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„Wir brechen auf aus dem Land unserer Kindheit“

„In der Nähe erwachte / am Morgen ein Vulkan, der Feuer und Lava spuckt // auf das Land unserer Kindheit. Wir brechen endgültig auf, / hier Dampf und Stahl, dort warten brüllende Betreuer / und Wolfsrudel.“ Der Aufbruch aus der Kindheit im Gedicht „Paradiesstrand“ ist eines der vordergründigen Motive des Gedichtbands „Kolonien“ von Tomasz Różycki, der bereits 2006 in Polen erschienen ist und seit vergangenem Jahr auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Gleichzeitig verschränken sich in der Kindheitserinnerung zwei Bedeutungsebenen des Wortes „kolonie“ im Polnischen: Es bezeichnet sowohl die Sommerferienlager für Kinder, die hier eigentlich jede und jeder aus eigener Erfahrung kennt, wie auch die „Kolonien“ als besetzte Territorien außerhalb der kolonisierenden Staaten.

Wie in doppelt- und dreifachbelichteten Fotografien überlagern sich in den Gedichten Bildwelten, Anspielungen an Sommerurlaube, an Strand und kindliche Freude mit Bildern von Gewalt und imperialer Expansion, Aneignungen und deren vernichtenden Folgen. Diese Kipppunkte der Vorstellungswelten und Realitäten, der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Bewusstsein, den Spuren von Gewalt- und Vernichtungsgeschichte im Leben einzelner Individuen ist eine Grundstimmung in dem Gedichtband wie auch in Różyckis gesamten Werk. Häufig bezieht sich die Erlebniswelt auf die Spuren der Gewaltgeschichte in Ostmitteleuropa vor allem im 20. Jahrhundert, jedoch auch auf Spuren von Vernichtung und Gewalt weltweit. Różycki findet eine strenge Form, in der der Schrecken, die Wut und das Trauern über das, was vernichtet worden ist, gehalten wird. So lesen sich seine kleinen poetischen Bilder auch als Kristallisationspunkte von sich überlagernden Sinneseindrücken eines Subjekts, das sich der Geschichte öffnet.

Der 1970 im schlesischen Opole geborene Tomasz Różycki ist eine der wichtigsten poetischen Stimmen Polens. Er wurde im vergangenen Jahr mit dem renommiertesten polnischen Lyrikpreis, dem Wislawa-Szymboska-Preis, für seinen aktuellen Band „Ręka pszczelarza“ (Die Hand des Imkers) ausgezeichnet, der während seines Aufenthalts in Berlin mit dem DAAD-Künstlerprogramm während der Pandemie entstand. Neben sieben Gedichtbänden, mehreren Essays (auf Deutsch zuletzt „Über die Farben. Berliner Notizen“, 2020 erschienen bei edition.fototapeta), einem gerade erschienen zweiten Roman sowie mit seinem in Polen bereits zum „Klassiker“ gewordenen Poem „Dwanaście stacji“ (2004, auf Deutsch „Zwölf Stationen“, 2009 in der Übersetzung von Olaf Kühl erschienen), übersetzt Różycki auch aus dem Französischen. 2020 war er außerdem Gastprofessor an der Humboldt-Universität Berlin. Sein Gedichtband „Kolonien“ befand sich unter den Finalisten des Nike-Literaturpreises in Polen und auch in der englischen Übersetzung von Mira Rosenthal wurde er mehrfach ausgezeichnet und erhielt international viel Anerkennung.

Dass ein ganzer Gedichtband (und nicht nur einzelne Gedichte) übersetzt wird und im Ausland erscheint, ist bei Gegenwartsdichtern eher eine Seltenheit. Im Fall von Różycki hat der Berliner Verlag edition.fototapeta und der Übersetzer Bernhard Hartman damit einen großen Wurf gewagt, der ein wahrer Schatz für die Lyrik und Rezeption der polnischen Lyrik in Deutschland ist. Für Różycki ist die Veröffentlichung eines gesamten Bandes aber auch werkspezifisch von besonderer Bedeutung. In den meisten seiner Lyrikbände sind die Gedichte streng durchnummeriert und folgen einheitlichen Versmustern. „Kolonien“ ist durchgängig in französischen Sonetten (drei Strophen à vier Versen werden von einer Strophe mit zwei Versen abgeschlossen) geschrieben, die Nummerierung der 77 „Lieder“ gruppiert sie zu einer größeren Einheit: „Auf diese Weise schafft er Kontexte, in denen das einzelne Gedicht eine andere Wirkung entfaltet als in der isolierten Lektüre oder im Rahmen einer anders gestalteten Auswahl“, wie der Übersetzer Bernhard Hartmann im Nachwort zusammenfasst. Worin besteht also die übergeordnete Einheit?

„Kolonien“ umfasst mehrere kleine innere Zyklen, die gerade dadurch ihren Reiz entfalten, dass sie ein Motiv, ein Erinnerungsstück oder einen Erinnerungsort aus verschiedenen, sich teils widersprechenden Blickwinkeln betrachten. Am deutlichsten wird dies in dem Zyklus, der die Tätigkeit des Dichtens metapoetisch reflektiert und die eigene Zerrissenheit, Abhängigkeit und Sinnhaftigkeit vom Schreiben hinterfragt. Alle Gedichte dieses Zyklus beginnen mit dem Satz „Als ich anfing zu schreiben, da wusste ich noch nicht…“. Mal wird er fortgeführt mit: „…was Gedichte mit mir machen, wie sie mich plagen, / mich zum Gespenst werden lassen, unausgeschlafen, / mit durchsichtiger Haut, zu einem seltsamen Wicht“ (Kaffee und Tabak). Ein anderes Mal reflektiert das lyrische Ich: „dass jedes meiner Worte von der Welt ein Stück / verschwinden lässt und dann an dessen Platz zurück / nur Leere bleibt. Ich wusste nicht, dass das Gedicht // mir bald das Vaterland ersetzt […]“ (Widrige Winde).

Hierin überschneidet sich die metapoetische Reflexion auch mit einem anderen Motiv des Bandes: das fortdauernde Gefühl der Wurzellosigkeit, das nur in der Literatur Heimat findet. Die Erfahrung der Generation der nach dem Zweiten Weltkrieg Zwangsumgesiedelten findet auch noch in den Generationen der Kinder und Enkel ihren Wiederhall. Die Polen, die nach dem Krieg das damals polnische Lwów und nun zur Ukraine gehörerde Lwiw und dessen Umgebung verlassen mussten und beispielsweise in Schlesien angesiedelt worden sind, fanden hier Häuser, Gegenstände und Straßen, die gerade wiederum fluchtartig von der ehemaligen deutschen Bevölkerung verlassen worden waren. „Alles bei mir war ehemals deutsch“, beschreibt das lyrische Ich in „Totems und Perlenketten“ die Absurdität, nun in den Häusern derer leben zu müssen, die gerade noch Feind waren. Als Ausweg bleibt dem lyrischen Ich nur die Auseinandersetzung und die Anverwandlung: „und ich gründete auf eben diese Relikte, / diese Reste mein Leben, hier werde ich herrschen, / werd sie verdauen, zersetzen, muss mir aus ihnen // ein Vaterland bauen […]“.

Die Spuren des Dichters, der zwar selbst in Schlesien wohnt, führen ihn jedoch vielfach zurück dahin, wo sein Vater geboren worden ist und wo seine Familie über Generationen lebte: nach Lwiw. Er folgt dabei nicht nur den familiären Spuren wie in einem seiner berühmtesten Gedichte „Verbrannte Karten“, sondern auch den literarischen Spuren. Neben Debora Vogel, die als Jüdin im Ghetto von Lwiw gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem Kind erschossen worden ist, ist vor allem Bruno Schulz eine markante literarische Referenz. Dem polnisch-jüdischen, galizischen Schriftsteller widmet sich ebenfalls ein kleiner innerer Zyklus des Bandes: „Zimt und Nelken“, „Die Auslöschung des Dorfes“ und „Die Alte Festung“. Mit Schulz, der das „Heranreifen zur Kindheit“ als Ideal begriffen und eine mythische Kunsttheorie zu seinem poetischen Programm erhoben hat, teilt sich Różycki eine Faszination für die Kindheit als Quelle wahrhaftiger, sinnlicher Empfindungen, die mit der Zeit vom Erwachsenenwerden, von Trauer und Schmerz überschrieben werden und als Quelle der Inspiration versiegen (können). „Wie konnte nur das Kindheitsparadies so rasch zu Asche werden, / ganz einfach wegzupusten?“, fragt sich das lyrische Ich in „Kap Hoorn“, um danach festzustellen, „wir haben nichts anderes / als unsere eigene Kindheit“, „von nun an ist sie Mythos, Kultobjekt.“ Und konsequent stellt es fest: „Nur mein Sohn spricht die Wahrheit“ („Kakao und Papageien“).

Diesem Festhalten an dem starken sinnlichen Empfinden in der Kindheit stehen die Folgen der Geschichte entgegen, die so vieles zum Verschwinden brachte, was lebte und atmete. Auch Schulz wurde von einem Gestapo-Offizier im Ghetto von Drohobytsch unweit von Lwiw mitten auf der Straße erschossen: „[…] Schulz lebt nicht mehr, nicht Roth. / Die Literatur vergaß die Geister und Phantome / jener Straßen, Viertel, Gärten, warf alle Uniformen ab // und siedelte im Nichts […]“ (Die Alte Festung). Dieses Nichts nach den schrecklichen Verwüstungen Ostmitteleuropas, nach dem millionenfachen Morden von Juden bleibt ein Nichts, bleiben Generationen, die diesen Mangel auch als geistige Amputation wahrnehmen. „An den amputierten Stellen wachsen und blühen schon Phantome, alles // wird gut.“, heißt es ironisch in „Pulver und Eisen“, denn natürlich ist nicht alles gut: Die Subjekte in Różyckis Gedichten werden aufgesucht von den Phantomen der Geschichte, von den Phantomen der Dichter, der Denker und Künstler, die von Deutschen ermordet und vernichtet wurden, weil sie Juden waren oder „Feinde des Staates: / Deserteure, Dichter, Spekulanten, Verräter“ (Die Flotte ihrer königlichen Majestät); werden befallen von Phantomschmerzen und müssen ihr Zuhause errichten auf den Trümmern, den Resten der Geschichte.

„hinter uns eine geniale // und schreckliche Epoche und vor uns die Aussicht / auf eine noch genialere und schrecklichere“, so klingt in „Austern und Datteln“ der Blick zurück in eine düstere Vergangenheit und in eine noch düsterere Zukunft, die die Selbstüberschätzung des Menschen hervorbringt. „Unübersetzbar ist nur die Welt“, stellt das lyrische Ich an einer Stelle in „Orion, der Hundsstern“ fest und führt in die nächsten bohrenden Fragen der Poesie, der Literatur, aber auch der Existenz. Denn was bleibt außer dieser Welt? Was überhaupt ist übersetzbar, lässt sich hinübertragen über die Grenzen der Sprachen, des Verstehens? Und was ist eben nicht übersetzbar und geht verloren? Bei all den in die Tiefe gerichteten Fragen, dem Schürfen und Graben in den Trümmern der Generationen, folgen Różyckis Gedichte einem charakteristischen Rhythmus, der seinen Gedichten eine Musikalität verleiht, die auch in der deutschen Übersetzung überzeugend nachempfunden wird. Die Poesie seiner Sprache verleiht dem Kreisen um die (angedeuteten) Motive ein hohes Maß an Empfindsamkeit, dem sich zu öffnen lohnt.

Angesichts der aus der Geschichte geborenen Lage bleibt dem Dichter – und dem Leser wie der Leserin die Spurensuche in der Literatur. Die Spuren dessen, was verschwunden ist, aber als Phantomschmerz noch vorhanden. Wenn sich angesichts der Geschichte und den menschlichen Abgründen das lyrische Subjekt fragt, wie es sich entscheiden wird „zwischen dem Diskurs der Liebe // und dem warmen Leib des Alkohols“ („Bauxte und Kardamom“), könnte es fast schon an Kitsch kratzen, wäre da nicht der ganze Kontext dieses Bandes, der in die Abgründe europäischer Gewaltgeschichte führt und deren Folgen in der Welt betrachtet. Und es grenzt auch an Mut, wenn das lyrische Ich in „Tropensturm“ sich für eine Interpretation entscheidet: „Und täglich bewahrt uns / vor dem Untergang die Liebe, die Götter zögern […]“. Womöglich nur auf diesem seltenen Zögern, auf dem pochenden Zweifel beruht die Möglichkeit eines Überlebens, indem diese auch einen Moment eröffnet, um wahrzunehmen und nicht zuletzt, um zu schreiben: „Und auch in mir ist Dunkel, ein klein wenig Helle, / und schwarze Spuren setze ich auf weiße Flächen“, so wird die Leere des weißen Papiers, das Nichts, vor dem wir stehen, umgedeutet zu einer Möglichkeit. Die Leere wird bevölkert mit eben diesen Spuren des Verlorenen, Vernichteten, mit den Spuren des Zögerns und des Zweifelns, die es mehr als Wert sind, festgehalten zu werden.

Tomasz Różycki: Kolonien. Gedichte. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann, Berlin 2023. https://www.edition-fototapeta.eu/kolonien

 

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Ricarda Fait

Ricarda Fait

Ricarda Fait ist Slawistin, Übersetzerin und Doktorandin an der Europa-Universität Viadrina.

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