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Polens „wiedergewonnene Inseln“

Kaja Puto: Du bist auf der Insel Wollin geboren, in der nord-westlichen Ecke Polens. In Deinem Buch schreibst Du, als Kind hättest Du die Einwohner Krakaus oder Posens beneidet. Weswegen?

Piotr Oleksy: Ich beneidete sie auf eine positive Art – mir gefielen jegliche Regionalismen. Ich mochte diese Städte, weil sie ihre eigene Geschichte und kulturelle Eigenarten haben, weil sie einzigartig sind. Posen hat einen eigenen Dialekt, die Goralen in der Tatra haben Bergstöcke und ihren Oscypek (geräucherter Schafskäse). Bei uns auf den Inseln oder überhaupt in Westpommern gab es so etwas nicht. In der Schule klebte ich einen Tschako, eine Bergmannskappe aus Papier zusammen, obwohl wir keine Bergwerke in der Nähe hatten. Dagegen machten wir nichts, was mit dem Meer zu tun hätte. Es gab Muscheln, die an Touristen auf der Strandpromenade verkauft wurden, und das war es.

Woher kommt das?

Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Siedler aus verschiedenen Teilen der Zweiten Polnischen Republik hierher: aus Großpolen, Masowien, aus den ehemals polnischen Gebieten im Osten. Und da sie nicht fischen konnten, wurden eben masurische Fischer geholt; aus dem gleichen Grund durften manche Deutsche hierbleiben. Die neuen Bewohner der Odermündungsregion sprachen verschiedene Dialekte, hatten unterschiedliche Alltagsbräuche, feierten anders. Ein Stück weit hatten sie dann ihre Traditionen aufgegeben, um am neuen Ort zusammenzuarbeiten, wozu sie übrigens von der kommunistischen Regierung ermuntert wurden.

Die Kommunisten löschten die deutsche Geschichte dieses Ortes aus, indem sie versuchten, den Ort in die polnische Mythologie hineinzuquetschen.

In der Sprache der damaligen Machthaber wurden die gesamten nach dem Zweiten Weltkrieg von Deutschland verlorenen Gebiete „Wiedergewonnene Gebiete“ genannt, die „zurück in die Heimat“ kehren sollten. Dabei berief man sich auf das Mittelalter, als einige dieser Gebiete tatsächlich zum polnischen Staat gehörten. Pommern war von slawischen Völkern besiedelt, die eine slawische, pommerische Sprache sprachen. Das Herzogtum Pommern entstand 1121 und war ein Lehnen des polnischen Staates, wurde jedoch schnell unabhängig und mit der Zeit zu einem Teil des Heiligen Römischen Reiches. Die Propaganda der Volksrepublik Polen bezeichnete dies als erzwungene Germanisierung.

Im öffentlichen Raum in Westpolen sehen wir immer noch Spuren dieser Zeit. Zum Beispiel gibt es in Stettin ein Kino namens „Piast“ [von der im mittelalterlichen Polen herrschenden Piasten-Dynastie] und in Świnoujście (Swinemünde) eine Słowianin-Siedlung [Slawensiedlung].

Sogar der im 19. Jahrhundert erbaute Kanal, der das Stettiner Haff mit der Ostsee verbindet, wurde umbenannt: vom Kaiserkanal zum Piastenkanal. Einmal fand ich eine Broschüre, die zum zehnjährigen Jubiläum der Fischereigenossenschaft herausgegeben wurde, in der stand, die Fischer vom Stettiner Haff würden „die slawisch-piastische Fischereitradition“ wieder aufbauen, was ein offensichtlicher Unsinn ist, da die Neuankömmlinge das Fischen erst von den einheimischen Deutschen gelernt haben. Die polnischen Siedler hatten solche Kenntnisse nicht, und wenn, dann nicht in Meeresgewässern. Zu all dem wurde flugs eine lokale Mythologie erfunden. Dem Felsen in der Nähe von Kamień Pomorski (Cammin in Pommern) wurde eine Legende angedichtet, wonach der polnische König Bolesław Schiefmund darauf gestanden hätte, um einer Parade von vorbeifahrenden Schiffen beizuwohnen.

Hatten diese Maßnahmen Auswirkungen auf die lokale Identität der neuen Einwohner?

Das ist meines Erachtens sehr unklar. Eine Zeit lang dachte ich, einerseits war da die Propaganda, andererseits die Menschen selbst. Nach dem Krieg hatten sie größere Probleme, als die Piasten-Geschichte ihrer neuen Heimat zu entdecken. Wenn ich aber mit den Menschen aus der Kriegsgeneration spreche, stellt sich heraus, sie glauben weiterhin an die damals erfundenen Narrationen. Sie brauchten sie, um sich hier wie zu Hause zu fühlen.

Das Jahr 1945 ist in den Westgebieten quasi eine Stunde Null. Eine Zivilisation wurde zerstört und auf deren Ruinen wurde eine neue aufgebaut. Allerdings blieben einige Fäden, die diese neue Welt mit derjenigen vor dem Krieg zusammenhielten. Hier, auf den Inseln, war das die bereits erwähnte Fischerei. Der deutsche Fischer lehrte den polnischen Fischer, welche Fische hier vorkommen, wie sie sich verhalten, was wann gefischt wird, wie diese Gewässer zu befahren sind und vieles mehr. Wir übernahmen überdies einige kulinarische Rezepte, wie die Wildente im Fett.

Also gibt es bei Euch doch noch regionale Besonderheiten …

In diesem Zusammenhang schon, bloß wurden sie von der Systemtransformation [nach 1989] weggefegt. Die hiesige Fischerei überlebte die Wende hin zur freien Marktwirtschaft nicht, zumindest nicht in vollem Umfang, zudem wurden die hiesigen Gewässer überfischt. Heute hat dieser Wirtschaftszweig eine viel geringere Bedeutung, er wurde vom Tourismus verdrängt.

Zumindest könnte man noch einige Elemente dieser regionalen Besonderheiten finden. Der Zugang zum Meer bedeutet immer mehr Freiheit, ein schnellerer Zugang zu Welttrends. Wir waren schon zu Zeiten des Kommunismus in dieser Hinsicht einzigartig, jeder zehnte Einwohner von Swinemünde arbeitete in dem Unternehmen der Hochseefischerei und Fischereidienstleistungen „Odra“. Im Gegensatz zu den meisten Polen hatten diese Fischer die Möglichkeit, die ganze Welt zu bereisen, sie fuhren zu den kanarischen Inseln, zur afrikanischen Westküste, zum Panama-Kanal, der Beringsee oder zum Ochotskischen Meer. Solche Erinnerungen wie die, die man selbst heute bei Reisefestivals begeistert erzählt, waren Teil des Alltags für die ganz normalen Kerle aus Swinemünde. Von daher waren wir immer näher an der westlichen Welt, weil sie uns diese von ihren Reisen mitbrachten.

Eine andere spezielle Erfahrung ist der szaber (Plünderung), nicht nur für die Odermündung, sondern für ganz Westpolen.

Szaber – das Wort kommt aus dem Jiddischen – bedeutet laut Wörterbuch die Inbesitznahme fremden Eigentums nach einer Katastrophe. Nach dem Krieg haben hunderttausende von Polen fremdes Eigentum beschlagnahmt, haben sich Wohnungen samt Einrichtung und zurückgelassenem, scheinbar niemandes Besitz angeeignet. Viele machten damit Geschäfte, insbesondere in Zentralpolen, wo es nach dem Krieg an vielem mangelte. Es war ein derart häufiges Phänomen, dass einige Historiker es für das wichtigste Schwungrad der polnischen Wirtschaft in den ersten zwei Jahren nach dem Krieg halten.

In Deinem Buch schreibst Du, diese neuen Nachkriegsgebiete Polens seien wie der Wilde Westen gewesen. Die Siedler gingen ins darwinistische Rennen: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.

Am Anfang drückten die Behörden dabei ein Auge zu, weil es einfach nicht anders ging. Später versuchte man, dieses Prozedere zu stoppen, vor allem, da dies immer gefährlicher wurde. Es waren nicht mehr spontane Aktionen armer und hungriger Menschen, die mit Gewalt aus ihren Häusern herausgerissen wurden, nicht selten jeglichen Eigentums beraubt, sondern eine nahezu gangsterhafte Vorgehensweise. Letztendlich gelang es, diese Vergehen zu unterbinden, doch bei uns dauerten sie am längsten: Nicht genug, dass Swinemünde und Umgebung am weitesten von Polens Zentrum entfernt waren, obendrein war es lange nicht sicher, ob das Gebiet an Polen, an Deutschland oder an die Sowjetunion fallen würde. Übrigens, auch die russischen Soldaten plünderten die hiesigen Güter und schafften sie in die Sowjetunion.

Fünfzig Jahre später erlebt Westpolen den nächsten Schock: Diesmal ist das die Systemtransformation vom Kommunismus hin zur Demokratie. Und wieder taucht eine gesellschaftlich akzeptierte Form des Diebstahls auf, jetzt als juma. Der Legende nach kommt das Wort von dem amerikanischen Western „3:10 to Yuma“ (dt.: „Der Todeszug nach Yuma“). Um diese Uhrzeit fuhr damals der Zug von Zielona Góra (Grünberg) nach Berlin.

Juma, das heißt von den Deutschen zu stehlen; das heißt quasi kein Diebstahl. Es gibt einen tollen Film darüber, eben unter dem Titel „Juma“. Die Mutter der Hauptfigur, eines Teenegers, der zum „Jumakönig“ wurde, erzählt von ihrem Sohn, er habe niemals in seinem Leben etwas gestohlen, und all das, was er hat, wurde den Deutschen „entwendet“. In den 1990er Jahren war ich ein Kind, aber ich kann mich daran erinnern, wie ich den älteren Kollegen nachplapperte, die besten Fahrräder seien die von der juma: Ich dachte, es sei ein Firmenname. Bis meine Mutter zu mir sagte, ich solle so nicht reden, weil es bedeute, sie sind gestohlen.

Und warum wurde juma nicht als Diebstahl betrachtet? Weil die Deutschen reich sind? Oder weil sie böse sind, da sie den Zweiten Weltkrieg anzettelten?

Meiner Meinung nach beides. Sie sind reich, also wird ihnen ein kleiner Diebstahl, zum Beispiel von Schuhen oder Parfüm aus dem Geschäft nicht sonderlich schaden. Sie haben uns den Krieg gebracht, demnach ist das eine gewisse Art von Rache, von Kriegsreparationen. Und drittens, so scheint es mir, obwohl es eines Forschungsprojektes im Bereich der Kulturanthropologie bedürfte, ist das im Grunde eine Folge der Szaber-Kultur, der Überzeugung, all das, was von Deutschen geblieben war, gehöre niemandem. Juma wurde von Menschen aus der dritten Generation nach dem Krieg verübt, von Jugendlichen fast ausschließlich aus westlichen Gebieten Polens. Deswegen ist es nicht von der Hand zu weisen.

Im demokratischen Polen überwiegt immer noch die nationalistische, polenzentrische Narration über die Geschichte. Erst in den letzten Jahren kam der Trend zum Regionalismus: Ihre regionale Identität entdecken die Schlesier oder die Kaschuben. Wie sieht das in Westpommern aus? Sind seine Einwohner sich dieser Besonderheiten bewusst, von denen wir gerade sprachen, und über die Du das Buch geschrieben hast?

 Ja, es ist ein bestimmter Aufbruch auf diesem Gebiet zu vernehmen. Seine erste Phase war schon in den 1990er Jahren, als in Polen die sogenannte Heimatliteratur in Mode war; zum Vorschein kam eine gewisse Neugier und Offenheit gegenüber der vielfältigen – in unserem Fall deutschen – Vergangenheit Polens. Damals hatte das einen etwas sentimentalen Stellenwert, irgendwie eine intellektuelle Leichtigkeit. Heute haben wir das schon verarbeitet, wir sind dabei, uns dessen bewusst zu werden, dass die Geschichte unserer Gebiete eine einzige große Ansammlung an verschiedenen Geschichten darstellt. Es gibt mehr und mehr Festivals, Kulturtage, die sich auf diese Ansammlung beziehen. Beispielsweise findet dieses Jahr, wohl das erste Mal, in der kleinen Gemeinde Marianowo (Marienfließ) der „Sommer mit Sidonia“ statt. Es ist eine Reihe an Veranstaltungen über die tragische Figur der Sidonia von der Borcke, einer pommerischen Adligen, die der Hexerei angeklagt und zum Tode verurteilt wurde. Die Initiativen berücksichtigen vermehrt die slawische und deutsche Vergangenheit sowie diejenige der Volksrepublik Polen, ohne sie einander gegenüberzustellen, was mir sehr gefällt.

Im Übrigen kamen solche Gesten, allerdings im viel geringeren Ausmaß, sogar zu kommunistischen Zeiten vor. Stelle Dir einmal vor, in Świdwin (Schivelbein) und Białogard (Belgard) findet seit den 1960er Jahren jedes Jahr eine sogenannte Schlacht um die Kuh statt. Irgendein ehrgeiziger Kulturhaus-Direktor hat aus den alten deutschen Büchern herausgelesen, dass es im 15. Jahrhundert zu einer richtigen Schlacht zwischen den Einwohnern dieser Städte gekommen ist, bei der dreihundert Menschen ihr Leben verloren haben. Und es ging ausgerechnet um eine Kuh. Daraufhin dachte er sich einen sportlichen Wettkampf aus: Die Veranstaltung findet abwechselnd im Stadion in Świdwin und in Białogard statt, es gibt verschiedene Sportarten, darunter vermeintlich mittelalterliche, wie Axtwerfen. Heute hat diese Veranstaltung keine größere Bedeutung, interessant ist jedoch, wie sie von Menschen erfunden wurde, die nichts mit denen gemeinsam hatten, die um diese Kuh kämpften. Sie fügten diese Geschichte in ihre eigene Mythologie ein.

Leider wird paradoxerweise jegliche Besinnung auf die eigene Identität in der Küstenregion durch den Tourismus erschwert. Unser Tourismus ist einfach, wir geben den Menschen ein Zimmer am Meer und sie freuen sich. Wir haben Kurorte gebaut, die sich gar nicht von den anderen Kurorten in Europa unterscheiden, vielleicht nur durch das eigenwillige Wetter. Und die lokale Identität, die sich dank der Bemühungen seitens Gruppen von Intellektuellen und Enthusiasten nach und nach entwickelte, verschwindet langsam unter der Schicht aus Beton, Pommes, Kebab und Frittieröl.

Geht diese Identität über die Grenzen Polens hinaus? Deutschland ist nur einen Steinwurf entfernt, nicht viel weiter ist Skandinavien.

Der erwähnte Kreis von Enthusiasten ist selbstverständlich grenzüberschreitend ausgerichtet, Deutschland ist dabei ein natürlicher Partner, wir denken aber auch an Schweden und Dänemark, die in den 1990er Jahren die beliebtesten Länder für die Emigration waren. Skandinaviern ist besonders wichtig, was die Inseln angeht, da sie historisch verschiedenen Formen der dänischen und schwedischen Staaten angehörten, und unter deren Einfluss standen. Auf Wollin wird das größte Festival der Slawen und Wikinger in Europa veranstaltet, und der Jomsborg-Mythos, eine Wikingersiedlung, die sich auf der Insel Wollin befinden haben soll, ist bis heute äußerst beliebt.

Meines Erachtens lohnt es sich, diese Beziehungen zu pflegen und sie neu zu gestalten, obschon das unsere Schöpfung ist, weil die Identität der hiesigen Einwohner fortwährend polenzentrisch ist. Polen ist erst seit Kurzem nicht mehr ein monoethnisches Land.

Die Besiedlung der ehemaligen deutschen Gebiete begleitete die Furcht vor dem vorübergehenden Zustand des Neuen; die Siedler hatten Angst, dass die Deutschen zurückkommen und ihnen alles wegnehmen. Zur Zeit der Systemtransformation wurden diese Ängste stärker, als alles auf einmal zu kaufen war. Spielen sie heute noch irgendeine Rolle in den deutsch-polnischen Beziehungen?

 Es ist schwer, eine eindeutige Antwort darauf zu geben. Einerseits zieht die polnische Küste gerne und umfangreich Nutzen aus der Wohlhabenheit der deutschen Touristen. Darüber hinaus kaufen viele Deutsche Grundstücke, Immobilien und werden in der Region ansässig. Andererseits sind die gleichen Leute, die dabei verdienen, im Stande, über die Massen an deutschen Touristen zu klagen: Überall sei nur diese Sprache zu hören, man würde von oben herab angeschaut. Und es ist nicht schwer zu erahnen, welch alten Ängste sich dahinter verbergen.

Du hast die unkontrollierte Entwicklung des Massentourismus erwähnt. Die neuen Gebäude an der Küste werden ohne Wahrung der Kulturlandschaft und der Umwelt gebaut, was oft von der deutschen Seite kritisiert wird. Die Deutschen kritisierten auch andere Investitionen, wie den Bau des Gashafens in Swinemünde, heute gibt es einen Streit um die Oder-Regulierung und den Bau des Containerterminals. Was sagen die Einwohner Westpommerns dazu?

Die Meinungen sind sehr unterschiedlich. Es gibt Leute, die überaus nervös auf jedwede Kritik seitens der Deutschen reagieren, und es gibt welche, für die alles, was die Deutschen sagen, immer heilig ist. Für gewöhnlich steht das in Zusammenhang mit der politischen Einstellung des Einzelnen. Aus meiner Sicht müssten die von Dir genannten Probleme getrennt betrachtet werden. So ist die deutsche Kritik an der Energiepolitik, wie am Bau des Gashafens, eine Unverschämtheit, wenn wir die Geschichte der Gaspipeline Nord-Stream bedenken. In Hinsicht auf die Raumordnung oder den Umweltschutz bin ich jedoch mit der deutschen Kritik völlig einverstanden und glaube, diese Ansicht teilen immer mehr Menschen. Bei diesen Themen ist es zu einer Art „Erleuchtung“ gekommen: Wir stellen uns die Frage, warum unsere Ferienorte nicht so aussehen können, wie die auf der deutschen Seite.

Dennoch darf man nicht behaupten, wir seine die Dummen und die Deutschen die Klugen, weil doch unsere Kurorte meistens für die deutschen Touristen gebaut werden. Im Vergleich zu Swinemünde oder Międzyzdroje (Misdroy) stehen Ahlbeck beziehungsweise Heringsdorf selbst in der Hochsaison ziemlich leer. Es scheint, als ob wir uns nicht sonderlich unterscheiden, was die Erwartungen der Touristen betrifft, obwohl das Umweltbewusstsein und die Pflege der Kulturlandschaft in Deutschland natürlich viel weiter fortgeschritten sind.

Zudem gibt es dort nachahmenswerte Mechanismen, die es erlauben, diese Werte zu schützen. Bei uns hat die Immobilienlobby das Sagen. Die Menschen in Westpommern hängen nicht besonders stark an ihrem Stück Land; wenn sie nur die Möglichkeit haben, das Grundstück an den Immobilienmakler zu verkaufen, tun sie das.

Wenn es um die Empfindlichkeiten mancher Polen gegenüber der deutschen Kritik geht, so habe ich den Eindruck, der Ausbruch des Krieges in der Ukraine hat alles nur verschlimmert. Wir verübeln den Deutschen ihre deutsch-russischen Machenschaften, unabhängig von politischen Ansichten. Wie sieht dies aus der lokalen Perspektive aus?

Das betrifft die ganze polnische Gesellschaft, dem stimme ich zu, und da sind die Bewohner Westpommerns keine Ausnahme. Es herrscht folgende Überzeugung: Wir können endlich eine gewisse intellektuelle und moralische Überlegenheit gegenüber den Deutschen vorweisen, weil sich herausstellte, dass gerade sie viele Jahre lang im Irrtum waren. Endlich waren sie es, und nicht wir, die zu kurz gedacht hatten. Infolgedessen besinnen wir uns darauf, wie die Deutschen in den Jahren zuvor die polnischen Aktivitäten im öffentlichen Raum gewissermaßen zensiert haben. Ivan Krastev hat das treffend formuliert: Eine Politik der Nachahmung wurde umgesetzt, die es erlaubte, dem Imitierten die Handlungen des Nachahmenden zu rezensieren.

Solch eine starke Gegenreaktion erklärt sich dadurch, dass in der liberalen politischen Debatte jahrelang jegliche Kritik am deutschen Staat und seiner Vorgehensweise als chauvinistischer Irrsinn bezeichnet wurde. Nehmen wir Nord-Stream: Ein Großteil der liberalen Presse beschäftigte sich damit, den Polen die Rationalität der deutschen Handlungsweise zu erklären: Vielleicht sei das für uns nicht unbedingt gut, doch wir müssten verstehen, sie haben das Recht, so zu handeln, und womöglich würden wir sogar davon profitieren. Ich selbst versuchte, daran zu glauben und erzählte solche Sachen eventuell selbst.

Können wir diese Situation nutzen, um eine bessere partnerschaftliche Beziehung zu Deutschland aufzubauen?

Ich denke schon, allerdings müsste die liberale Seite eine Art Selbstreflexion betreiben. Nicht nach dem Prinzip, unsere Rechte war dumm, die Deutschen hatten sich geirrt und wir hatten immer Recht. Daraus wird nichts. Und wenn wir Selbstreflexion wagen, und diese darauf verwenden, neue partnerschaftliche Beziehungen aufzubauen, dann haben wir eine Chance, unsere Eigenständigkeit in Europa zu festigen. Vielleicht bin ich naiv, dennoch glaube ich immer noch an die Möglichkeit, enge und wirklich partnerschaftliche internationale Beziehungen aufzubauen, vor allem auf regionaler Ebene. Westpommern hat in dieser Hinsicht ein enormes Potential, es jedoch noch nicht erkannt.


Piotr Oleksy (geb. 1986) ist Historiker und Publizist. Seit mehr als einem Jahrzehnt reist er durch Mittel- und Osteuropa und beobachtet, wie neue Identitäten geschaffen werden. Er arbeitet am Institut für Geschichte der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań.

 

 

 


Kaja Puto / Autorin DIALOG FORUM

Kaja Puto – Publizistin und Redakteurin, spezialisiert sich auf die Themenbereiche Osteuropa und Migration. Sie schreibt u.a. für die Zeitschrift „Krytyka Polityczna“ und für n-ost – The Network for Reporting on Eastern Europe.

Gespräch

Gespräch

2 Gedanken zu „Polens „wiedergewonnene Inseln““

  1. Polnische Mythologie? Damit kenne ich mich nicht wirklich aus. Allerdings heißt es, dass es slawische Werwölfe gibt, die heute zum griechischen Vampir mutiert sind:

    „Es gibt einen speziellen griechischen Vampirglauben aus der Neuzeit. Dieser griechische Vampir wird Wrykólakas (griechisch βρυκόλακας) bezeichnet. Der Vampir Wrykólakas basiert auf der christlich orthodoxen Lehre und nicht auf der griechischen Mythologie. Es heißt, dass der Wrykólakas Vampir ursprünglich ein slawischer Werwolf war. Werwölfe, siehe auch Lykaon und weiterhin Makedon.“ -> https://www.mythologie-antike.com/t222-lamien-mythologie-damonen-bestien-die-grosse-ahnlichkeiten-mit-vampiren-aufweisen

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