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Der unbewusste Imperialismus eines überzeugten Antiimperialisten

Der bekannte Schriftsteller Michail Schischkin ist einer der wenigen prominenten Russen, die entschieden ihre Ablehnung der russischen Invasion der Ukraine bekunden. Trotzdem spielen viele seiner Äußerungen und Verhaltensweisen immer noch dem Kreml in die Hände und tragen letztlich zur Fortsetzung des Kriegs bei.

Macht und Propaganda eines autoritären Staats sind dann am wirksamsten und niederträchtigsten, wenn ein scharfer Regimekritiker sich zentrale Aussagen von dessen Ideologie zu eigen machen kann, ohne es selbst überhaupt zu bemerken. In der Folge gehen seine regimekritischen Äußerungen ins Leere, und er selbst läuft Gefahr, durch das Regime zumindest gelegentlich für die eigenen Zwecke eingespannt zu werden. Selbstgerechtigkeit gebiert oft Selbstgefälligkeit, und diese eröffnet dem Regime ein Einfallstor, um seine im Ausland lebenden Gegner durch Beschämung zum Schweigen zu bringen.

Die russische Elite und der Krieg

Die Anzahl der international bekannten Russen, die öffentlich eine entschlossene Haltung gegen Russlands imperialistischen Krieg gegen die Ukraine bezogen haben, ist so erschreckend gering, dass jede einzelne Stimme des Protests in den Massenmedien der demokratischen Welt übermäßigen Widerhall findet. Bei Michail Schischkin, einem der anerkanntesten russischen Gegenwartsautoren, scheut die Literaturkritik nicht vor Vergleichen mit Anton Tschechow, Vladimir Nabokov und James Joyce zurück. 1995 folgte er seiner Schweizer Ehefrau in deren Heimatland. Für ihn war das eine Verkettung glücklicher Umstände, in deren Genuss damals kaum einer seiner Landsleute kam. Die russische Wirtschaft befand sich nach dem Niedergang der Sowjetunion im freien Fall, es war die Zeit der reinsten Gangsterherrschaft, und die noch in den Kinderschuhen steckende russische Demokratie verwandelte sich rasch in ein postsowjetisches autoritäres Regime. Wenig überraschend ging diese Ära als die „turbulenten Neunziger“ (lichye devjanostye) in die russische Zeitgeschichte ein, ein Jahrzehnt des Banditentums und der Armut. An der Wende zum 21. Jahrhundert gelangte Wladimir Putin als neuzeitlicher Tyrann an die Macht und gewann immer mehr Ähnlichkeit mit einem Zaren sowjetischen Typs. Der russische Präsident brachte die Oligarchen mit großer Geschicklichkeit rasch unter Kontrolle. Diese Industriekapitäne hatten zuvor die profitabelsten Fabriken und Industrien des Landes in ihre Hände gebracht („privatisiert“). So erhielt das wieder im Entstehen begriffene totalitäre Regime in Russland eine stabile, freilich durch und durch korrupte ökonomische Basis.

Schischkin hatte Glück und entwickelte mit der Zeit eine Ahnung davon, dass in Russland erneut ein totalitäres Regime aufkam. Seit 2013 wurde er zu einem wortstarken Kritiker dieser autoritären Wende und nannte die Regierung im Kreml offen ein „kriminelles Regime“. In der Folgezeit äußerte sich der Autor immer wieder öffentlich gegen Putins Herrschaft, insbesondere, um Putins Kriegstreiberei zu geißeln. 2014 machte Schischkin seine Empörung über Russlands Annexion der Krim und Invasion der Ostukraine öffentlich. Acht Jahre darauf verurteilte er Moskaus unprovozierten, rechtswidrigen und imperialistischen Angriff auf die Ukraine.

Dieses Verhalten unterscheidet sich deutlich von der zurückhaltenden Verurteilung dieses jüngsten Kriegs, wie sie offenbar unter dem Zwang ihrer beruflichen Umstände von der russischen Starsopranistin Anna Netrebko zu vernehmen war. 2012 hatte sie noch peinlicherweise Putin ihre volle Unterstützung bekundet. Später war von der Sängerin über den Krieg und Russlands völkermörderische Verbrechen in der Ukraine nichts mehr zu hören. Bis heute schreckt Netrebko davor zurück, die russische Führung offen zu kritisieren, von Putin ganz zu schweigen. Stattdessen ist sie vollauf damit beschäftigt, wegen Vertragsstrafen für abgesagte Auftritte vor Gericht zu ziehen, während sie den Krieg nicht einmal verurteilt hat. Das wird nur noch übertroffen von der Überraschung, welche die Tochter eines von Putins Pressesprechern vortäuschte, nachdem sie mit westlichen Sanktionen belegt worden war, während sie doch „mit der Situation nichts zu tun“ habe.

Die Sprache ist immer unschuldig?

Leider gibt es in Schischkins wortstarker Kritik am Kreml und dessen genozidalem Krieg gegen die Ukraine offenbar eine blinde Stelle. Im Falle von Normalsterblichen könnten wir annehmen, es handle sich um eine fehlerhafte Übersetzung oder eine nicht ganz durchdachte Wortwahl. Doch bei dem Autor handelt es sich um einen Meister der russischen und der deutschen Stilistik, zudem beherrscht er auch noch fließend das Englische. Daher ist ihm die blinde Stelle entweder bewusst, oder sie ist ihm nicht aufgefallen. Ich hoffe, letzteres trifft zu, denn Schischkins Stimme wird auf der ganzen Welt vernommen, seine Romane werden in 35 Sprachen übersetzt. Interessanterweise scheint jedoch kein einziges seiner Bücher bisher in eine der 35 offiziellen Sprachen der Russländischen Föderation übersetzt worden zu sein. Auch gibt es keinen Wikipedia-Eintrag in einer dieser Sprachen, obwohl er in 23 anderen Sprachen der Onlineenzyklopädie vorkommt.

Als Mitte Februar 2023 der erste Jahrestag der russischen Invasion der Ukraine herannahte, schrieb der Autor einen offenen Brief an einen „ukrainischen Freund“. Dieser Brief wurde umgehend in vielen Sprachen europaweit veröffentlicht. Schischkin übernahm die Hauptthesen seines Briefes aus einem längeren, auf Deutsch verfassten Essay, in dem er über die frappierenden Ähnlichkeiten zwischen Nazideutschland und Putins Russland nachdenkt. Dieser Text ist erneut abgedruckt in Schischkins demnächst erscheinender Sammlung seiner deutschsprachigen Essays in englischer Übersetzung, die den eindringlichen Titel trägt: „My Russia: War or Peace?“ In seiner Einschätzung der Lage ein Jahr nach Kriegsausbruch ist Schischkin ganz auf die Kultur fokussiert. Genauer auf die russische Kultur. Der dramatische erste Satz des offenen Briefes lautet: „Sie haben uns die Sprache gestohlen.“ Schon diese Überlegung kommt den gedanklichen Voraussetzungen bedenklich nahe, die Putin 2021 veröffentlichten Essay „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“ bestimmen. Darin behauptet Putin, Ukrainer und Russen seien gemeinsam mit den Belarusen immer schon eine einzige russische Nation gewesen und sollten dies auch bleiben, verbunden durch die gemeinsame Sprache, nämlich das Russische. In dieser Gedankenwelt sind das Ukrainische und das Belarusische lediglich regionale oder ländliche Dialekte des Russischen.

Schischkins Ausführungen jagen einem kalten Schauer über den Rücken und treffen doch zu, wenn er sagt, die Welt sehe das Russische nunmehr als „die Sprache von Mördern“. Diese Formulierung hat der Autor offenbar von Paul Celan entlehnt. Dieser vermochte es, das Deutsche mit seiner Lyrik quasi im Alleingang zu entgiften, nachdem es von dem Naziregime mit seiner genozidalen Politik in eine Sprache von Mördern verwandelt worden war. Dafür, dass er in dieser toxischen Sprache der Mörder schrieb und sie wieder zu einer Dichtersprache machte, zahlte der Dichter letztlich mit seinem Leben. Unter der unentrinnbaren Qual seines posttraumatischen Stresssyndroms beging er Selbstmord.

Welche praktikable Lösung findet Schischkin für das Dilemma, dass das Russische nunmehr zu einer Sprache von Mördern geworden ist? Er ist überzeugt: „Eine Wiedergeburt meines Landes ist nur möglich durch die völlige Vernichtung des Putinregimes.“ Es ist schon merkwürdig, wie der Autor in seiner Argumentation von der Sprache auf sein Land übergeht. Er scheint zu vergessen, dass er sich bewusst für die Emigration in die Schweiz und die Schweizer Staatsangehörigkeit entschieden hat. Seine Wahlheimat hat ihn gegen mögliche Repressionen und bittere Armut in Russland abgeschirmt. Seine tatsächliche Heimat war in den vergangenen drei Jahrzehnten das Alpenland mit seiner Stabilität und seinem Wohlstand, mit seiner Garantie aller individuellen, politischen und sozialen Freiheiten nebst Menschenrechten einschließlich des Rechts, Belletristik in jeder erdenklichen Sprache zu schreiben.

Zum Abschluss des Briefes formuliert der Antiimperialist Schischkin die Überzeugung, der Weg zu einem neuen, demokratischen Russland führe darüber, „das Imperium aus dem russischen Menschen herauszuoperieren“. Die Methode gibt sich war rhetorisch radikal, bleibt aber in Bezug auf ihre praktische Umsetzung vage. Vordergründig betrachtet, läuft der Vorschlag darauf hinaus, den ethnischen Russen in Russland beizubringen, dieses als multiethnisches Land wertzuschätzen, gleichauf mit den diversen Kulturen von Russlands zahlreichen nichtrussischen indigenen Völkern, wie den Burjaten, Tschetschenen, Sacha, Tataren oder Tuwinern.

Merkwürdigerweise deckt sich diese Schlussfolgerung nicht mit Schischkins vor einem Jahre (2022) geäußerter Meinung, die Russländische Föderation müsse in zahlreiche, ethnolinguistisch definierte Nationalstaaten aufgeteilt werden, um die Voraussetzungen für ein neues, demokratisches Russland zu schaffen, das notgedrungen auf seinen europäischen Teil begrenzt sein würde, wo die allermeisten ethnischen Russen ansässig sind. Selbst für diesen Fall hoffte Schischkin, einige dieser Nachfolgestaaten würden Russisch als Amtssprache beibehalten. Anscheinend hat der Autor das Diktum der spanischen Imperialisten der Frühen Neuzeit vergessen, Sprache sei stets das perfekte Instrument zur Errichtung von Reichen.

Die große russische Literatur?

In den eigenen Worten des russischen Präsidenten „rechtfertigt“ dieses imperiale Prinzip Russlands Krieg gegen die Ukraine. Schließlich ist als einziges russisches Kriegsziel auszumachen, dem Land und seiner widersetzlichen Bevölkerung die russische Sprache und nationale Identität zu oktroyieren, indem man die ukrainische Sprache und Kultur vernichtet. Die von den russischen Truppen in der Ukraine ausgemachten „Faschisten“ sind niemand anderes als Ukrainer, die sich weigern, sich mit dem Russentum zu identifizieren. Daher bestehen sie darauf, ukrainisch zu sprechen und nicht zur russischen Imperialsprache zu wechseln.

Falls also Schischkins Hoffnung auf zahlreiche russischsprachige Nachfolgestaaten wahr wird, werden diese Staaten selbst nach der erfolgreichen Entkolonisierung der Russländischen Föderation unter postimperialer russischer Kontrolle verbleiben, sei es vermittels Kultur, Wirtschaft oder politischen Drucks. Das war das Schicksal der meisten lateinamerikanischen spanischsprachigen Länder bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert. Spanien blieb Vorbild und Schiedsrichter in Sachen Sprache, Kultur und Politik, dem die nominell unabhängigen Staaten des Kontinents zu folgen hatten. Bezeichnenderweise spielt das Französische eine prominente Rolle in dem Terminus Françafrique für diesen Typus imperialer Dominanz, die Paris bis heute über seine früheren afrikanischen Kolonien ausübt.

Unabhängigkeit von einem Imperium zu gewinnen, geschieht nie einfach und im Handumdrehen, wie es die jährlichen Feiern ihres Unabhängigkeitstags durch die postkolonialen Länder nahelegen mögen. Tatsächliche Unabhängigkeit ist noch lange nach der Gewinnung der nominellen Unabhängigkeit und eines Sitzes bei den Vereinten Nationen nur eine bedingte Realität. Der Zustand der Halbunabhängigkeit dauert an, besonders wenn ein postkoloniales Land seine eigenen indigenen Sprachen zugunsten der Imperialsprache verloren oder aufgegeben hat. Die Beibehaltung oder Förderung der indigenen (nationalen) Sprachen eines postkolonialen Staats erscheint in Mittel‑ und Osteuropa noch dringlicher, wo die Ukraine nun einmal liegt. Für beinahe zweihundert Jahre war die wichtigste Ideologie für Staatsbildung, ‑legitimierung und ‑erhaltung, Sprache mit Nation gleichzusetzen.

Gegenwärtig benutzt der Kreml einen ethnolinguistischen Nationalismus als weiteres Instrument seines imperialistischen Expansionismus. Die Ideologie der „Russischen Welt“ (Russkij mir) sagt, Russlands Gebiete müssten wo auch immer hinreichen, wo Sprecher des Russischen leben. Darüber hinaus behauptete Putin 2016 in einer berüchtigten Äußerung, Russlands Grenzen seien ohne Ende. Damit meinte er, das slawischsprachige orthodoxe russische Imperium solle so weit wie nötig durch Eroberung expandieren, bis es die gesamte Welt beherrsche. Dies ist eine Reinkarnation von Lenins Politik der Weltrevolution, der gemäß der Kommunismus in jedes Land und auf jeden Kontinent zu verbreiten war, um das Ende der Geschichte in Gestalt eines einzigen, globalen kommunistischen Staates herbeizuführen. Nunmehr ist dem Kreml zufolge ein neues Paradies auf Erden versprochen durch den Staat der Russischen Welt.

Mit diesem politischen und ideologischen Kontext im Sinn, ist es erschreckend, dass Schischkin in seiner Kritik am imperialistischen Russland auf ein solches Propagandaklischee wie die „Sprache der großen russischen Literatur“ zurückgreift. Heute erinnert sich, die Russisten nicht ausgenommen, kaum jemand daran, dass dieser Terminus von dem einstmals offiziellen Namen der russischen Sprache im Russischen herkommt. Zwischen 1860 und der bolschewistischen Revolution von 1917 gab es dafür die Bezeichnung „großrussische Sprache“ (velikorusskij jazyk). Daher wurde aus der in dieser Sprache geschriebenen Literatur die „großrussische Literatur“ (velikorusskaja literatura). Dieser Sprachname aus der späten Zarenzeit war in der Sowjetunion der Zwischenkriegszeit verboten und wurde durch das bis heute gebräuchliche „russische Sprache“ (russkij jazyk) ersetzt. Doch während des Zweiten Weltkriegs, als 1941 Moskau die Seiten von der zweiten totalitären Macht, NS-Deutschlands, zu den demokratischen Mächten Großbritannien und den Vereinigten Staaten wechselte, lief die sowjetische Propaganda zu vollen Touren auf. Moskau entstaubte die zarische Bezeichnung „großrussische Literatur“ (velikorusskaja literatura) und änderte sie ein wenig ab, mit dem Ergebnis des lobenden Klischees „große russische Literatur“ (velikaja russkaja literatura).

Heute spricht man in Russland und andernorts von der „großen russischen Literatur“ unreflektiert auf englisch, französisch, deutsch und in anderen Sprachen. Dies ist ein später Triumph der Sowjetpropaganda, der sich als so nützlich erweist, um Putins Ideologie von der Russischen Welt zu rechtfertigen und zu fördern. Ein Brite würde niemals von der „großen englischen Literatur“ sprechen, ein Franzose von der „großen französischen Literatur“ oder ein Deutscher von der „großen deutschen Literatur“. Aber in Qualität und Quantität sind die englische, deutsche und französische Literatur doch viel „größer“ als die russische. Schließlich gibt es viel mehr Sprecher des Englischen und Französischen als Russischsprachige, während die deutschsprachige Literatur historisch sehr viel weiter zurückreicht als die russische.

Unterbewusst erkennt Schischkin dieses Problem. Er berichtet davon, dass sein Vater als sowjetischer Soldat im Zweiten Weltkrieg kämpfte. Anschließend war ihm alles Deutsche verhasst. Der zukünftige Schriftsteller war anderer Meinung und versuchte seinen Vater zu überzeugen, dass die furchtbaren Taten Nazideutschlands die Schönheit von Johann Wolfgang Goethes Dichtung oder Thomas Manns Romanen nicht auslöschten. Dass die deutschsprachige Belletristik immer noch eine „große deutsche Literatur“ darstelle. Allein, ein solcher Ausdruck existiert weder im Russischen noch in einer anderen Sprache. Es handelt sich um eine Ad-hoc-Erfindung Schischkins in Nachahmung der sowjetischen Propagandaphrase von der „großen russischen Literatur“.

Heuchelei

Aber wieso hält sich Schischkin überhaupt so lange mit der russischen Sprache und Literatur und ihrer angeblich fraglichen Zukunft in diesem angeblichen Brief an einen ukrainischen Freund auf? Der Freund kommt aus dem Land, das gegenwärtig unter dem neoimperialistischen Angriff Russlands leidet. Täglich sterben Ukrainer oder werden verstümmelt von russischen Raketen. Russische Truppen legen ukrainische Städte in Schutt und Asche. Unterdessen, während die Welt dem kaum Beachtung schenkt, benutzt der Kreml ohne jede Scham altbekannte sowjetische Mythen über die russische Sprache und Geschichte, um seinen unprovozierten Angriff auf die Ukraine zu rechtfertigen. Die russische Sprache ist dabei das, was die Russische Welt zusammenhält, auch in der Wendung „große russische Literatur“. Beide sind Ecksteine von Moskaus Propagandaarsenal, die Stütze seines verlogenen Anti-Kriegs-Narratives über die „friedliche militärische Spezialoperation“ in der Ukraine.

Diese heimtückisch-aufdringliche und allgegenwärtige Propaganda sowjetischen Ursprungs hat auch Schischkin überzeugt, ohne dass er es überhaupt gemerkt hat. Sonst würde er der Sprache und Literatur der Mörder nicht so viel Beachtung schenken, sondern würde seinen Blick auf die Ukrainer selbst richten. Vor einem Jahr notierte der Autor, die Ukrainer kämpften gegen Putins Armee „für ihre und unsere [der Russen] Freiheit“ [Anspielung auf ein bekanntes Motto aus dem polnischen Novemberaufstand von 1830/31; A.d.Ü.]. Schischkin ist Schriftsteller. Wieso bringt er es dann nicht fertig, sich etwas mit der ukrainischen Sprache und Kultur zu befassen, die nur einer existentiellen Bedrohung durch sein angebliches Land oder dieses neoimperialistische Russland und seine Armeen gegenüberstehen?

Heute macht Schischkin seinem wahren Heimatland, der Schweiz, und dem Westen insgesamt den Vorwurf, die aufkeimende russische Demokratie in den 1990er Jahren nicht genügend unterstützt zu haben. In seiner Sicht erklärt sich damit, wieso die Demokratie in Russland gescheitert ist und damit den Weg für den Aufstieg eines neosowjetischen Totalitarismus freigegeben hat. Er klagt, selbst die Annexion der Krim 2014 habe schweizerische und andere westliche Unternehmen nicht davon abgehalten, in Putins Russland zu investieren und große Profite zu machen. Nunmehr befürchtet er, der Westen könne in seiner Entschlossenheit nachlassen, sein finanzielles Engagement aus Russland abzuziehen und das Land bis zum Sieg der Ukraine zu sanktionieren.

Doch klingen Schischkins Ermahnungen hohl, denn er hat sein Engagement für Russland auch nicht gestoppt. Seine Bücher erschienen selbst nach 2014 weiterhin in Russland, und zwar bis zum heutigen Tag, selbst noch nach Russlands Angriff auf die Ukraine. Seine jüngste Sammlung russischsprachiger Essays erschien im August 2022 in Moskau, also ein halbes Jahr nach der Invasion. Die Bände seines wachsenden literarischen Werks sind im heutigen Russland in Buchhandlungen und online problemlos zu erhalten.

Dabei ist Schischkin auf diese Einkünfte aus dem neoimperialistischen Russland gar nicht angewiesen, seine und seiner Familie materielle Existenz ist gesichert. Seine Bücher wurden bereits in fast vierzig Sprachen übersetzt. Er verdient mehr mit dem Verkauf seiner Werke in Deutschland und Großbritannien oder anderswo in Europa und Nordamerika als mit den billig verkauften Exemplaren in Russland. Schischkin sollte mithin seinen Worten besser Taten folgen lassen. Wenn er es für moralisch und politisch falsch hält, wenn ein Schweizer Lebensmittelkonzern im neoimperialistischen Russland weiter Geschäfte macht, gilt dasselbe doch wohl für einen russischsprachigen Schweizer Autor, der die Publikation seiner Bücher in diesem neoimperialistischen und totalitären Land erlaubt. Ein oppositioneller Autor, der stillschweigend einer solchen Kollaboration zustimmt, macht sich schuldig, das Putin-Regime ökonomisch zu unterstützen. Schischkin arbeitet also im Gleichschritt mit der Kremlpropaganda und lässt sich zu einer Marionette der russischen Regierung machen.

Russisches Geld, das mit ukrainischem Blut befleckt ist, strömt denselben Gestank aus, ob es nun in Unternehmer in der Hand hält oder es in der Hosentasche eines berühmten Romanautors steckt. Wieso sollte der Putins mörderischem Regime gegenüber offen kritische Schischkin es der notorischen Operndiva Netrebko gleichtun?

Ukrainische Sprache und Kultur?

Abgesehen davon, dass er es unterlassen sollte, noch am russischen Buchmarkt präsent zu sein, sollte Schischkin sich überlegen, wie er der gefährdeten ukrainischen Sprache und Kultur zur Hilfe kommen könnte. Wenn in seinen Worten deutsche und russische Sprache und Literatur schön und groß seien, dann muss dasselbe doch wohl für die ukrainische Sprache und Literatur gelten. In der demokratischen Welt gibt es keine „kleinen“ Sprachen und Kulturen.

Schischkin hat das Deutsche so gemeistert, dass er auch in dieser Sprache zu einem erfolgreichen Autor geworden ist. Vielleicht wäre das Wenigste, was er für die Ukraine und seinen ukrainischen Freund tun könnte, seine zukünftigen Bücher auf Ukrainisch zu schreiben. Ich bin mir sicher, dies würde Schischkins glänzende Prosa noch stilistisch vortrefflicher und nuancierter werden lassen, so wie bei dem berühmten ukrainischen Philosophen des 18. Jahrhunderts Hryhorij Skoworoda. Er schrieb auf Kirchenslawisch, Griechisch, Latein, Moskowitisch (Russisch) und Ruthenisch (Ukrainisch). Er scheute sich nicht, verschiedene Sprachen in einem einzigen Text zu verschmelzen, um die Schönheit seiner Prosa oder Lyrik zu erhöhen. Es war eine Zeit, in der sich Schriftsteller nicht einer Sprache dienstbar machten, sondern sie als Werkzeug und Material für ihre eigene Kreativität nutzten.

In nicht so ferner Vergangenheit, am Beginn der 1920er Jahre, wechselte der sowjetisch-ukrainische Romanautor Mike Johansen über Nacht vom Schreiben auf Russisch zum Schreiben auf Ukrainisch. Sollten Schischkin diese Beispiele nicht überzeugen, sei hier noch der zeitgenössische ukrainische Autor Wolodymyr Rafjejenko genannt. Bis 2014 schrieb er auf Russisch, publizierte in Russland und sah sich selbst als einen Vertreter der russischen Literatur. Das änderte sich mit der russischen Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine. So wie Schischkin hatte Rafjejenko eine politische Epiphanie. Der ukrainische Romanautor stellte sich auf die Seite von Demokratie und Ukraine und erklärte, seine Bücher sollten nicht einer russischen Kultur dienen, die der Kreml vor seinen Karren spannt, um ukrainische Sprache, Kultur und Identität zu vernichten. Rafjejenko brauchte fast drei Jahre, um das Ukrainische soweit zu beherrschen, dass er einen neuen Roman in dieser Sprache beenden konnte. Aber die Mühe und das Warten hatten sich gelohnt.

Diesem Beispiel wäre zu folgen. Wie auch immer, Schischkin, der Meister des Stils, neigt dazu, an einem Roman ein halbes Jahrzehnt und länger zu arbeiten, um sicherzugehen, dass Plot und Stil atemberaubend sind und sich von seinen früheren Büchern unterscheiden. Russlands totaler Krieg gegen die Ukraine hat eine neue Ära in Europa eingeleitet, wäre es da nicht höchste Zeit für Schischkin, etwas Neues auszuprobieren, wie einen Roman auf Ukrainisch oder zweisprachig zu schreiben?

Vorerst, solange Schischkin mit dem Schriftstellern auf Ukrainisch experimentiert, wird er vielleicht einige Jahre lang nicht in der Lage sein, sein erstes ukrainischsprachiges Buch vorzulegen. Solange könnte er als Provisorium vielleicht sicherstellen, dass alles, was er verfasst, sei es auf Deutsch oder Russisch, zuerst in einer ukrainischen Übersetzung erscheint. Zusätzlich sollte Schischkin, dem Beispiel des großen österreichischen Autors Thomas Bernhard folgend, anständigerweise jeden Verkauf und jede Publikation seiner Bücher in Russland unterbinden. Ich bin sicher, dass russischsprachige Verlage in Litauen, Kirgistan oder München ebenso gute Arbeit leisten würden. Aber die so erzielten Gewinne würden nicht in die Kriegskasse des Kremls gelangen, um die Ukraine auszulöschen.

1988 kritisiert Bernhard den österreichischen Antisemitismus in seinem Stück „Heldenplatz“. Die krawallartigen Proteste gegen dessen Aufführung veranlassten den Autor, jede Produktion oder Publikation seiner Dramen in Österreich bis zu siebzig Jahren nach seinem Tod zu verbieten, der ein Jahr später eintrat. Die von dem neoimperialistischen Russland begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in seinem genozidalen Krieg gegen die Ukraine, die Ukrainer, die ukrainische Sprache und Kultur sind viel schlimmer. Daher verlangt die Situation viel einschneidendere symbolische und vor allem praktische Maßnahmen als Bernhards ätzende Reaktion. Schischkin, der die deutschsprachige Literatur viel besser kennt als ich, sollte das am besten wissen.

Einer postimperialen Zukunft entgegen

Zurecht sieht Schischkin eine Chance für eine demokratische Zukunft nur in einem entkolonialisierten Russland. Dieses zukünftige Russland wird schließlich seine Kolonien in die Freiheit entlassen und sich in ein normales europäisches Land verwandelt haben. Aber Entkolonisierung ist nicht ausreichend, um diesen Zweck zu erreichen. Der russische Kultur‑ und Sprachimperialismus müssen ebenfalls enden. Der weltberühmte Romanautor Schischkin befindet sich in einer einzigartigen Position, um diesen Prozess voranzutreiben.

Trotz der Verfassungsgarantien, die Russlands zahlreiche indigene Völker genießen, sind ihre Rechte doch eher optional. Wie inzwischen hinlänglich bekannt, werden mehr junge Männer für den Krieg in der Ukraine aus den ethnisch nichtrussischen Völkern rekrutiert als aus dem russischen Ethnikon. Darüber hinaus ist die statistische Wahrscheinlichkeit für nichtrussische Wehrpflichtige größer, im Krieg umzukommen. In ihren Heimatgebieten werden unterdessen ihre Familien und Siedlungen durch administrative Maßnahmen und mit finanziellen Anreizen bedrängt, ihre Sprachen zugunsten des Russischen aufzugeben. Infolgedessen beschleunigt sich die Russifizierung. Übereinstimmend mit der ethnolinguistischen Ideologie der Russischen Welt, strebt der Kreml danach, an die Stelle der multiethnischen Russländischen Föderation ein homogen russischsprachiges Russland treten zu lassen.

Schischkin könnte alle seine schmutzigen Tantiemen, die er seit 2014 aus Russland bekommen hat, an einen antiimperialistischen Übersetzungsfonds überweisen. Aus diesem Fonds könnten Stipendien vergeben werden, um Weltliteratur einschließlich Schischkins eigener Bücher in die unterdrückten Sprachen von Russlands kolonisierten indigenen Völkern zu übersetzen, ob das nun das Baschkirische, das Tschuwaschische, Kalmykische, Tatarische oder Tuwikische ist. Umgekehrt ist es selbstverständlich ebenso notwendig, die Übersetzung der besten Werke aus diesen unterworfenen Nationalliteraturen in das Englische, Französische, Deutsche, Ukrainische und die anderen Weltsprachen zu ermutigen und zu unterstützen.

Sollten jedoch Schischkin und andere prinzipientreue russische Oppositionelle es verfehlen, für wechselseitige und gleichberechtigte Beziehungen auf kultureller und linguistischer Ebene zwischen ethnischen Russen einerseits, den postsowjetischen Nationen und den in der Russischen Föderation lebenden indigenen Völkern andererseits aufzubauen, sind die Aussichten für einen normalen europäischen, demokratischen Staat in Russland höchst ungewiss. Pekings jüngste Ouvertüren an Putins totalitäres Russland zeigen, dass China das Land im Visier hat. Demokratie und die Achtung der Menschenrechte sind für das kommunistische Regime in China eine existentielle Bedrohung. Die Chinesen möchten eine große, antidemokratische Zone „brüderlicher Totalitarismen“ von der Europäischen Union im Westen bis zum Pazifik im Osten, vom Arktischen Meer im Norden bis Südostasien und Australasien im Süden. So würde der größte Teil Eurasiens Chinas politischem Einfluss und ökonomischen Bedürfnissen unterworfen.

Abhängig vom Ausgang des Ukrainekriegs, der ungleichen Allianz des Kremls mit China und den Entscheidungen der russischen Oppositionellen, werden die Russen der Zukunft entweder sowohl ukrainisch als auch russisch schreiben und lesen oder ausschließlich chinesisch. Seit 2017 unterdrückt China mit Erfolg die zwölf Millionen Uiguren, indem es fünfzehn Prozent der uigurischen Bevölkerung in eigens gebauten Konzentrationslagern einschließt. Es ist durchaus vorstellbar, dass ein wiederentstehendes paneurasisches China die gesamte Bevölkerung Russlands von 140 Millionen unterdrücken würde, indem es zwanzig Millionen davon in Zwangsarbeitslager steckt. Das ist kein neuer Plan. Zwischen 1930 und 1953 inhaftierte Iosip Stalin 18 bis 20 Millionen Sowjetbürger im Archipel GULag. Hunger, Überarbeitung und Phasen industrieller Massentötungen kosteten fast zwei Millionen Insassen das Leben.

Wieso sollten wir diese Vergangenheit in der Zukunft wiederholen?

 

 

Aus dem Englischen von Andreas R. Hofmann

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Tomasz Kamusella

Tomasz Kamusella

Tomasz Kamusella ist außerordentlicher Professor für neuzeitliche Mittel- und Osteuropäische Geschichte an der University of St Andrews in Schottland.

Ein Gedanke zu „Der unbewusste Imperialismus eines überzeugten Antiimperialisten“

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