Zum Inhalt springen

Das Reich der Mitte im Mittelpunkt der Weltbühne

Das in der Ära Xi Jinping seit Ende 2012 immer selbstbewusster und bestimmender auftretende China behauptet im inneren Gebrauch, es führe nunmehr die „Diplomatie der Großmächte“ und sei damit auf die „Weltbühne“ getreten. Anders und einfacher gesagt: Wir, die Chinesen, sind wieder eine Großmacht, und daher bekleiden wir, wie schon vor Jahrhunderten, eine zentrale Stellung in der Welt; wir sind und bleiben eine dominierende Macht.

Ein neuer Handelskrieg

Solche Auffassungen werden praktisch Tag für Tag und in vielfältiger Weise belegt. Die Zahl der aus aller Welt nach Peking strömenden Gäste ist unerhört. Unlängst waren dort, jeweils bereits zum zweiten Mal, US-Staatssekretär Antony Blinken (24. bis 26. April) und Bundeskanzler Olaf Scholz (16. bis 18. April). Umgekehrt begaben sich der Vorsitzende Xi Jinping samt Ehefrau erstmals nach Covid zu Staatsbesuchen nach Europa, und zwar in dieser Reihenfolge nach Frankreich, Serbien und Ungarn (5. bis 10. Mai). Mitte Mai startete seinerseits Wladimir Putin seinen Besuch in Peking.

Diese emsigen Aktivitäten erklären sich aus der allgemeinen Unruhe in der internationalen Politik, zumal zum Ukrainekrieg jetzt auch noch der Krieg im Nahen Osten, im Gazastreifen und der Konflikt zwischen Israel und dem Iran hinzugetreten sind. Und das alles passiert quasi im Schatten der ohnehin bestehenden Spannungen und Probleme zwischen den beiden weltweit größten Wirtschaftsorganismen, den USA und China, in denen viele Beobachter bereits einen „zweiten Kalten Krieg“ zu erkennen meinen.

Dieser unterscheidet sich allerdings von dem ersten zwischen der UdSSR und den USA, denn China stellt mindestens seit dem Dezember 2001, als es mit Einverständnis der Amerikaner der Welthandelsorganisation (WTO) beitrat, ein wichtiges Glied im Welthandel dar. Überdies ist es, wie sich während der Covid-Pandemie überdeutlich erwies, ein Land, in dem ungezählte Lieferketten ihren Anfang nehmen, nicht nur bei medizinischen Masken und anderer medizinischer Ausrüstung.

Jetzt zeigt es sich zum Beispiel, dass China im Inland bereits eine erhebliche Menge neuer Typen von Elektroautos produziert und mit diesen auf die Außenhandelsmärkte drängt. Das wiederum lässt, wie bereits im Falle der Solarzellen, einen Handelskrieg mit der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten in bedrohliche Nähe rücken. Daher war dies einer der zentralen, von Kanzler Scholz angesprochenen Punkte, ebenso während Xis Besuch in Europa, insbesondere in Frankreich. In beiden Fällen rückten beide Seiten keinen Zoll breit von ihren Positionen ab. China lässt in Ungarn bereits ein Montagewerk errichten, um das Land als Einfallstor nach Europa für den Export billiger Autos zu benutzen, während die Europäer von Dumpingpreisen sprechen. Das Tauziehen in dieser Frage hält an, und weitere Spannungen, vielleicht gar ein Handelskrieg zeichnen sich ab.

Ehrgeizige Pläne

Somit bestehen Spannungen und Streitpunkte bereits nicht allein im Verhältnis zwischen China und den USA, sondern auch zwischen China und der EU bzw. ganz Europa. Zumindest sieht es so für die nächste Zeit aus, obwohl der chinesische Staatschef offensichtlich nach Europa kam, um das chinesische Image zu pflegen, was ihm aber außerhalb von Serbien und Ungarn wohl nicht besonders gut gelungen ist. Meinungsumfragen in westlichen Ländern lassen unzweideutig erkennen, dass die positiven Einschätzungen Chinas geschwunden sind und sein Image sich verschlechtert hat.

Unterdessen ist der fast ausschließlich aus demokratischen Ländern bestehende Westen natürlich in seiner Chinapolitik ausgesprochen gespalten. Selbst Deutschland und Frankreich haben zu China etwas unterschiedliche Ansätze, und auf der anderen Seite gibt es immer noch europäische Länder, darunter zwei, die von Xi besucht wurden, die immer noch auf eine enge Zusammenarbeit mit China besonders in Wirtschaft und Handel setzen, obwohl China zwar vorsichtig, aber doch eindeutig für Russland Stellung bezogen hat, nachdem dieses seinen uneingeschränkten Krieg gegen die Ukraine entfesselt hatte. Beweis dafür ist der Chinabesuch Putins, der doch im Herbst letzten Jahres Gast beim dritten Gipfeltreffen zur chinesischen „Neuen Seidenstraße“ (Belt and Road Initiative, BRI) war, also dem großen, weltumspannenden Investitionsprogramm als einem der wichtigsten Antriebsmotoren für Chinas Auftritt auf der Weltbühne.

Freilich nicht dem einzigen, denn der Vorsitzende Xi Jinping hat, vom Westen noch fast unbemerkt, in den letzten Jahren einige weitere ehrgeizige globale Pläne offenbart, die ganz eindeutig eine neue Weltordnung entwerfen, die auf vielen Säulen beruht und China selbstverständlich als den wichtigsten Akteur sieht und als eines der wichtigen Machtzentren. In Rede stehen die Schritt für Schritt verkündeten, sogenannten Globalen Visionen: zur Entwicklung, vorgestellt auf der Sitzung der UNO-Generalversammlung im September 2021; zur Sicherheit, vorgestellt auf der Sitzung des chinesischen Nationalen Volkskongresses im Februar 2022; schließlich zur Zivilisation, vorgestellt auf dem Boao Forum for Asia im März 2023. Sehen wir diese Konzeptionen im Überblick, bilden sie eine ziemlich geschlossene, wenn auch nach chinesischer Weise reichlich vage Vision vom Aufbau einer „globalen Schicksalsgemeinschaft der neuen Ära“, wie die einschlägigen Dokumente dies bezeichnen. Nunmehr ist in diesen Entwurf offenkundig noch Serbien einbezogen worden, während Viktor Orbáns Ungarn wegen seiner Mitgliedschaft in NATO und EU außen vor bleiben musste. Aber auch die Staaten des globalen Südens gehören zu dieser Konzeption.

Das gemeinsame Schicksal der Menschheit

Die drei miteinander verbundenen Konzeptionen, darauf angelegt, den berühmten „Kampf der Kulturen“ im Sinne Samuel P. Huntingtons unmöglich zu machen, sollen zum einen möglichen Konflikten zwischen den großen Mächten vorbeugen, zum anderen Toleranz und Austausch von Menschen verschiedener Kulturen und Erfahrungen fördern, auf dass sie gemeinsam und in Harmonie miteinander arbeiten. Doch das gar nicht so versteckte Leitmotiv aller dieser Konzeptionen ist eben, China als großen Akteur auf die Weltbühne zu stellen, mit dem zu rechnen sein wird. Das ist an und für sich nichts anderes, als der Abriss einer neuen, vielsäuligen Weltordnung, an der China beteiligt sein will, das sich nicht mehr wie in den vergangenen beiden Jahrhunderten zuerst Europa, dann den USA unterordnen will.

„Die Veränderungen in der heutigen Welt haben eine historische Dimension und vollziehen sich in einem vorher nicht bekannten Maßstab“, sie seien in ihrer Art „seit über einhundert Jahren in dieser Art nicht gesehen worden“, so schärft der chinesische Staatschef äußerst hartnäckig immer wieder ein und behauptet die Vision eines selbstsicheren und durchsetzungsfähigen China, das sich so verhält, wie es einer Großmacht zukommt. Dem selbstverständlich niemand Vorschriften machen kann, woran die Chinesen zu erinnern nicht müde werden. So erteilte der frühere chinesische Außenminister Yang Jiechi der amerikanischen Delegation mit Staatssekretär Antony Blinken und Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan eine besonders eindrückliche Lektion, und zwar im März 2021 in Alaska vor laufenden Fernsehkameras, und seither ist Pekings harte Haltung gegenüber seinen westlichen Partnern ein stets wiederkehrendes Motiv.

Dagegen ist die in vorangegangenen Jahren angewandte sogenannte „Wolfsdiplomatie“ völlig von der Tagesordnung genommen, also das scharfe Dagegenhalten nach dem Motto „Auge um Auge, Zahn um Zahn“; die Metapher bezieht sich auf einen chinesischen Kinohit, in dem der Held, ein Offizier der chinesischen Geheimdienste, irgendwo in Afrika den Amerikanern eins auf die Nase gibt. Denn es hatte sich erwiesen, dass die Wolfsdiplomatie doch eher kontraproduktiv war, weil sie Chinas Image außerhalb seiner Grenzen beträchtlich schadete.

Folglich befinden wir uns heute in einer neuen Etappe des Dialogs und sogar des weltweiten Aufbaus der „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ (Community of common destiny for mankind, erneut Huntington), doch diese neue chinesische Initiative stößt auf heftige Widerstände in Gestalt einer Änderung der US-amerikanischen Chinapolitik. Zur Zeit der Trump-Administration gingen die Amerikaner von ihrem vorherigen Engagement ab und ersetzten es durch die „strategische Rivalität“. Joe Biden, so verschieden er von seinem Amtsvorgänger auch ist, hat doch genau diese Chinapolitik beibehalten und sogar verstärkt, womit er ein seltenes Exempel von bipartisanship liefert, also von überparteilicher Gemeinsamkeit bei einer ansonsten äußerst polarisierten Politik im Innern. Damit wurde China zur prioritären Herausforderung der US-amerikanischen Außen‑ und Sicherheitspolitik. Sogar bei der technologischen Entwicklung gilt dies, denn China erzielt spektakuläre Erfolge bei Infrastrukturinvestitionen, in der Hightech und mit seinen Vorstößen in den Weltraum.

Tanz auf dem schmalen Grat

Vorerst mag die „strategische Rivalität“ noch nicht allgegenwärtig sein, aber sie macht sich bereits deutlich bemerkbar, so auch im Verhältnis zu Europa, was von den eingangs erwähnten Staatsbesuchen belegt wird. Beispielsweise verlangten Antony Blinken und anschließend ebenso Olaf Scholz und Emmanuel Macron, China möge keine Waffen an Russland für dessen Ukrainekrieg liefern. Schließlich gab Xi eine entsprechende Versicherung ab, aber es ist nicht ganz sicher, ob dies auch für Ausrüstungen gilt, die sowohl ziviler als auch militärischer Nutzung zugeführt werden können. Die Liste der möglichen Konflikte ist wahrlich lang: Es geht nicht nur um die erwähnten E-Autos, sondern auch um Hightech (5G, 6G, Huawei, Xiaomi, TikTok und Halbleiter), davon ist praktisch tagtäglich zu hören. Darüber hinaus stehen auf der Tagesordnung Taiwan, das Südchinesische Meer wie auch die sehr verschiedenen Auffassungen zum Ukrainekrieg und zu den Konflikten im Nahen Osten. Im Falle des Letzteren lässt ein gemeinsames französisch-chinesisches Kommuniqué aufhorchen, das nach Xis Besuch veröffentlicht wurde. Ganz zu schweigen von dem Ostinato der Menschenrechte, die nach Auffassung des Westens von China weithin gebrochen werden. Die chinesischen Medien exponieren in Reaktion darauf, allerdings eher für den inneren Gebrauch als den äußeren, die wunden Stellen der US-Gesellschaft: die häufigen Schusswaffenmassaker, der allgegenwärtige Rassismus, die soziale Ungleichheit, das krasse Einkommensgefälle usw.

Die Beobachter stimmen weitgehend darin überein, dass es bei den besonders neuralgischen Beziehungen zwischen China und den USA bestenfalls einen Waffenstillstand gibt, nachdem sich im Herbst 2023 Joe Biden und Xi Jinping in San Francisco getroffen haben. Doch der Konflikt der beiden Mächte ist struktureller Natur; er ist damit auf lange Sicht angelegt und spielt sich auf vielen Ebenen ab. Hier dominiert weiterhin die strategische Rivalität, nicht die Harmonie, die von der chinesischen Führung beschworen wird.

Etwas anders verhält es sich mit Europa, das gerade dabei ist, den amerikanischen Sicherheitsschirm zu verlieren, und sollte Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehren, gilt das erst recht. Infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine hat es überdies eine preiswerte Quelle für Energieträger verloren. Daher können sich weder Deutschland noch Frankreich oder die übrigen Partner Chinas in der EU jetzt erlauben, auch noch den wichtigen chinesischen Markt zu verlieren, wo sie ihre Waren wie etwa Autos absetzen und von den in China beginnenden Lieferketten profitieren. Die europäische Handelsbilanz ist dadurch allerdings ausgesprochen negativ.

Wird das schlussendlich zu der von China stark erhofften Lockerung der transatlantischen Beziehungen führen, die nach dem Überfall auf die Ukraine doch einen solchen Schub erhielten? Das ist im Augenblick schwer vorherzusagen, denn in Europa stehen die wichtigen Wahlen zum Europaparlament Anfang Juni bevor, im November die Wahlen in den USA. Erst danach wird sich sagen lassen, wohin die Reise geht, gerade auch in den Beziehungen zu China.

Als Olaf Scholz in Peking war, bezeichneten die US-Medien, sofern sie diesen Besuch kritisch sahen, als „Tanz auf einem schmalen Grat“, also als einen Drahtseilakt in einer Situation voller Spannungen und Gefahren. Wohl noch treffender fasste die aktuellen Dilemmata der gerade aus dem Amt scheidende Ministerpräsident von Singapur Lee Hsien Loong zusammen: bei den Beziehungen zwischen den USA und China „würden wir nicht zwischen Papa und Mama wählen wollen“. Dabei dachte er an sein Land und die Region Südostasien sowie die Wirtschaftsorganisation ASEAN. Doch könnte die Metapher genauso gut für Europa gelten.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Schlagwörter:
Bogdan Góralczyk

Bogdan Góralczyk

Professor Bogdan Góralczyk ist Politologe, Sinologe, ehemaliger polnischer Botschafter und ehemaliger Direktor des Europäischen Zentrums an der Universität Warschau.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Symbol News-Alert

Bleiben Sie informiert!

Mit dem kostenlosen Bestellen unseres Newsletters willigen Sie in unsere Datenschutzerklärung ein. Sie können sich jederzeit austragen.