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Utopie und Wirklichkeit

Utopische Vorstellungen formen politische Konzeptionen heute genauso wie vor einhundert Jahren

 

Der Ukrainekrieg hat den Gesellschaften Westeuropas vor Augen geführt, dass sich die Welt in vielerlei Hinsicht nicht geändert hat. Die europäischen Mittel‑ und Oberschichten, die im Banne der neuen Technologien, hochwertiger öffentlicher Dienstleistungen, des allgemeinen Zugangs zu Bildung und des medizinischen Fortschritts leben, sehen sich konfrontiert mit einem ganz in ihrer Nähe stattfindenden, dem elementarsten aller politischen Phänomene: mit dem Krieg. Mit einem Krieg, wie ihn Westeuropa seit Jahrzehnten nicht erlebt hat, obwohl er für unsere Vorfahren so natürlich war wie der Wechsel der Jahreszeiten. Mit einem Krieg, wie er bis unlängst im Westen nur als Sache entlegener, unentwickelter Regionen gesehen wurde, in denen die Menschen es nicht vermochten, ihre Konflikte auf zivilisierte Weise zu lösen.

Im Jahr 2022 kehrte der Krieg an die Haustür der Europäischen Union zurück, und deren Einwohner bekamen zumindest indirekt seine Folgen zu spüren. Die Geschichte sollte niemals mehr an diesen Punkt gelangen, doch wie sich erwies, war das reines Wunschdenken, verwurzelt in der utopischen Idee, unsere Zeit sei anders als die vergangenen Zeiten: sie sei zivilisierter, brutale Gewalt spiele keine Rolle mehr, und alle Länder würden sich dem Erhalt des Friedens und des Status quo verschreiben. In seinem Buch „The Twenty Years’ Crisis. An Introduction to the Study of International Relations“ (London: Macmillan, 1939) lieferte der britische Historiker und Beamte im Foreign Office, Edward Hallet Carr, die wohl treffendste Analyse dieser Illusion. Dass diese Publikation vor 84 Jahren, am Vorabend des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs erschien, belegt eindringlich, wie wenig sich die internationale Politik in ihrem Wesen seither geändert hat.

Nicht alle haben ein Interesse an der Bewahrung des Friedens

Carr schrieb damals: „Britische und amerikanische Autoren gingen übereinstimmend davon aus, die Erfahrungen der Jahre 1914 bis 1918 hätten über jeden Zweifel erhaben die Sinnlosigkeit des Krieges bewiesen, und wenn nur alle das einzusehen vermöchten, werde der Frieden zwischen den Völkern in Zukunft sicher sein. Es brachte sie zu aufrichtiger Verwunderung und Enttäuschung, dass diese Überzeugung in anderen Ländern nicht geteilt wurde.“

Die Versailler Ordnung sollte die zwischenstaatlichen Verhältnisse demokratisieren und die Konflikte der Länder von den Schlachtfeldern in die Gerichtssäle und Verhandlungszimmer übertragen. Das Selbstbestimmungsrecht sollte die bis dato unterdrückten Nationen befrieden und ihnen den Grund nehmen, gegen ihr Schicksal aufzubegehren. Die Gründung des Völkerbunds sollte den imperialen Bestrebungen der Mächte entgegenwirken und einen erneuten kolonialistischen Wettlauf verhindern, der nach damaliger Meinung nur ihre Gier geweckt und sie in einen Kampf auf Leben und Tod gestürzt hatte.

Zwar sollte der Völkerbund für die Einhaltung der Weltordnung sorgen, doch erhielt er dafür nicht die entsprechenden Mittel, und die größten Mächte ignorierten ihn schlicht. Alle Versuche, Krieg ungesetzlich zu machen, waren ebenfalls zum Scheitern verurteilt, weil es eine rein theoretische Idee war, allen Staaten müsse an der Erhaltung des Friedens gelegen sein, denn dies war in der realen Welt ein Ding der Unmöglichkeit. Zumal zwei europäische Großmächte von der Versailler Ordnung ausgeschlossen waren, die damit stark motiviert waren, deren Bestimmungen in Frage zu stellen und um die Rückgewinnung ihrer im Ersten Weltkrieg verlorenen Gebiete zu kämpfen.

Aus diesen Gründen stellte sich Carr sehr kritisch zur Versailler Ordnung. Er war der Auffassung, deren Autoren hätten zwei Kardinalfehler begangen: Sie hätten den Faktor der Macht in den internationalen Beziehungen ignoriert und angenommen, jeder Staat habe ein Interesse an der Friedenswahrung.

Erstens hielt Carr die staatliche Macht für den wichtigsten Faktor in den internationalen Beziehungen. Diese geben den Ausschlag für das Verhalten der Staaten, weil diesen all das erlaubt sei, was sie innerhalb ihrer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Grenzen ausrichten können. Edle Absichten und wohltätige Ideen könnten sich vielleicht in der Innenpolitik bewähren, doch spielten sie in der wenig regulierten und brutalen internationalen Realität kaum eine Rolle, in der die Staaten oft mit Waffengewalt um Territorien und Einfluss rivalisierten. Diese Bedingungen zu akzeptieren, sah Carr als Kernpunkt des politischen Realismus: „In der Sphäre des Handelns ist der Realismus geneigt, die unabweisbare Macht der bestehenden Kräfte sowie den unwiderruflichen Charakter bestehender Tendenzen zu betonen, in der Annahme, die höchste Klugheit bestehe in der Akzeptanz dieser Kräfte und Tendenzen und der Anpassung an sie.“

Die Tragik der Politik der Zwischenkriegszeit bestand gerade darin, sich nicht an diese Bedingungen anpassen zu können. Die neue politische Klasse, geführt von US-Präsident Woodrow Wilson, lehnte den Faktor der Macht als ultimative, die zwischenstaatlichen Beziehungen regulierende Instanz ab. Carr dagegen glaubte nicht, die bisherige Politik des Gleichgewichts der Kräfte lande auf dem Kehrichthaufen der Geschichte und mache einer ausschließlich friedlichen Streitschlichtung Platz. Er war insbesondere dagegen, aus der Ablehnung des Faktors Macht eine Tugend zu machen. „Der Ausdruck ,Machtpolitik‘ wird häufig tendenziell gebraucht, um zu suggerieren, als sei in der Politik der Gebrauch von Macht oder der Kampf um das Eigene etwas Unnatürliches, das eine in der Politik endemische Krankheit bezeuge und das eliminiert werden könne“, meinte Carr. Er setzte dagegen: „[…] internationale Politik ist immer Machtpolitik, denn aus ihr lässt sich die Macht nicht herauslösen.“

Da es sich einmal so verhalte, sei es der beste Ausgangspunkt, diese unveränderlichen Faktoren zu akzeptieren, um einen einigermaßen stabilen Frieden auf der Grundlage eines Gleichgewichts der Kräfte herzustellen.

Zweitens lehnte Carr die idealistische Behauptung ab, alle Staaten hätten dasselbe Interesse an der Wahrung des Friedens auf der Welt oder in ihrer Region. Dagegen sei klar, dass der Frieden nicht einem jeden Land im gleichen Maße diene, und die Versailler Ordnung habe darüber hinaus dazu geführt, dass Länder wie Deutschland, Russland, Italien und Ungarn nach der Revision ihrer Grenzen strebten.

Carr sah in diesem Revisionismus selbstverständlich nichts Positives, erkannte darin aber auch nichts Unnatürliches. „Die utopische Annahme, es bestehe ein globales Interesse an der Wahrung des Friedens, das mit dem Interesse jeder Nation für sich genommen übereinstimme, gestattete es Politikern und politischen Denkern aus aller Welt, dem bedauerlichen Faktum auszuweichen, dass es einen fundamentalen Interessenunterschied zwischen Ländern gibt, die den Status quo wahren möchten, und denen, die Veränderung wollen.“

Darüber hinaus lehnte der britische Historiker die Behauptung ab, die nach dem Erhalt des Status quo strebenden Staaten seien moralischer als diejenigen, die die Revision der bestehenden Verhältnisse forderten. „Es ist von Grund auf irreführend, die Auseinandersetzungen zwischen satten und hungrigen Staaten so darzustellen, als befinde sich auf der einen Seite die Moral, auf der anderen Seite die schiere Gewalt. In einem solchen Konflikt entscheidet die Machtpolitik im gleichen Maße über das Handeln beider Seiten, unabhängig von moralischen Erwägungen.“ Carr bemerkte, dass die Verteidigung des Status quo genau wie der Angriff auf diesen Gewaltanwendung erfordere, und die angeblich höhere Moralität der „Ersetzung militärischer Instrumente durch ökonomische Mittel […]“ sei „nicht so sehr ein Phänomen höherer Moral, als vielmehr größerer Macht.“

Wenn Veränderungen, dann evolutionär

Was also sei Carr zufolge daraus abzuleiten, dass die größten Staaten niemals identische Interessen haben würden? Da sich der Machtfaktor aus der internationalen Politik nun einmal nicht wegdenken lasse, wie seien Auseinandersetzungen zwischen den Staaten auszugleichen, so dass sie nicht außer Kontrolle gerieten und sich in einen bewaffneten Konflikt verwandelten? Da die internationale Politik so „brutal“ sei und der Krieg natürlicherweise dazugehöre, wo sei dann die Hoffnung auf friedlichere Zeiten zu finden, in denen Konflikte und die Drohung mit Gewaltanwendung weniger häufig vorkämen?

Carr hält fest, Schlüssel sei hier die Erkenntnis, friedliche Veränderung lasse sich nur „durch einen Kompromiss zwischen der utopischen Konzeption eines geteilten Gerechtigkeitsgefühls und der realistischen Konzeption einer mechanischen Anpassung an das veränderte Kräftegleichgewicht“ bewirken.

Dieser Vorschlag stellte die Politiker nicht zufrieden, die, sei es aus wirklicher Überzeugung, sei es, um den Wählern zu gefallen, Außenpolitik als Verfolgung von Maximalzielen betrieben, die meist mit der Moralität dieser Haltung begründet wird.

Carr erinnert diese Politiker daran, Kompromisse müssten in Situationen gefunden werden, „in denen die bestehende Ordnung in Frage gestellt wird. Wer aus der bestehenden Ordnung die größten Vorteile bezieht, der kann nur darauf setzen, sie auf absehbare Zeit durch Zugeständnisse zu erhalten, dank derer sie für denjenigen erträglich wird, dem die wenigsten Vorteile zufallen. Auf den Verteidigern der bestehenden Ordnung wie auf denen, die sie in Frage stellen, ruht gleichermaßen die Verantwortung dafür, Veränderung in einer möglichst ordnungsgemäßen Weise zu erreichen.“

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Łukasz Gadzała

Łukasz Gadzała

Łukasz Gadzała, Redakteur beim polnischen onlineportal onet.pl, Absolvent der Warschauer Universität und der University of Birmingham. Seine Interessengebiete sind die Politik der Großmächte und die Theorie der internationalen Beziehungen.

Ein Gedanke zu „Utopie und Wirklichkeit“

  1. czyli, nie ma szans na przyjazne współistnienie i pokój na świecie? Nic się nie nauczyliśmy z przeszłości. Będziemy toczyć nowe wojny w imię czyichś wyimaginowanych pretensji do innych do chęci narzucenia im praw, innych niż te drugie narody kultywują!?
    Aż kiedyś unicestwimy sie całkowicie i nie pozostanie nic oprócz zgliszcz i ruin!!

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