Der deutsche Kurswechsel gegenüber Russland liegt im polnischen Interesse. Sollte nicht auch Warschau seinen eigenen, entschiedenen Kurswechsel in seiner Wahrnehmung Deutschlands vollziehen?
Gleich nach Ausbruch des russisch-ukrainischen Krieges verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Bundestagsrede die „Zeitenwende“, womit er einen einschneidenden Richtungswechsel der deutschen Politik meinte. Diese Konzeption hat er später in einem programmatischen Beitrag für die führende US-Zeitschrift zur internationalen Politik, die „Foreign Affairs“, weiterentwickelt. Deutschland sah sich mit der Notwendigkeit konfrontiert, das Ausmaß der Veränderungen endlich zur Kenntnis zu nehmen, die sich in den letzten Jahren weltweit vollzogen hatten.
Das Ende der deutschen Insel der Seligen
Die alte Welt der Kostenglobalisierung und der liberalen Illusionen nach Ende des Kalten Kriegs gehört der Vergangenheit an. Die „Zeitenwende“ ist der Versuch, die deutsche Politik auf neue Gleise zu bringen. Das Problem ist dabei, dass Deutschland mit am meisten von der bisherigen Form der Globalisierung profitierte. „Kostenlose“ Sicherheitsgarantien seitens der USA; eine sich erweiternde Europäische Union, die im Osten Lieferketten für die deutsche Wirtschaft zu geringeren Kosten ergänzte; billige russische Rohstoffe als Treibstoff der Industrie; florierender Export der Maschinen‑ und Autoindustrie in das sich dynamisch entwickelnde China; schließlich die gelungenen inneren Wirtschaftsreformen Gerhard Schröders. Das alles war die Voraussetzung für ein zwei Jahrzehnte anhaltendes, starkes Wachstum der deutschen Wirtschaft. Auch wenn Risse in dieser Idylle schon deutlich früher zu sehen waren, verursachte erst der russische imperialistische Angriff auf die Ukraine ein unsanftes Erwachen.
Es ist an dieser Stelle ausdrücklich zu betonen, dass sich in dieser gewandelten Situation kein einziger Politiker des deutschen Mainstreams fand, der ein deutsch-russisches Bündnis auch nur in Erwägung gezogen hätte. Deutschland verhielt sich seinen amerikanischen und mitteleuropäischen Bündnispartnern gegenüber loyal, auch wenn es bei Kriegsbeginn in der praktischen Politik einen zumindest desorientierten Eindruck machte. Das wurde an den bereits in die Geschichte eingegangenen 5000 alten deutschen Helmen deutlich, die als Militärhilfe an die kämpfende Ukraine abgegeben wurden. Seither hat sich jedoch sehr viel geändert.
In Reaktion auf die neue Zeit muss Deutschland seine Außenpolitik völlig neu ausrichten, aber auch ein neues Modell der Wirtschaftsführung entwickeln. Denn es verändern sich nicht nur die internationalen Konstellationen, sondern auch die Antriebskräfte der Weltwirtschaft. In diesen Bereichen hat Deutschland unübersehbare Schwächen. Die Entwicklungsrichtungen, die von der „Zeitenwende“ vorgegeben werden, sollen den Erfordernissen der neuen Zeit Rechnung tragen.
Berlin als Mittelsmann Washingtons
Mit seiner Zeitenwende-Konzeption setzt Deutschland auf das Bündnis der liberalen Demokratien, wobei es seine Beziehungen zur den Vereinigten Staaten besonders herausstellt. Das wird insbesondere an dem Kaufvertrag über F-35-Mehrzweckkampfflugzeuge, der aus dem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr finanziert wird. Diese Flugzeuge sollen die Trägerflotte für amerikanische Nuklearwaffen in Europa modernisieren, die im Rahmen der nuklearen Teilhabe [Konzept der NATO zur Einbeziehung von Mitgliedsstaaten ohne eigene Nuklearwaffen in die Politik der nuklearen Abschreckung; A.d.Ü.] unterhalten wird. Die nukleare Abschreckung wird nämlich sehr bald im Mittelpunkt aller Sicherheitsfragen stehen. Deutschland bestätigt mithin, dass es als Mittelsmann gemeinsam mit den Amerikanern die europäische nukleare Abschreckung garantieren will. Solange dieses Bündnis besteht, wird Polen keine Chance haben, seinerseits Partner bei der nuklearen Teilhabe zu werden.
Im Mittelpunkt der neuen Zeitenwende-Politik stehen der Bruch mit der eigentümlichen deutschen Neutralität und die Bereitschaft, Verantwortung für die europäische Sicherheit zu übernehmen. Das entspricht den Erwartungen Washingtons. Solche Konzeptionen sehen für Polen von alters her eher bedrohlich aus, denn sie haben stets seine Unabhängigkeit in Gefahr gebracht. Die europäische Sicherheitspolitik soll durch Stärkung der Europäischen Union umgesetzt werden, Voraussetzung dafür ist, die Entscheidungsverfahren auf EU-Ebene zu entbürokratisieren. Das bedeutet, das Vetorecht zumindest in der Außenpolitik einzuschränken und sicherheitspolitische Fragen in die EU-Politik einzuführen. Allem Anschein nach wird eine solche Politik bereits auf EU-Ebene eingeleitet.
Aus der Sicht gesamt Mitteleuropas ist das strategische Kernproblem der Zeitenwende die Haltung zu Russland. Für Warschau war eine enge Kooperation Berlins mit Moskau immer schon unheilvoll, denn sie fand unvermeidlich auf Kosten Polens statt. In den letzten Jahrzehnten vor dem Angriff auf die Ukraine existierte ebenfalls eine enge deutsch-russische Zusammenarbeit, symbolisiert durch die Nord Stream-Gaspipeline. Billige russische Rohstoffe waren die Grundlage der deutschen Wirtschaft, und im Verständnis der Deutschen war es darüber hinaus das Fundament des Friedens in Europa, enge Beziehungen zu Moskau zu pflegen, was es auch erlaubte, sich strategisch vom Einfluss aus Washington zu befreien. Wir alle haben die katastrophalen Folgen dieser Politik zu spüren bekommen, vor allem die Ukraine. Die Zeitenwende bedeutet den Bruch mit dieser Strategie, und für Polen und ganz Europa ist die Frage von entscheidender Bedeutung, inwieweit diese Änderung dauerhaft und glaubhaft ist.
Nach mehr als zwei Jahren seit Verkündung der Zeitenwende lässt sich behaupten, dass diese Politik in ihren generellen Umrissen immer noch Bestand hat. Deutschland ist der engste Verbündete der Vereinigten Staaten im Hinblick auf den russisch-ukrainischen Krieg. Beim Wert der gelieferten Waffen liegt das Land auf Platz zwei hinter den USA. Wenn auch sehr langsam, ist das deutsche Rüstungsinvestitionsprogramm in die Gänge gekommen. Der Rüstungskonzern Rheinmetall investiert in Deutschland, Rumänien und Ungarn und hat mit Kyjiw einen Vertrag zum Bau einer Munitions‑ und Panzerfabrik in der Ukraine abgeschlossen. Er erhält dazu mehr Mittel aus dem Europäischen Friedensinstrument als polnische Firmen. Das europäische Programm zur Luftabwehr stützt sich mehr auf israelische und amerikanische als auf französische Systeme, was einer der Gründe für die Spannungen zwischen Berlin und Paris ist. Die Abkoppelung von russischen Brennstoffen ist unumkehrbar. Die Deutschen haben im Eiltempo eine Infrastruktur für den Import von Flüssiggas aufgebaut, während sie parallel dazu die Entwicklung erneuerbarer Energien fortsetzen. Mehr als aus Berlin, werden aus den alten Hauptstädten Österreich-Ungarns Vorbehalte gegen eine gegen Russland gerichtete Rohstoffpolitik laut; Wien und Budapest tun alles, um die energiepolitische Wende zumindest hinauszuzögern.
Das neue, antirussische Deutschland
Die Europäische Union arbeitet weiter de facto an einer Verschlankung der Entscheidungsverfahren. Die Annahme ist allgemein akzeptiert, dass die nächste Erweiterung der EU durch Aufnahme der Ukraine und Moldawiens sowie nicht zuletzt weiterer Balkanländer mit einer verstärkten Zusammenschließung einhergehen muss. Russland wird nicht mehr als ein wenn auch problematischer Partner zur Sicherung des Friedens in Europa gesehen, weil es einen Angriffskrieg begonnen hat. Der Weg zum Frieden in Europa führt dem Verständnis Deutschlands nach nicht mehr über ein partnerschaftliches Verhältnis zu Russland, sondern über die Verteidigung der ukrainischen Unabhängigkeit. Die größte Herausforderung für ganz Europa und insbesondere für Deutschland besteht darin, im globalen Maßstab ein Modell für wirtschaftliche Entwicklung und Konkurrenzfähigkeit zu finden. Die Abkehr von den russischen Rohstofflieferungen hat die Betriebskosten der deutschen Wirtschaft in die Höhe getrieben. Zusammen mit der weiteren Entwicklung Chinas und dem Rückgang der Nachfrage nach den Erzeugnissen der deutschen Maschinenindustrie könnte das eine dauerhafte Stagnation, wenn nicht Krise der deutschen Wirtschaft nach sich ziehen.
Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und mindestens seit den Anfängen der europäischen Integration betrieb Deutschland eine defensive geopolitische Strategie und hatte dabei vor allem die eigenen Wirtschaftsinteressen im Sinn. Die deutsche Wirtschaftskraft sollte der Politik die Richtlinien vorgeben. Diese defensive Strategie war darauf ausgerichtet, die Initiativen anderer Länder weitgehend zu ignorieren und die Voraussetzungen zur Erweiterung des eigenen Einflusses zu schaffen. Dafür ist die Gemeinschaftswährung Euro ein Beispiel, und in jüngerer Zeit die von den südeuropäischen Ländern vorgebrachte Initiative der Landesaufbaupläne, die erst nach anfänglichem, starkem deutschem Widerstand auf den Weg gebracht werden konnte.
Das beste Beispiel von historischer Bedeutung für diese Politik ist aber genau die Zeitenwende. Der Ausbruch des russisch-ukrainischen Kriegs stellte viele Aspekte der deutschen Politik in Frage. In diesem kritischen Augenblick blieb Deutschland jedoch ein loyaler Verbündeter der Vereinigten Staaten und damit auch Mitteleuropas. Deutschland hätte die nächste geopolitische Katastrophe verursachen können, deren größtes Opfer nächst der Ukraine Polen geworden wäre. Eine Neuauflage des Bündnisses zwischen Moskau und Berlin wäre eine unabsehbare Katastrophe für Europa und den ganzen Westen geworden. Heute hat die europäische Dimension der deutschen Politik eine antirussische Ausrichtung. Während es nach der Katastrophe der prorussischen Orientierung seiner alten Politik zur Tagesordnung übergeht, bemüht sich Deutschland, die neue Konstellation zu nutzen, an deren Aufbau teilzunehmen, um seinen Einfluss zu erweitern. Die antirussische Ausrichtung dient dazu, das Bündnis mit den USA zu stärken und ein geschlosseneres Europa herzustellen, mittels dessen Deutschland am globalen Wettbewerb teilnehmen will.
Insoweit Deutschlands neue Politik eine antirussische Wende einschließt, stimmt sie mit dem polnischen Interesse überein. Sollte Warschau nicht einen eigenen entscheidenden Richtungswechsel in der Wahrnehmung Deutschlands vollziehen? Sollte es nicht dazu übergehen, polnische nationale Interessen im Bündnis mit Berlin als engstem europäischen Partner Washingtons zu verfolgen?
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann
Der Text entstand dank finanzieller Unterstützung der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit im Rahmen des Projekts “Polens Perspektive”. Das Projekt wird in Zusammenarbeit mit dem polnischen ThinkZine Nowa Konfederacja realisiert.