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Eine Globalgeschichte der Ukraine

Jaroslaw Hryzak ist einer der in Polen bekanntesten und überhaupt einer der namhaftesten ukrainischen Historiker. Neben Serhij Schadan, Oksana Sabuschko und Jurij Andruchowytsch gehört er zu den interessantesten Intellektuellen seines Landes. Hryzak, aus Galizien stammend, drängt dazu, ein ums andere Mal die Geschichte der Ukraine neu zu durchdenken. Mir persönlich lieferten Hryzaks Schriften einen Durchbruch in meinem Verständnis der Ukraine. Darunter waren Titel wie „Prophet im eigenen Land. Iwan Franko und seine Ukraine (1856–1886)“ oder auch „Die neue Ukraine. Neue Interpretationen“.

Seine neuste Buchveröffentlichung ist „Die Ukraine. Sich von der Vergangenheit lösen“. Ein hervorragendes und auch deswegen wichtiges Buch, weil es immer noch an Büchern über die Ukraine mangelt, trotz der täuschenden Vielzahl an Publikationen.

Eine Ukraine, die die Menschen verstehen können

Das Buch bietet einen Querschnitt der ukrainischen Geschichte, aber es ist keine typische Überblicksdarstellung, bei der es darum geht, Fakten zu inventarisieren und die Geschichte so zu ordnen, dass sie ein schlüssiges Narrativ ergibt. Es handelt sich nicht um einen eng nationalistischen Entwurf, der lediglich dazu beitragen soll, einem Volk, dann einer Nation jetzt zu einer Selbstsicht zu verhelfen, nachdem seine Geschichte vorher stets von anderen erzählt wurde. Diese Phase haben die Ukrainer längst hinter sich, nicht zuletzt aufgrund von Hryzaks eigenen Bemühungen. Zwar müssen die Ukrainer immer noch darum ringen, als eigenständiges Land mit eigener Kultur und eigener Handlungsfähigkeit wahrgenommen zu werden, aber das gilt inzwischen mehr für die Außenwirkung als für die eigene Identität. Denn wie Norman Davies in seinem neuesten Buch „Galizien“ schreibt: „Über Jahre hinweg wurden sie [die Ukrainer] in der Welt stets als Russen oder als Sowjets hingestellt, wenn sie etwas Lobenswertes geleistet, dagegen als Ukrainer nur dann, wenn sie etwas Schlimmes getan hatten.“

Hryzaks Intention wird besser durch den ukrainischen Originaltitel des Buches zum Ausdruck gebracht: „Die Vergangenheit überwinden. Eine Globalgeschichte der Ukraine“. Hryzak geht es nicht um die inneren Verwicklungen der Ukraine, sondern ihre Verflechtungen mit der Region und der Welt. Er schreibt keine Geschichte der ukrainischen Peripherien, sondern zeigt die Wechselwirkung der wichtigsten Entwicklungen des zweiten Jahrtausends unseres Zeitalters und der ukrainischen Geschichte. In der Einleitung sagt er dazu: „Dieses Buch beabsichtigt nicht, von allen wichtigen Ereignissen und Aspekten der ukrainischen Geschichte zu erzählen. Es konzentriert sich ausschließlich auf diejenigen, welche die ukrainische mit der allgemeinen Geschichte verbinden und Einfluss auf beide haben.“ Der Autor setzt den Leser von seinem monumentalen Entwurf in Kenntnis, dieser sollte sich also nicht wundern, wenn er in dem Buch Thesen wie der folgenden begegnet: „Die Ukraine entstand vor allem durch das Aufeinandertreffen zweier Welten: Der Welt des Columbus und der Welt der Kosaken […] Die Welt des Columbus und die Welt der Kosaken begegneten sich in einem Staat. Dies war die 1569 geschaffene polnisch-litauische Rzeczpospolita“ (am liebsten würde ich dieses Buch eigentlich nur in Zitaten vorstellen).

Hryzak ist nicht im Geringsten an heroisch-martyrologischer Geschichtsschreibung interessiert. In seinem Buch geht es um das Verstehen, nicht das Wissen, was großer Anstrengung bedarf und für das die ausgetrampelten Pfade der Intellektuellen verlassen werden müssen. Gelegentlich stellt er Behauptungen auf, die dem polnischen Ohr wie eine Lästerung vorkommen müssen. So zum Beispiel, wenn er zum Kampf der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) unter Führung von Stepan Bandera gegen die Sowjets schreibt: „Dieser Kampf war ein Beispiel für den die größten Massen einbeziehenden Widerstand gegen den Kommunismus, vergleichbar mit dem Budapester Aufstand von 1956, dem Prager Frühling von 1968 und der polnischen Solidarność.“ Dieses mit dem Esprit eines Timothy Snyder oder eines Eric Hobsbawm geschriebenes Buch verlangt, mit offenem Sinn gelesen zu werden. Auch wenn sein Autor mit einem unbedingten Bekenntnis zum Humanismus schreibt: „Ich behaupte an dieser Stelle nirgends, Recht zu haben. Ganz im Gegenteil, meine intellektuelle Heimat ist der Zweifel.“

Vergangenheit – Gegenwart

Hryzak richtet Fragen an die Vergangenheit, um die Gegenwart zu verstehen. Er stellt die Überlegung an, wieso Westeuropa historisch erfolgreicher war als der Osten des Kontinents, und zieht dazu Beispiele heran, etwa, dass die erste osteuropäische Universität in Kyjiw erst 1632 gegründet wurde, die zweite in Moskau 1755. Doch sein eigentliches Interesse gilt dem Kern des Problems: „Kein Ereignis hat einen solchen Einfluss auf die Geschichte Osteuropas einschließlich der Ukraine gehabt wird die Taufe Wladimirs im Jahr 988 nach byzantinischem Ritus […] Die griechische Kultur war reicher als die römische. Doch konnte die Rus von diesem Vorteil nicht profitieren. Im Gegensatz zu Rom, das den bekehrten Stämmen Religion ebenso wie Sprache verlieh, gab Konstantinopel den Süd‑ und Ostslawen zwar die Religion, aber nicht die Sprache. Das setzte der kulturellen Entwicklung der Rus unvermeidbare Schranken. Während die zeitgenössischen polnischen Chronisten frei aus dem Vergil, dem Horaz und jedem beliebigen anderen lateinischen Autor zitieren konnten, zitiert der Chronist der Rus weder die Nestorchronik noch Homer, noch Plato oder irgendeinen anderen gelehrten Griechen. […] Aristoteles war in der Rus nur aus Fragmenten und sekundären Zitationen bekannt. Erstmals machten sich die Lehrer der Kyjiwer Mohyla-Akademie im 17. Jahrhundert mit ihm vertraut. Die Armut der intellektuellen Überlieferung der Länder der Rus ist erschütternd. Zwischen dem zehnten und dem siebzehnten Jahrhundert finden wir in der kirchenslawischen Literatur kein einziges wissenschaftliches Werk, nichtmals einen theologischen Traktat. Genauso wenig finden wir in den Ländern der Rus eine Entsprechung […] zu Cervantes oder Shakespeare und ihren Werken.“ An anderer Stelle führt er, sicher nicht als erster, Daten zur Illustrierung dieser Rückständigkeit an: „Vom Augenblick der Einführung des Buchdrucks Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts wurden in der Welt des westlichen Christentums 200 Millionen Bücher gedruckt, in der des östlichen höchstens 40 bis 60.000. Also über dreitausend Mal weniger.“ Hryzak legt dar, dass wichtige Entwicklungen in Osteuropa kein Erbe der UdSSR oder des Russländischen Reichs sind, sondern ihre Wurzeln wesentlich tiefer reichen.

Dabei ist Hryzak kein Determinist, er sagt immer wieder, man könne sich „von der Vergangenheit befreien“. Er weiß zudem, dass Geschichte eine echte Gefahr darstellen kann. Im Osteuropa des 20. Jahrhunderts hat sich zu viel zugetragen, die Region leidet an einer Überproduktion von Erinnerung. Hryzak führt eine Äußerung von Andrij Selinskyj an: „Lasse nicht zu, dass dich die Vergangenheit um deine Zukunft bringt.“ Treffend erklärt Hryzak, wie Geschichte sich als unsichtbare Anziehungskraft auswirken kann: Sie verhindert, die Last der Vergangenheit abzuwerfen, und hält jede Fortentwicklung auf.

Die zwei Teile der ukrainischen Nation

Hryzaks Überlegungen zur ukrainischen Nationsbildung sind besonders interessant; damit knüpft er an frühere Darlegungen an, etwa in der Biographie des jungen Iwan Franko. Die Ukrainer erlebten nämlich zwei parallele Wiedergeburten. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhunderts gehörten etwa fünfzehn Prozent der von Ukrainern besiedelten Gebiete zu Österreich-Ungarn, 85 Prozent zum Russländischen Reich. Dazu Hryzak: „Der Unterschied machte sich so stark bemerkbar, dass die ukrainischen nation builder befürchteten, es könnten statt einer gleich zwei Nationen entstehen, ähnlich wie im Falle der Serben und Kroaten“, nämlich eine orthodoxe in Russland, eine griechisch-katholische in Österreich. Eine weitere Befürchtung war, es könnten sich zwei verschiedene ukrainische Sprachen bilden. Hrycak ergänzt, dass die Nationsbildung drei Stadien durchläuft, ein akademisches, ein institutionelles und ein politisches unter Einbeziehung der Massen. So gelangt er zu der Feststellung, dass die Ukrainer in Österreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs bereit waren, ihren eigenen Staat auszurufen („[v]ergleichende Untersuchungen zeigen, dass während der Revolutionen von 1917 bis 1920 die ukrainische Nationalbewegung stärker war als die litauische“), doch in den russländischen Gebieten befanden sie sich noch im ersten Stadium. Und als die Akteure der ukrainischen Nationalbewegung aus Russland 1903 zur Enthüllung des Denkmals Iwan Kotljarewskyjs [1769–1838, ukrainischer Schriftsteller und Dichter; A.d.Ü.] fuhren, verteilten sie sich auf zwei Waggons, denn im Fall eines Eisenbahnunglücks hätte die gesamte ukrainische Nationalbewegung auf einen Schlag umkommen können, wie sich Zeitgenossen belustigten. Auch in anderer Hinsicht verweist Hryzak auf die Entwicklungsunterschiede zwischen den beiden Teilen der heutigen ukrainischen Nation. Das zeigt er etwa anhand des Alphabetisierungsgrads auf der Grundlage der österreichischen Volkszählung von 1910 und der russländischen von 1897: So waren in Russland 19 Prozent der Ukrainer des Lesens und Schreibens kundig, in Österreich dagegen zweimal mehr, nämlich 39 Prozent. Übrigens waren von 1914 aus gesehen die Chancen, dass sich die Krim, Uschhorod, Lwiw (Lemberg) und Odesa in einem einzigen ukrainischen Staat wiederfinden würden, denkbar gering. Die Folgen davon bekommt die Ukraine bis heute zu spüren.

Selbst vor der alternativen Geschichte schreckt Hryzak nicht zurück. Er erzählt von etlichen möglichen Weichenstellungen der ukrainischen Vergangenheit, die anders hätten ausfallen können. Von der schweren Niederlage der ukrainischen Nationalbewegung in den Jahren 1917 bis 1920 schreibt er: „Wenn 1918 nicht die Entente, sondern die Mittelmächte den Krieg gewonnen hätten, hätte die Ukraine ohne Zweifel als Staat Fuß fassen können. […] Es ist, nebenbei gesagt, eine gute Frage – wie lange hätten sich die Bolschewiki an der Macht halten können, wäre die Ukraine ein unabhängiger Staat geworden?“ Das Buch gewinnt durch solche Überlegungen noch hinzu.

Holodomor, Kollektivierung und Beseitigung der Kulaken

Hryzaks Buch geht auch darauf ein, was mit den Ukrainern zwischen 1914 und 1945 passierte, als die Ukraine „einer der gefährlichsten Orte der Welt“ war. Er gehört zu den Historikern, die diese Periode als einen zweiten Dreißigjährigen Krieg in Europa auffassen. Die Ukraine war eine der davon am stärksten betroffenen Regionen. Nach einer von Hryzak angeführten Schätzung kamen in diesem Zeitraum dort jeder zweite Mann und jede vierte Frau ums Leben. Die Ukraine war der Schauplatz zweier Genozide, des nationalsozialistischen und des sowjetischen. Sie wurde zum Kerngebiet von Tymothy Snyders „Bloodlands“.

In dieser Zeit vertieften sich zudem wiederum die Unterschiede zwischen den beiden Teilen der Ukraine, mit einigen Modifikationen, weil zum Beispiel das zuvor zu Russland gehörige Wolhynien an Polen fiel. Im Hinblick auf die nationale Identität verzeichnet Hryzak in der russisch-sowjetischen Ukraine der Jahre 1914 bis 1939 eine Entwicklung vom Volk zur Nation und wieder zurück. Im österreichischen, dann polnischen Gebiet verhielt es sich anders: In den zwanziger Jahren bezeichnete sich um Lemberg herum kaum jemand als Ukrainer. Auf polnischer Seite kam es einerseits nicht zur korenizacija [russ. „Verwurzelung“; in der UdSSR der zwanziger Jahre gebrauchter nationalitätenpolitischer Begriff, mit dem die kontrollierte Zulassung nationalkultureller Autonomie bei gleichzeitiger Sowjetisierung bezeichnet wurde; A.d.Ü.], wobei Wolhynien unter der Verwaltung des polnischen Wojewoden Henryk Józewski einen Sonderfall darstellte. Andererseits fanden schreckliche Geschehnisse wie der Holodomor [die politisch bewusst herbeigeführte Hungerkatastrophe in der Ukraine 1931/32], die Kollektivierung und die Beseitigung der sogenannten „Kulaken“ [das heißt der von der Sowjetmacht als „reiche Bauern“ eingestuften Landbevölkerung; A.d.Ü.] statt. In der Westukraine war die sowjetische Okkupation kürzer und forderte weniger Opfer. Auch die deutsche Besetzung fiel etwas milder aus. Daher entwickelte sich der Krieg nach 1945 für die Russen zu einer national verbindenden, für die Ukrainer zu einer spaltenden Erinnerung. Die beiden Teile der Ukraine fanden einen je unterschiedlichen Weg in die Nachkriegszeit. Kurz gesagt, verblassen die polnischen erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen im Vergleich zu den ukrainischen.

Wie auch immer, in den Jahren 1914 bis 1945 verlor die Ukraine den aktivsten Teil ihrer Gesellschaft. Hryzak hebt hervor, das Ausmaß der Verheerungen und Repressionen sei derart ungeheuerlich gewesen, dass die Ukrainer als Nation und die Ukrainische Sowjetrepublik als rudimentärer Staat Gefahr liefen zu verschwinden: „Allein in der Sowjetukraine fielen in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts 85 Prozent der Dichter, Schriftsteller und Literaturkritiker den Repressionen zum Opfer.“ Ähnlich verhielt es sich mit den Belarusen. Russland und die Russen schwebten nicht in einer solchen Gefahr.

Die sowjetische Nachkriegszeit

Die Nachkriegszeit brachte der Ukraine neue Gefahren. Die gesamte heutige Ukraine war Bestandteil der UdSSR, und die ukrainische Frage, vormals ein Problem vierer verschiedener Länder, wurde zu einer innersowjetischen Angelegenheit. Nach Stalins Tod 1953 kamen die Ukrainer in Reichweite eines neuen „Rats von Peresjaslaw“ [mit dem Rat von Peresjaslaw 1654 war faktisch der Anschluss der linksufrigen Ukraine an das moskowitische Zarentum eingeleitet worden; A.d.Ü.], ein zweites Mal in der Geschichte wurden sie zur Mitregierung des Reiches zugelassen. Im Gegenzug waren sie gezwungen, sich zu sowjetisieren, und Sowjetisierung war mit versteckter Russifizierung gleichbedeutend. Es liefen daher zwei gleichzeitige Prozesse ab. Einerseits waren in den 1970er Jahren drei Viertel der Leitungspositionen in der USSR von Ukrainern besetzt, und die Ukraine modernisierte sich: „[D]ie sechziger Jahre waren das einzige Jahrzehnt, in dem die Lebenserwartung in der Sowjetukraine der europäischen Lebenserwartung gleichkam.“ Andererseits verringerte sich aber von den 1960er bis zu den 1990er Jahren der Anteil der Ukrainischsprachigen, und die Ukraine lag auf dem letzten Platz der Sowjetrepubliken bei der Anzahl der in der Republiksprache gedruckten Bücher pro Kopf. Zwar verneinten die Kommunisten im Gegensatz zu den Zaren nicht die Existenz der ukrainischen Nation, doch diese durfte lediglich als ethnische, nicht als politische Nation bestehen.

Unabhängigkeit

Das ganze umfangreiche Buch Hryzaks lässt sich als Versuch lesen, die Vorgeschichte der Lage zu verstehen, in der sich die Ukraine seit 1991 und bis in die Gegenwart hinein befindet.

1991 trat das der Fläche nach größte Land in Europa und die dritte Nuklearmacht der Welt in Erscheinung. Doch schon Ende 1993 prognostizierte die CIA, das Land befinde sich auf dem Weg in einen Bürgerkrieg, der schlimmer sein werde als der in Jugoslawien. Der Zeitraum von 1991 bis 2023 ist nach Auffassung Hryzaks eine einzige Abfolge von Kriegen und Revolutionen. Und des Kampfes um die nationale Identität, eines notwendigen Kampfes, denn Mitte der 1990er Jahre war die Befürwortung der Unabhängigkeit bei den Ukrainern auf einen Tiefpunkt von wenig mehr als fünfzig Prozent abgesunken.

Die Wirtschaftslage war ein wesentlicher Grund dafür, dass so viele Ukrainer von der Unabhängigkeit enttäuscht waren. Hryzak hält fest, dass die verschiedenen Majdan-Proteste deswegen stattfanden, weil es eine Diskrepanz zwischen Potential und Wirklichkeit gab. Diese Diskrepanz fasst er in den Aphorismus: Die Ukraine ist ein reiches Land armer Leute. Und darum kämpft die Ukraine: Um die Selbstbefreiung von Armut und Gewalt. Das ist bisher einem Viertel der Welt gelungen, vor allem den Ländern der westlichen Christenheit mit Europa, Nordamerika, Australien, Neuseeland sowie als Ausnahme von der Regel den asiatischen Tigerstaaten. Jetzt stellt sich die Frage, was aus den früheren Sowjetrepubliken wird. „Die Ukraine ist der Wagehals, der sich auf die Weltwaage werfen lässt, um festzustellen, auf welche Seite sich die Schale neigt“, stellt Jaroslaw Hryzak fest. Die Jahre 2014 bis 2022 sahen eine Verschiebung des Ostens nach Westen. Die Frage bleibt, ob die neue Grenze östlich oder westlich des Donbas verlaufen wird.

Das Problem Russlands bestand darin, dass Russland immer in Russland lag. Die Ukraine dagegen konnte aus der Erfahrung verschiedener Länder schöpfen. Die liberalen ukrainischen Historiker meinen, der wichtigste Unterschied zwischen Russland und der Ukraine bestehe nicht in Sprache oder Religion, sondern in der politischen Tradition; durch Vermittlung der Republik Polen stand ein Teil der Ukraine mit westeuropäischen und globalen Entwicklungen in Verbindung. So entstand ein anderes Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft. Wir sind Zeugen des Triumphs dieses Modells.

Nach 1991 kam es nicht zu einem Krieg zwischen Polen und der Ukraine, aber 2014 und dann 2022 zu einem zwischen Russland und der Ukraine. Diese Äußerung Hryzaks sei als abschließende Pointe gewählt: „Was für Westeuropa die deutsch-französische Aussöhnung war, wurde für Osteuropa das Einvernehmen zwischen Polen und der Ukraine. […] Der Donbas und das russisch-ukrainische Grenzgebiet spielen im Europa der Gegenwart dieselbe Rolle wie im deutsch-französischen Falle Elsass und Lothringen.“

 

Originalausgabe: Jaroslav Josypovyč Hrycak, Podolaty mynule. Hlobal’na istorija Ukraïny [Die Vergangenheit überwinden. Eine Globalgeschichte der Ukraine], Kyïv: Portal, 2021 Englischsprachige Ausgabe: Yaroslaw Hrytsak: Ukraine. The Forging of a Nation, übers. v. Dominique Hoffman, London: Sphere, 2023.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

 

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Zbigniew Rokita

Zbigniew Rokita

Zbigniew Rokita ist Reporter und spezialisiert sich auf Themen rund um Osteuropa.

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