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Russlands Verschleppung unbegleiteter ukrainischer Kinder

Einleitung

Seit 2014 und insbesondere seit 2022 betreibt Moskau eine ungeheuerliche Politik groß angelegter Verschleppungen und Deportationen ukrainischer Zivilisten, darunter Zehn-, wenn nicht Hunderttausender Kinder. Unter ihnen befinden sich offenbar auch Tausende unbegleitete ukrainische Minderjährige. Belarus hat sich an dieser Kampagne beteiligt, wenn auch in relativ geringem Umfang. Diese Aktionen sind Ausdruck allgemeinerer Pathologien sowjetischen bzw. neosowjetischen Denkens und Verhaltens.

Sowohl die russische als auch die belarusische Regierung haben von der Innen- und Außenpolitik der UdSSR einen generell instrumentellen Ansatz in Bezug auf die Menschenrechte von Kindern geerbt. Mit dem sogenannten „Dima-Jakowlew-Gesetz“ aus dem Jahr 2012 verbot Moskau beispielsweise die Adoption russischer Kinder durch amerikanische Staatsbürger als Vergeltung für das sog. Magnizki-Gesetz der USA gegen russische Beamte, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren. Die russische Regierung und das Parlament beraubten damit Tausende von schwerbehinderten russischen Kindern, die in russischen Pflegeheimen leben, der Chance, in amerikanischen Pflegefamilien aufzuwachsen.

Dieser Artikel skizziert kurz die Geschichte der Verschleppung unbegleiteter ukrainischer Kinder seit dem 24. Februar 2022 sowie mit ersten Reaktionen darauf. Erste juristisch relevante Dokumente wie die Berichte der vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (UN) im Februar 2022 eingesetzten unabhängigen internationalen Untersuchungskommission zur Ukraine oder die im März 2023 vom Internationalen Strafgerichtshof erlassenen Haftbefehle gegen Wladimir Putin und Marija Lwowa-Belowa bleiben unberücksichtigt. Diese und ähnliche juristische Themen wurden detailliert in einem parallel erstellten Bericht des Europäischen Parlaments vom Januar 2024 durch Dr. Yulia Ioffe behandelt.

Russlands Deportationen im Kontext

Im Rahmen des hier vorliegenden Beitrages wäre es auch gerechtfertigt, die Geschichte begleiteter ukrainischer Kinder einzubeziehen, die von der russischen Regierung zusammen mit ihren erwachsenen Erziehungsberechtigten umgesiedelt wurden – entweder innerhalb der von Russland besetzten ukrainischen Gebiete oder von der Ukraine nach Russland. Sie erleiden zum Teil ähnliche Schicksale und sind derzeit auch für die Ukraine verloren. Daher unterscheiden Kyjiwer Beamte in ihren öffentlichen Verlautbarungen manchmal nicht ausdrücklich zwischen begleiteten und unbegleiteten ukrainischen Kindern, die nach Russland verbracht wurden. Oft werden begleitete wie auch unbegleitete Minderjährige unter Anwendung oder Androhung von Zwang gegenüber den Kindern selbst und/oder ihren Erziehungsberechtigten vom russischen Staat transferiert.

Sowohl die zwangsweise Verbringung als auch künftige Rückführung begleiteter ukrainischer Kinder ist jedoch ein anderes Problem als das derzeitige Schicksal und die Rückkehr unbegleiteter ukrainischer Minderjähriger, die vom russischen Staat verschleppt wurden. Auch die meisten der unbegleiteten ukrainischen Kinder, die unter russische Vormundschaft geraten sind, haben zwar Verwandte oder andere gesetzliche Vertreter in der Ukraine. Ihre Rückkehr stellt jedoch eine andere, meist weit komplexere Herausforderung dar, als die Rückführung begleiteter Kinder in die Ukraine.

Ein besonders komplizierter Aspekt der Verbringung und anschließenden Russifizierung unbegleiteter ukrainischer Kinder ist der Zeitfaktor. Je länger die vom russischen Staat organisierte Assimilierung unbegleiteter ukrainischer Kinder andauert, desto problematischer wird die Rückführung sowohl für sie als auch für ihre Familien. Die Kinder werden in die russische Gesellschaft integriert, an ihre Pflegegemeinschaften oder -familien gebunden und mit Kremlpropaganda imprägniert. Je länger die russische Vormundschaft andauert, desto wahrscheinlicher wird es, dass Kinder mit einer Rückführung nicht mehr einverstanden sind, wenn diese möglich wird – ein Effekt, dessen sich Moskau zweifellos bewusst ist und auf den es zynisch zählt.

Ein offizielles russisches Regierungsbulletin vom Herbst 2023 berichtete unverblümt über eine Gruppe von 31 unbegleiteten ukrainischen Minderjährigen, die 2022 in Mariupol aufgegriffen und über Donezk nach Russland verschickt wurden. Sieben dieser Jugendlichen, die 2023 das 18. Lebensjahr vollendet hatten, so das Regierungsbulletin, beschlossen, in Russland zu bleiben. Eine solche nunmehr unumkehrbare Folge der Verschleppung zeigt, dass Russlands Assimilationspolitik gegenüber ukrainischen Kindern bereits nachhaltige Wirkungen hat.

Russlands intensive nationale und internationale Propagandakampagnen, sein multivariater Krieg (hybrid, delegiert, konventionell, genozidal usw.) gegen die Ukraine, seine terroristische Besetzung und Bombardierung ukrainischer Gebiete sowie seine Umerziehungsprogramme für Kinder und Erwachsene zielen darauf ab, Unterwerfung zu erzeugen. Die meisten Äußerungen von Ukrainern unter Besatzungsherrschaft oder innerhalb Russlands werden unter Druck getätigt und sollten nicht für bare Münze genommen werden. Sie können echt, aber auch bewusst falsch, situationsbedingt, konformistisch oder anderweitig verzerrt sein. Darüber hinaus können sich solche Meinungen im Laufe der Zeit ändern und hängen nicht nur vom aktuellen Aufenthaltsort der Kinder, sondern auch von der Lokation ihrer sie begleitenden oder von ihnen getrennten Erziehungsberechtigten ab.

Moskaus Kinderverbringung ist ein Aspekt der seit zehn Jahren andauernden militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine, die ihren Charakter als eine demographische und nicht nur geographische Eroberung sowie als ein national-kulturelles und nicht nur militärisch-politisches Projekt verdeutlicht. Eines der Ziele der „speziellen Militäroperation“ seit 2022 ist die Übernahme und anschließende Russifizierung einer großen Zahl ukrainischer Bürger, um das Schrumpfen der slawisch-orthodoxen Bevölkerung Russlands auszugleichen. Dieses Ziel könnte – zumindest zu Beginn der Großinvasion – für Moskau ebenso wichtig gewesen sein wie die Annexion ukrainischen Territoriums. Die Verschleppung und Deportation von Kindern findet bereits seit 2014 auf der besetzten Krim und im Donbas statt. Prominent wurde das Phänomen jedoch erst 2022, als die Zahl der illegalen Überstellung ukrainischer Minderjähriger durch Russland stark anstieg.

Angesichts des konzertierten Charakters von Moskaus Bemühungen, minderjährige ukrainische Bürger zu deportieren und zu russifizieren, haben verschiedene Wissenschaftler und internationale Institutionen begonnen, den Begriff „Völkermord“ auf Russlands Vorgehen anzuwenden. In einem Bericht der Parlamentarischen Versammlung des Europarats aus dem Jahr 2023 heißt es unter anderem, dass „die dokumentierten Beweise für diese Praxis mit der internationalen Definition von Völkermord übereinstimmen“. Dies ist auch der Ansatz und die Terminologie, die von den meisten ukrainischen Beamten präferiert wird.

Schwankende Zahlenangaben

Zwischen dem 24. Februar 2022 und dem 18. März 2024 hat Moskau mindestens 19.546 unbegleitete ukrainische Kinder innerhalb der Ukraine verschleppt oder nach Russland deportiert. Dies ist eine offizielle Zahl, die vom Portal „Kinder des Krieges“ der ukrainischen Regierung unter childrenofwar.gov.ua bereitgestellt wird, das auch Statistiken über getötete, verstümmelte, vermisste, gefundene, missbrauchte und rücküberführte Kinder enthält. Die Zahl umfasst jedoch nur jene unbegleiteten Kinder, über die der Regierung von Verwandten, Zeugen oder lokalen Behörden Informationen über deren Deportation nach Russland oder Verbringung innerhalb der von Russland besetzten Teile der Ukraine gemeldet wurden. Vermutlich ist die tatsächliche Zahl wesentlich höher.

Seit 2022 kursiert eine Vielzahl von Schätzungen über die Gesamtzahl der Verschleppungen. In einem Interview vom Juni 2023 wies Darja Herasymtschuk, die Beauftragte des ukrainischen Präsidenten für Kinderrechte, eine von den russischen Behörden veröffentlichte schwindelerregende Zahl von angeblich 744.000 „evakuierten“ ukrainischen Kindern zurück. Die ukrainische Kinderbeauftragte schätzte stattdessen, dass es sich um bis zu 200-300.000 deportierte und verschleppte Kinder handeln könnte. Diese Zahl und die Schätzungen der ukrainischen Behörden in ähnlicher Größenordnung umfassen scheinbar auch begleitete Minderjährige, die seit 2022 mit ihren Erziehungsberechtigten mehr oder minder zwangsweise nach Russland verbracht wurden.

Offenbar hat Moskau absichtlich eine übertriebene Schätzung der „evakuierten“ Kinder in Umlauf gebracht, um den Unterschied zwischen der potenziell völkermörderischen Deportation und Russifizierung ukrainischer Kinder sowie anderen Formen des Transfers ukrainischer Minderjähriger nach Russland zu verwischen. Die Zahl von 744.000 könnte, so sie nicht einfach aus der Luft gegriffen ist, zum Beispiel auch Kinder ukrainischer Arbeitsmigranten in Russland umfassen. Eine solche Verwässerung der von Russland begangenen Verbrechen durch statistische Übertreibungen soll die Natur, Dimensionen und Absichten der russischen Menschenrechtsverletzungen verschleiern.

Russische Gesetze und Akteure

Während es im Zeitraum 2014-2021 nur einzelne Verbringungen von Kindern gegeben hatte, begann Anfang 2022 noch vor der Großinvasion eine systematische und massenhafte Überstellung von Kindern im Rahmen großer Deportationen von Zivilisten aus dem Donbas nach Russland. Sie beschleunigte sich nach dem 24. Februar 2022 im Rahmen von Moskaus so genannter „spezieller Militäroperation“ in der Ukraine.

Russland hat verschiedene neue Rechtsakte erlassen, um die Russifizierung und Assimilierung ukrainischer Kinder zu erleichtern. Dazu gehören der Regierungsbeschluss Nr. 348 vom März 2022 bezüglich der Integration ukrainischer Kinder aus der sogenannten Lugansker Volksrepublik (LPR) und Donezker Volksrepublik (DPR) in die russische Gesellschaft; der Erlass des russischen Bildungsministeriums Nr. AB-631/05 vom März 2022, der darauf abzielt, verschleppte Kinder mit schlechten Russischkenntnissen zu identifizieren und umzuerziehen; und Änderungen der Erlasse des russischen Präsidenten von 2019 Nr. 183 und 187 vom Mai 2022, die das Verfahren zur Erlangung der russischen Staatsbürgerschaft für ukrainische Kinder ohne elterliche Fürsorge vereinfachten. Nach diesen und einer Reihe weiterer Exekutivakte verabschiedete die Staatsduma am 18. März 2023 ein Gesetz, das den erleichterten Entzug der ukrainischen Staatsbürgerschaft für Kinder unter 14 Jahren ermöglicht. Diese Änderungen haben zu einer Situation geführt, in der Kinder – laut eines Berichts des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa – „praktisch kein Mitspracherecht im gesamten Prozess [des Wechsels der Staatsbürgerschaft] haben und dasselbe gilt für ihre Eltern oder andere (ursprünglich) Erziehungsberechtigte in Fällen, in denen Kinder von ihnen getrennt wurden“.

Am Verschleppungs- und Adoptionsverfahren ist eine Reihe von russischen Regierungsstellen beteiligt, wobei Russlands Kinderkommissarin Marija Lwowa-Belowa eine koordinierende Rolle spielt. Mit der Verleihung der russischen Staatsbürgerschaft haben Adoptivkinder Anspruch auf „soziale Garantien“, d. h. Zugang zu staatlichen Subventionen. Dies schafft finanzielle Anreize für potenzielle Adoptiveltern. Nach dem russischen Familiengesetzbuch sind adoptierte Minderjährige nichtadoptierten Kindern gleichgestellt. Russische Adoptionen können, laut OSZE-Bericht, „die Änderung des Vornamens, des Familiennamens sowie des Geburtsdatums und -ortes des Kindes zur Folge haben. Es gilt der Grundsatz der Geheimhaltung, weshalb es keine Datenbank für adoptierte Kinder gibt und auch nicht geben kann“. Dies macht es schwierig, den Status der von Russland adoptierten ukrainischen Kinder und ihrer Verwandten in der Ukraine zu ermitteln.

Die russische Regierung reagierte 2022 auf internationale Kritik an den Kinderdeportationen mit der Behauptung, die ukrainischen Minderjährigen seien lediglich in Pflegefamilien untergebracht und nicht zur Adoption durch russische Familien freigegeben. Die Plausibilität solcher Widerlegungen ist jedoch fraglich. So ist etwa bekannt, dass seit 2014 etliche Waisenkinder von der besetzten Krim und dem Donbass, die nach Russland zwangsumgesiedelt wurden, nicht nur in Pflegefamilien untergebracht, sondern auch von russischen Staatsbürgern adoptiert wurden.

Erklärungen und Maßnahmen der Ukraine

Kyjiw hat sich in etlichen öffentlichen Erklärungen zu den Zwangsverbringungen geäußert. Am 8. April 2022 informierte die damalige ukrainische Menschenrechtsbeauftragte, Ljudmyla Denisowa, offiziell den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes (UNCRC) und die Globale Allianz nationaler Menschenrechtsinstitutionen. Zu diesem Zeitpunkt waren über 121.000 Kinder aus der Ukraine deportiert worden – hauptsächlich mit ihren Familien aus dem Donbas. Als diese Praxis fortgesetzt und beschleunigt wurde, gaben ukrainische Beamte immer mehr Erklärungen zum Thema ab. Im März 2023 appellierte die stellvertretende Ministerpräsidentin der Ukraine, Iryna Wereschtschuk, erfolglos an Moskau:

„Ich wende mich öffentlich an die russische Ombudsfrau Tatjana Moskalkowa und die russische Ombudsfrau für Kinderrechte Marija Lwowa-Belowa. Ich schlage vor, der ukrainischen Seite unverzüglich die Listen aller Waisen und Kinder, die elterlicher Sorge entzogen wurden, zu übergeben, die: (1) am 24. Februar 2022 ukrainische Staatsbürger bis zum Alter von 18 Jahren waren, (2) sich derzeit in den vorübergehend besetzten Gebieten der Ukraine befinden, (3) aus den vorübergehend besetzten Gebieten der Ukraine in das russische Hoheitsgebiet verbracht wurden“.

Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2022 richtet sich die ukrainische Kritik zunehmend auch an multilaterale Institutionen und ausländische Partner. Vor allem internationale Organisationen, die mit der Verhinderung und Rückgängigmachung von Kinderverbringungen betraut sind, werden von Kyjiw als unzureichend aktiv und effektiv gebrandmarkt. Im November 2022 kritisierte der Leiter des ukrainischen Präsidialamtes, Andrij Jermak, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz: „Aufgrund der sehr passiven Haltung der internationalen Organisationen, insbesondere des IKRK, sind wir leider nicht in der Lage, die genaue Zahl unserer Kinder und ihren Aufenthaltsort zu bestimmen“.

Da die Kinderverbringung weitergeht und nur sehr wenige rückgängig gemacht wurden, hat die ukrainische Regierung verschiedene Initiativen in dieser Hinsicht ins Leben gerufen. Dazu gehören das Nationale Widerstandszentrum, das unter anderem Informationen über illegale Verschleppungen sammelt, das Zentrum zum Schutz der Kinderrechte, das Programm „Bring Kids Back UA“ sowie der Koordinierungsrat für Kinderschutz und -sicherheit beim Präsidenten der Ukraine unter Vorsitz von Präsidialamtsleiter Jermak. „Bring Kids Back UA“ koordiniert Bemühungen ukrainischer Regierungsstellen, internationaler und nichtstaatlicher Organisationen sowie engagierter Bürger. Laut Kommissar Herasymtschuk zielt dieses Programm darauf ab, ukrainische Kinder, die von Russland deportiert wurden, zurückzubringen und zu reintegrieren, familiäre Erziehungsformen für verwaiste Kinder zu entwickeln, Straftaten zu erfassen, interparlamentarische Zusammenarbeit zu fördern und mit der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Bis zum Herbst 2023 waren jedoch weniger als 400 Kinder der bisher fast 20.000 offiziell registrierten vertriebenen oder deportierten Kinder in das von der Regierung kontrollierte Gebiet der Ukraine zurückgekehrt.

Ausländische Reaktionen

Die massenhafte Verschleppung von Kindern durch Russland ist in der breiten internationalen Öffentlichkeit nur langsam bekannt geworden.  Nach Beginn der russischen Großinvasion wurde sie zunächst in Ostmitteleuropa thematisiert. Am 25. Mai 2022 gaben beispielsweise die für Soziales zuständigen Minister der Ukraine, Estlands, der Tschechischen Republik, Lettlands, Litauens, Polens und der Slowakei eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie die illegalen Deportationen und damit verbundenen Verstöße gegen das Völkerrecht durch Russland verurteilten. Am 1. Juli 2022 forderten internationale Menschenrechtsorganisationen ein Moratorium für internationale Adoptionen ukrainischer Kinder, die nicht mit den Regelungen der ukrainischen Regierung und des Völkerrechts in Einklang stehen. Bis Anfang März 2023 wurde dieser Aufruf von 43 internationalen Nichtregierungsorganisationen (NROs) unterzeichnet.

Im September 2022 nahm das Europäische Parlament eine Entschließung an, in der es Russland unter anderem dazu aufforderte, alle Zwangsverbringungen und illegalen Adoptionen ukrainischer Kindern zu unterlassen. Als erste bedeutende ausländische Erklärungen dieser Art wurde die Entschließung des EP in der Ukraine begrüßt, da sie vollständig die Positionen und Forderungen der ukrainischen Regierung widerspiegelte. In einer Entschließung vom Februar 2023 ging das EP noch weiter und erklärte, dass die Verbringung von Kindern von einer ethnischen Gruppe in eine andere den Tatbestand des Völkermordes erfüllt.

Kurz darauf, im April 2023, nutzte Russland ein informelles UN-Verfahren, um Desinformationen über seine Kindertransporte zu verbreiten. Als Reaktion auf Moskaus Aktion unterzeichnete die EU zusammen mit 22 Staaten eine „Gemeinsame Erklärung“. In der Deklaration heißt es u. a: „Wir verurteilen unmissverständlich das Vorgehen Russlands in der Ukraine, insbesondere die Zwangsdeportation ukrainischer Kinder, sowie andere schwere Verstöße gegen Kinder, die von den russischen Streitkräften in der Ukraine begangen werden“.

Am 1. Juni 2023, dem Internationalen Tag des Kindes, gaben 23 ausländische diplomatische Vertretungen in der Ukraine eine gemeinsame Erklärung zur Verbringung ukrainischer Kinder durch Russland ab: „Wir werden Russland für sein illegales und barbarisches Vorgehen in der Ukraine zur Rechenschaft ziehen“. Am 18. August 2023 unterzeichneten die ukrainische Kinderrechtsbeauftragte Herasymtschuk, die residierende UN-Koordinatorin in der Ukraine, Denise Brown, und der UNICEF-Vertreter Murat Shahin einen gemeinsamen Präventionsplan, um grobe Verstöße gegen die Rechte von Kindern im Zusammenhang mit der bewaffneten Aggression Russlands gegen die Ukraine zu unterbinden.

Im Juli 2023 gab der Berater des Leiters des Büros des ukrainischen Präsidenten Mychajlo Podoljak an, dass Riad und Ankara mit Moskau über die Rückführung ukrainischer Kinder verhandelten. Im Oktober 2023 bestätigte die Financial Times, dass die Türkei und Saudi-Arabien seit Monaten mit Russland über die Rückführung ukrainischer Kinder verhandeln. Das Emirat Katar betrieb ebenfalls informelle Diplomatie und erreichte im Herbst 2023 die Rückführung von vier Kindern aus Russland in die Ukraine.

Politikempfehlungen für die EU und weitere Akteure

Bis verantwortungsvollere Regierungen in Russland und Belarus an die Macht kommen, sind massive multilaterale und multidirektionale Maßnahmen erforderlich, um eine rasche und spürbare Korrektur der jetzigen Situation zu bewirken. Nationale und transnationale Akteure müssen von verbalen Interventionen zu ergebnisorientiertem Handeln übergehen. Eine Kombination öffentlichen Drucks mit informeller Diplomatie muss den Weg für eine schnellstmögliche Heimkehr einer größtmöglichen Zahl ukrainischer Kinder ebnen.

Da eine umfassende Lösung des Problems gemeinsam mit Moskau derzeit nicht möglich scheint, ist eine weltweite Kampagne zur Verurteilung und Anprangerung Russlands durch nationale Regierungen und Parlamente, internationale Organisationen und Menschenrechts-NROs in Zusammenarbeit mit Medien und sozialen Netzwerken überfällig. Parallel dazu sollten diplomatische Bemühungen zur Zusammenführung ukrainischer Kinder mit ihren Familien durch alle an einer Lösung interessierten Akteure verstärkt und Erfahrungen in dieser Hinsicht verbreitet werden. Erste, wenn auch nur geringe, Erfolge in dieser Hinsicht wurden bereits erzielt und zeigen, dass russische Kooperation bei informell organisierten Rückführungen möglich ist. Diesen Beispielen folgend sollten weitere Vermittlungsbemühungen von Regierungen z.B. Asiens und/oder von nicht-westlichen NROs, etwa von Kirchen, Gewerkschaftsorganisationen und ähnlichen unpolitischen Gruppen, unternommen werden. Die bisherigen Bemühungen von Staaten wie Katar, Saudi-Arabien oder der Türkei können als Vorbild dienen.

EU-Delegationen und Botschaften von EU-Mitgliedstaaten in aller Welt sollten sich mit erfolgreichen Vermittlern über deren Erfahrungen austauschen. Die Bereitschaft und Fähigkeit weiterer nicht-westlicher Regierungen und Organisationen, als informelle Vermittler zwischen russischen Behörden und ukrainischen Familien zu fungieren, sollte erkundet werden. Unter Kyjiwer Beobachtern besteht auch die Hoffnung, dass für Russland relevante Länder wie Kasachstan, Indien oder Südafrika – im Rahmen von Strukturen wie der Eurasischen Wirtschaftsunion oder der BRICS-Gruppe – bei der Vermittlung einer Rückkehr verschleppter Kinder in die Ukraine helfen können.

EU-Beamte und Diplomaten sollten eine gemeinsame Initiative der EU-Mitglieder bei den Vereinten Nationen für die Verabschiedung einer speziellen Resolution durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen unterstützen, die ausschließlich von Russland verschleppten ukrainischen Kindern gewidmet ist. Der Resolutionstext sollte von der russischen Regierung in aller Deutlichkeit die Rückführung aller verschleppten oder deportierten ukrainischen Kinder in den regierungskontrollierten Teil der Ukraine einfordern. Sie sollte ein sofortiges Ende aller zwangsweiser Transfers ukrainischer Zivilisten, einschließlich unbegleiteter ukrainischer Minderjähriger, innerhalb der von Russland besetzten Gebiete und nach Russland fordern. Darüber hinaus sollten Abgeordnete des Europäischen Parlaments ihren Kollegen zu Hause die Formulierung und Verabschiedung entsprechender nationaler parlamentarischer Erklärungen vorschlagen. Auch sollte die Annahme entsprechender multilateraler Resolutionen durch interparlamentarische Versammlungen initiiert werden.

Ausschüsse und Fraktionen des EP können weitere Aktionen initiieren, um die Öffentlichkeit stärker auf das Schicksal deportierter Kinder und ihrer Familien aufmerksam zu machen. Dazu könnten öffentliche Anhörungen in den Räumlichkeiten des EP und nationaler Parlamente mit Angehörigen verschleppter ukrainischer Kinder gehören, die bereit sind, ihre Erfahrungen und Gefühle öffentlich zu äußern. Abgeordnete des Europäischen Parlaments und anderer Parlamente könnten erwägen, Patenschaften für bestimmte verschleppte Kinder und ihre Familien zu übernehmen, soweit dies von diesen gewünscht und begrüßt wird. Spezielle Konferenzen in Brüssel und an anderen relevanten Orten sollten ukrainische zivilgesellschaftliche Gruppen, Aktivisten aus den EU-Mitgliedstaaten und internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, die sich auf den Schutz von Kindern spezialisiert haben, zusammenbringen. Sie sollten auch Medienvertreter einbeziehen.

Die formalen rechtlichen Folgen der Deportationen nach Russland, insbesondere wenn sie zu einer Adoption führen, werden oft schwerwiegender sein als diejenigen von Verschleppungen innerhalb der besetzten Gebiete der Ukraine. Solange die besetzten ukrainischen Gebiete nicht befreit sind, können zwangsweise Transfers ukrainischer Kinder nach Russland nichtsdestoweniger manchmal leichter rückgängig gemacht werden als illegale Verbringungen innerhalb der von Russland eroberten Teile der Ukraine. Eine rudimentäre Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft funktionieren in Russland immer noch in geringem Maße oder zumindest besser als in den ukrainischen Gebieten, die Russland 2014 und 2022 annektiert hat. Vor diesem Hintergrund sollten Diplomaten, Politiker und andere relevante Persönlichkeiten versuchen, noch verbliebene öffentlichen oder privaten Verbindungen – die in der Regel vor 2014 geknüpft wurden – zu russischen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen zu nutzen, um die Auffindung, Identifizierung und Rückführung von nach Russland verbrachten ukrainischen Kinder zu ermöglichen.

Sowohl journalistische als auch wissenschaftliche Untersuchungen sollten sich auf den genozidalen Charakter von Russlands Kinderdeportationen konzentrieren. Etliche Beobachter weigern sich bislang, den Begriff des Völkermords auf Russlands Vorgehen in der Ukraine seit dem 24. Februar 2022 anzuwenden. Es gibt jedoch einen wachsenden Kreis von Juristen, Politikwissenschaftlern und Historikern, der das Verhalten Moskaus in der Ukraine als völkermörderisch einstuft. Dies betrifft auch die russische Verschleppung und Deportation von Kindern. Nach ersten, bereits veröffentlichten Untersuchungen zur Frage, inwieweit die Völkermordkonvention auf die Deportation und Verschleppung ukrainischer Kinder durch Russland anwendbar ist, sollten weitere Expertenanalysen in dieser Richtung und die anschließende Verbreitung ihrer Ergebnisse gefördert, unterstützt und finanziert werden.

Der Text ist eine verkürzte Version des Berichts „Russia’s Forcible Transfers of Unaccompanied Ukrainian Children: Responses from Ukraine, the EU and Beyond“, der 2023 für das Europäische Parlament erstellt und Anfang 2024 vom Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien veröffentlicht wurde.

 

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Andreas Umland

Andreas Umland

Dr. Andreas Umland studierte Politik und Geschichte in Berlin, Oxford, Stanford und Cambridge. Seit 2010 ist er Dozent für Politologie an der Kyjiwer Mohyla-Akademie (NaUKMA) und seit 2021 Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) des Schwedischen Instituts für Internationale Beziehungen (UI).

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