden für die zwischenstaatlichen Beziehungen jedoch ebenso viele Schwierigkeiten wie Chancen. Wechselseitige Anerkennung und Unterstützung gewährleisteten Sicherheit gegen die größeren Nachbarn, so insbesondere gegen Russland, wo die Siegesschale sich mehr und mehr den Bolschewiki zuneigte. Andererseits aber konkurrierten die jungen Staaten insbesondere um Gebiete gegeneinander. Die komplexen, historisch und kulturell gewachsenen Verhältnisse führten dazu, dass mehrere Nationen Ansprüche auf dasselbe Territorium erhoben. Das galt auch für die Belarusen. Da es keine klaren Grenzvereinbarungen gab, wurde es schwierig, vollwertige diplomatische Beziehungen mit irgendeinem Nachbarland aufzunehmen. Im komplexen Palimpsest des damaligen Ostmitteleuropa wurden die meisten Streitfragen leider allein mittels bewaffneter Auseinandersetzung entschieden. Das konnte sich der belarusische Staat jedoch nicht leisten. So blieb nur die Zusammenarbeit mit den Nachbarn in der Hoffnung, dass sich irgendwann erneut die Chance bieten würde, die Unabhängigkeit wiederzuerlangen. In den Folgejahren verlegte sich die Rada der BVR von Kaunas nach Paris, nach dem Zweiten Weltkrieg emigrierte sie schließlich nach Kanada, wo sie bis heute ihren Sitz hat. Sie gilt als älteste kontinuierlich bestehende Exilregierung.

Obwohl es formell immer noch eine Regierung der Belarusischen Volksrepublik gibt, lebt diese doch eigentlich nur noch in der historischen Erinnerung. Darunter fällt insbesondere die Staatssymbolik. Zum Zeitpunkt der Ausrufung der Unabhängigkeit wählte die belarusische Regierung die Pahonja als Staatswappen, das Wappen des Großfürstentums Litauen. Diese Entscheidung befand sich im Einklang mit der Interpretation historischer Kontinuität in Sinne der belarusischen Nation. Denn die Rückbeziehung auf das Großfürstentum gehört bis heute zu den Grundlagen von belarusischer kollektiver Identität und kulturellem Gedächtnis. Auch wenn manchem das sonderbar erscheinen mag, denn schließlich suggeriert der Name, dass es sich um ein litauisches Staatswesen handelte, aber gerade dieser Umstand illustriert bestens, wie kompliziert es sich in Ostmitteleuropa mit den historischen und kulturellen Entwicklungen verhält. Das Großfürstentum Litauen war ein Konglomerat vieler Nationen, nicht nur der Belarusen und Litauer, unter anderem gehörten dazu noch Karaimen, Tataren und Juden. Wenn wir zusätzlich bedenken, dass das Großfürstentum nach der Lubliner Union von 1569 gemeinsam mit Polen Bestandteil von Polen-Litauen (Adelsrepublik) war, so haben wir es mit einer ausgesprochen heterogenen Mischung verschiedener Ethnien, Kulturen, Nationalitäten und Religionen zu tun. So nimmt es nicht weiter wunder, dass die Belarusen genau darin die Grundlagen ihrer Identität wiederfinden. Auch wenn die Gebiete des Großfürstentums Litauen sich großteils mit dem Territorium des modernen Belarus decken, war die Herrschaftssprache des Fürstentums Ruthenisch [d.h. eine Vorläuferform des modernen Belarusischen und Ukrainischen; A.d.Ü.].

Ein weiteres wichtiges Symbol der BVR war die weiß-rot-weiße Fahne. Es gibt viele Theorien, wie es zu dieser Farbzusammenstellung kam, zu denen auch die Schlacht von Tannenberg 1410 gehört. Jedenfalls bezieht sich die Fahne angeblich auf ein historisches Banner oder auch das genannte Pahonja-Wappen. Wie auch immer, das Symbol blieb bestehen. Nach 1945 übernahm die Belarusische Sowjetrepublik die angrenzenden östlichen Wojewodschaften der Zweiten Republik Polen, womit die sowjetische Kontrolle über die Belarusen besiegelt war. Es folgte die Sowjetisierung von Belarus, während die Symbolik der BVR offiziell verboten war. Die Exilregierung bemühte sich, die alten Traditionen wachzuhalten, und Gorbatschows Perestrojka weckte Mitte der 1980er Jahre Hoffnungen auf Veränderung. Es entstanden politische Bewegungen wie die Belarusische Volksfront, die sich bereits unverhohlen auf Traditionen der Vorkriegszeit beriefen. Als im Dezember 1991 im Gefolge der Belowescher Vereinbarungen die UdSSR zerfiel und ein unabhängiger belarusischer Staat gebildet wurde, übernahm er Fahne und Wappen der alten BVR. Das war vor allem dadurch motiviert, dass am 25. März 1918 der historisch erste souveräne belarusische Staat gebildet worden war. Doch die Freude hielt nicht lange an, denn schon drei Jahre darauf kam Aljaksandr Lukaschenka an die Macht, der Reformen durchdrückte, mit denen die alte sowjetische Symbolik zurückkehrte und diejenige der BVR wiederum in den Untergrund gedrängt wurde. Die frühen 1990er Jahre waren so dynamisch, dass die Rada der BVR nichtmals Zeit hatte, ihr Mandat offiziell der neuen Regierung zu übertragen, wie dies im Falle Polens, der Ukraine und der baltischen Staaten geschah. Ehe man sich versah, stand Belarus erneut unter einer autoritären Herrschaft. Daher fungiert die Rada der BVR im Unterschied zu ihren Entsprechungen bei den Nachbarländern ununterbrochen bereits mehr als einhundert Jahre im Exil.

Um seine Herrschaft zu konsolidieren, setzte Lukaschenka auf die positiven Gefühle von Teilen der belarusischen Gesellschaft für die UdSSR und deren Nachlassenschaft. Gezielt marginalisierte seine Geschichtspolitik die nationalen Symbole. Im öffentlichen Raum, an Schulen und in der Kultur wurde die belarusische Sprache reduziert, die nationale Literatur eingehegt, ebenso die Geschichte der BVR, deren Fahne und Wappen. Diese wurden zu Symbolen und zur Stütze der demokratischen Opposition. Der 25. März wurde zu einem wichtigen Feiertag für nationalbewusste Belarusen, die sich der Macht des Diktators widersetzten. Leider bildeten sie nur eine kleine Minderheit in der Gesellschaft. Für die durch und durch sowjetisierte Mehrheit war das ein ganz gleichgültiges Datum. Es gab zwar Augenblicke, in denen Lukaschenka eine eigentümlich zwischen Russland und dem Westen lavierende Politik betrieb und es gestattete, historische Symbole der BVR öffentlich zu zeigen. So konnte es geschehen, dass einer dieser Augenblicke auf das Jahr 2018 und den 100. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung fiel. In der Hauptstadt Minsk wie in vielen großen und kleinen Städten der Provinz regierten am 25. März die Farben Weiß-Rot-Weiß. Zwei Jahre darauf hatte sich die Lage ins genaue Gegenteil verkehrt. Nachdem einmal mehr die Wahlen gefälscht worden waren, gingen im August 2020 tausende Belarusen auf die Straße. Solche Proteste hatte es in der gesamten dreißigjährigen Geschichte des unabhängigen Belarus noch nicht gegeben. Pahonja und weiß-rot-weiße Fahnen gehörten selbstverständlich wieder zu den wichtigsten Symbolen. Diese „Revolution der Aufgeweckten“ brachte einen gewaltigen Auftrieb des Interesses für Geschichte und Erbe der Belarusischen Volksrepublik mit sich. Diktator Lukaschenka machte sich daran, dieses Erbe aus dem Gedächtnis zu streichen und jeden zu bestrafen, der sich erfrechte, irgendwie darauf Bezug zu nehmen. Die Gerichte des Regimes warfen mit Verurteilungen um sich, selbst noch für das Tragen von rot-weiß-rote Socken. Das Regime erklärte das für politischen Extremismus.

Auf den März diesen Jahres fiel wieder ein Jahrestag der Proklamation der Unabhängigkeit. Aber er war anders als der vor fünf Jahren. Doch heute ist die Symbolik der Belarusischen Volksrepublik bei der auf zehntausende zählenden belarusischen politischen Emigration allgegenwärtig. Sie ist auch allgegenwärtig, freilich völlig unsichtbar, bei einem erheblichen Teil der belarusischen Gesellschaft, die sich dem Diktator entgegenstellt. Sie wird auch von der wirklichen Anführerin der belarusischen Nation, Swjatlana Zichanoŭskaja und ihren Mitarbeitern benutzt. Wenn der Tyrann schließlich fallen wird, wird die Rada der BVR, die älteste Exilregierung, ihr Mandat wohl nach Minsk übertragen können.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Kacper Dziekan

Kacper Dziekan

Historiker und Osteuropaexperte. Im Europäischen Solidarność-Zentrum in Danzig arbeitet er an Bildungs-, Kultur-, Sozial-, Geschichts- und Bürgerprojekten, insbesondere mit Bezug postsowjetischen Ländern und Mittel- und Osteuropa.

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