Staaten haben eigentlich immer schon Krieg geführt, und noch ist es niemandem gelungen, diese Form der Konfliktlösung zu beenden. Wird das immer so sein, und muss das so sein? Die Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen geben erneut Veranlassung, diese Fragen zu stellen.
Den Gründen für die Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen ist bislang noch keine komplexe Darstellung gewidmet worden, denn das ist bei der verständlichen Gefühlsaufwallung in Kriegszeiten kaum möglich. Dafür wird die Zeit kommen. Es lässt sich jedoch bereits die Behauptung wagen, dass die Öffentlichkeit noch nie zuvor im Kriegsfall Zugriff auf Information (wie auch Desinformation) praktisch in Armlänge hatte. Dieser Umstand lässt den westlichen Gesellschaften Kriege wieder konkret und vorstellbar vorkommen. Während der Krieg also in abstoßende Nähe rückt, wächst das Bedürfnis nach der Expertise von Personen, die es verstehen, Sinngebungen zu liefern und das in einen entsprechenden Rahmen einzuordnen, was jeder von uns in mehr oder minder großer Anspannung auf dem Fernsehbildschirm oder dem Handy verfolgen kann.
Die kriegerische Eskalation hat den täuschenden Eindruck aufkommen lassen, wir lebten in einer besonderen Zeit und befänden uns an einem besonderen historischen Wendepunkt. In Wahrheit werden an verschiedenen Orten der Welt unablässig Kriege geführt. Wenn sie in entlegenen Ländern und auf entfernten Kontinenten toben, dann interessieren sie uns nicht. Der Krieg muss erst an unsere Grenzen rücken, damit er für uns nicht länger anonym ist, wir ihn ernst nehmen und unsere Zeit darauf verwenden. So war es immer schon. Die Allgegenwart von Information und sozialen Medien hat daran nichts geändert.
Wieso brechen Kriege aus?
Wenn wir darüber nachdenken, wieso es immer noch Kriege gibt, obwohl zahlreiche Versuche unternommen wurden, sie aus der zwischenstaatlichen Politik zu verbannen, dann ist die richtige Antwort vielleicht genau jene Gleichgültigkeit für diejenigen Konflikte und Leiden, die sich in weiter Entfernung abspielen. Selbst wenn es heute Regeln des internationalen Rechts gibt, die einen Angriffskrieg verbieten, hat die „internationale Gemeinschaft“ doch nicht in jedem Fall dasselbe Interesse, einen Krieg zu verhindern oder ihm frühzeitig ein Ende zu setzen. In Europa ist der Krieg in der Ukraine Gegenstand des Interesses, Echos des Kriegs im Gazastreifen erreichen uns noch, aber die Lage in Myanmar, Sudan oder Äthiopien befindet sich weit jenseits unseres Wahrnehmungshorizontes.
Diese Wahrnehmung des Kriegs in Abhängigkeit von seiner jeweiligen geographischen Nähe oder Entfernung wirkt sich darauf aus, wie wir den Krieg beschreiben, in welcher Weise wir von den Konfliktparteien sprechen, welche Ergebnisse wir erwarten, vor allem, was wir für die Kriegsgründe halten. Letztere, diese komplizierte Abfolge von Ursachen und Folgen, führen wir allzu oft auf den letzten Akt zurück, auf die Schuld dafür, den ersten Schuss abgegeben zu haben, auf die Opferrolle des einen Staates und die Barbarei des anderen. Das ist auf Gefühlsebene verständlich, verdunkelt aber die Realität und erlaubt nicht, eine Antwort auf die grundsätzliche Frage zu suchen, wieso Kriege überhaupt ausbrechen und wie sich sicherstellen ließe, dass die Welt oder eine bestimmte Region friedlicher werden könnten.
„Jeder Versuch, einen [kriegerischen] Zustand abzumildern, setzt voraus, eine Vorstellung von seinen Ursachen zu haben: Um zu erklären, wie Friedensbemühungen erfolgreicher sein könnten, müssen wir zuerst die Ursachen des Kriegs verstehen“, stellte in diesem Sinne Kenneth Neal Waltz (1924–2013) in seinem Klassiker „Der Mensch, der Staat und der Krieg“ aus dem Jahr 1959 fest, der unlängst in Polen erschienen ist.
Waltz war nicht der erste Forscher, der über die Gründe von Kriegen nachdachte, aber der erste, der es für notwendig hielt, die vorhandenen Erklärungen in eine Ordnung zu bringen. Ihn stellten die unvollständigen Erklärungen nicht zufrieden, die von älteren Annahmen über die Natur des Menschen oder des Staates ausgingen. Er lehnte die Kontingenz solcher Erklärungsansätze ab und stellte die aus den Naturwissenschaften übernommene exakte Methode in den Mittelpunkt seiner Arbeit, um nicht zuzulassen, dass sich Emotionen und zufälliges Beiwerk einschleichen. „Ein empirischer Ansatz ist zwar notwendig, aber nicht ausreichend. Die Korrelation von Ereignissen hat keine Bedeutung, oder zumindest sollte ihr keine Bedeutung zugeschrieben werden, wenn ihr keine Analyse zugefügt wird“, begründete er seinen Ansatz.
Waltz beschreibt drei Ebenen, in seiner Terminologie images, der Analyse der Kriegsursachen. Die erste ist die Ebene des Individuums. Kriege brechen aus, weil die Staatenlenker es nicht verstehen oder nicht dazu bereit sind, angeborene Gefühle und Leidenschaften zu kontrollieren. Die hässliche Natur des Menschen, das ihm innewohnende Böse gewinnen die Oberhand. Die zweite Ebene ist die des Staates. Für das Ausbrechen von Kriegen ist die Staatskonstruktion an und für sich verantwortlich, die Staatsverfassung und die Ziele, für die der Staat geschaffen wurde. So hielten zum Beispiel die Sozialisten das aggressive Verhalten der kapitalistischen Staaten für eine Kriegsursache, weil deren ausbeuterische Ausrichtung auf internationaler Ebene Habgier und Unersättlichkeit hervorbringe. Ein anderes, heute sehr populäres Beispiel ist die Behauptung, die Verfassung von autokratischen Staaten dränge diese zum Krieg mit demokratisch verfassten Staaten. Schließlich gibt es noch die dritte Ebene, die Ebene des internationalen Systems, innerhalb dessen die Staaten funktionieren. Kriegsursachen sind Interessenunterschiede, die aus der Rivalität um Macht und begrenzte Ressourcen hervorgehen. Staaten sind nicht an und für sich böse, es ist nur der Streit um den „Platz an der Sonne“, was sie zum Konflikt treibt. Und es existiert kein Gericht, dessen Autorität von allen Staaten gleichermaßen akzeptiert würde und das „für das Böse strafen, für das Gute belohnen“ könnte, so dass Kriege natürlicherweise zur „Verlängerung der Politik“ würden.
Waltz bekennt, dass jede einzelne dieser drei Ebenen nur eine Aushilfe zur Ermittlung von Kriegsgründen darstellt. Denn alle drei beeinflussen sich wechselseitig und wirken aufeinander ein. Die Frage nach den Kriegsgründen ist jedoch nur der erste Schritt. Wie ist zu bewirken, dass Staaten möglichst selten ihre Auseinandersetzungen durch Krieg entscheiden? Das ist die eigentliche Frage, die Waltz stellt.
Ukraine, Gazastreifen, Krieg
Lässt sich die Natur des Menschen so verändern, dass daraus der Keim des Bösen und des Machthungers verschwindet? Lässt es sich so einrichten, dass Nationalstaaten aufhören, an ihr Überdauern zu denken und an das Streben nach größtmöglichem Einfluss? Wenn die Frage in beiden Fällen verneint werden muss, wie es Waltz tut, dann lassen sich Konflikte zwischen Staaten nur auf der dritten, der internationalen Ebene abmildern. Die Staaten können einen relativ stabilen Frieden erreichen, wenn zwischen ihnen ein relatives Gleichgewicht der Kräfte herrscht. Wenn ein Staat nach Hegemonie strebt, werden sich die übrigen dem meist widersetzen wollen. Sie werden ein Bündnis eingehen oder den Aufbau ihrer eigenen Armeen und Wirtschaft beschleunigen, um die wachsende Asymmetrie auszugleichen. Je größer das Gleichgewicht im Staatensystem, desto geringer der Willen eines potentiellen Aggressors anzugreifen, und desto größer die Bereitschaft, einen Ausgleich auf diplomatischem Wege zu finden.
Staaten, so schreibt Waltz, versuchen die Macht ihrer Rivalen nicht deswegen auszugleichen, „weil ihnen das Freude macht, sondern weil für jeden Staat das Verhältnis seiner Macht zur derjenigen anderer Staaten letztendlich eine Voraussetzung für das Überleben ist“. Anders gesagt, Staaten fürchten sich vor anderen Staaten, deshalb streben sie nach der eigenen Machterweiterung, damit ihnen niemand mehr schaden kann. Dabei müssen sie jedoch eine gewisse Zurückhaltung walten lassen, damit ihre Politik die andere Seite nicht beunruhigt, weil das eine Rüstungsspirale in Gang setzen würde.
Es ist dazu anzumerken, dass die Politik des Gleichgewichts manchmal erfolgreich ist und manchmal nicht. Ein Beispiel für eine erfolgreiche Gleichgewichtspolitik war die Zeit des Kalten Kriegs. Die Vereinigten Staaten bauten die Atombombe, um sich absolute Sicherheit zu verschaffen und den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen. Die Sowjetunion wollte in der Befürchtung nicht zurückstehen, ohne Atombombe werde sie sich dem Diktat der USA unterwerfen müssen. Die Politik des atomaren Gleichgewichts funktionierte vierzig Jahre lang. Zwischen den USA und der UdSSR herrschte ein relativer Frieden, und ihre Streitigkeiten schlichteten beide Mächte meist unterhalb der Schwelle des offenen Krieges.
Gelegentlich funktioniert die Gleichgewichtspolitik jedoch als sich selbst erfüllende Prophezeiung. Beispielsweise traten die Staaten vor dem Ersten Weltkrieg in einen Rüstungswettlauf ein, der jedem einzelnen von ihnen Sicherheit gewähren sollte, doch in dem großen Krieg mündete. Ähnlich verhält es sich derzeit in Asien, wo sich die Staaten mit Blick auf einen möglichen Krieg um Taiwan bis an die Zähne bewaffnen, ohne zu wissen, wohin ihre Angst um die eigene Sicherheit und ihr Bestreben, sich die bestmöglichen geopolitischen Ausgangsbedingungen zu verschaffen, führen wird.
Im Nahen Osten befinden sich lange schon Israel und der Iran im Streit um Einflusszonen miteinander in Konflikt, und der vorläufige Höhepunkt dieser Auseinandersetzung ist der Krieg im Gazastreifen. Die Verbündeten des Iran griffen Israel an, weil sie meinten, in der letzten Zeit habe sich die Waage zugunsten Tel Avivs geneigt, da Israel seine Kooperation mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten verstärkte, während sie es nicht zulassen wollten, dass das Kräftegleichgewicht immer mehr zugunsten Israels verloren ging. In Europa wird ein Krieg darum geführt, ob Russland zu Entscheidungen über den Kontinent zugelassen werden soll, und wenn ja, zu welchen Bedingungen. Moskau will die Entscheidungsgewalt und meint, es sei nach dem Ende des Kalten Krieges von dieser Möglichkeit abgeschnitten worden. Daher hat es die Ukraine angegriffen, um eine für sich als ungünstig wahrgenommene Sachlage gewaltsam zu ändern. Die Vereinigten Staaten und gegenwärtig die meisten europäischen Länder meinen, es gebe für Russland keinen Platz in der europäischen Politik, insbesondere nach der Invasion der Ukraine.
Mit Blick auf die innere Verfassung Russlands und des Iran oder auf Wladimir Putin und Benjamin Netanjahu können wir die Kräfte erkennen, die auf die konkreten Entscheidungen wirken, Recht und vollendete Tatsachen schaffen. Wie jedoch Waltz zeigt, gestattet erst der Blick auf die Kräfteverteilung und die Besonderheiten des Systems, in dem die Staaten funktionieren, und die Verbindungen und Interessenunterschiede zwischen ihnen, diese Kräfte in einen bestimmten Kontext einzuordnen. Dieser ist notwendig, um zu verstehen, wie Kriege entstehen, welche verworrenen Wege dazu führen und was zu tun ist, um wenigsten in begrenztem Maße die Folgen der unablässigen Rivalität und Konflikte zwischen den Staaten abzumildern. Waltz bietet kein Patentrezept, das eine Erfolgsgarantie böte; er liefert jedoch die Werkzeuge, um dahin zu gelangen.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann
Wenn es um Kriegsursachen geht, werden meist die sozialpsychologischen Faktoren vergessen, vor allem eine weit verbreitete Gewalt in der Kindheit, oft Teil einer generellen Akzeptanz von Gewalt. Der Friedensforscher Franz Jedlicka hat einige interessante Artikel darüber geschrieben.
J. Kurtasch