Zbigniew Rokita im Gespräch mit dem Politologen Mariusz Antonowicz
Bei den gerade stattgefundenen Präsidentschaftswahlen in Litauen entfiel fast jede dritte Stimme auf Anti-System-Kandidaten, darunter einen prorussischen, der in der mehrheitlich von Polen bewohnren Rajongemeinde Šalčininkai annähernd vierzig Prozent der abgegebenen Stimmen gewann. In Kürze finden die Parlamentswahlen statt. Werden die Populisten die politische Landschaft Litauens umwälzen?
Zbigniew Rokita: Bei den litauischen Wahlen vom Sonntag wurde für eine zweite Amtszeit der parteilose Gitanas Nausėda gewählt, der die amtierende Ministerpräsidentin Ingrida Šimonytė auf Platz zwei verwies. Sie trafen bereits zum zweiten Mal bei Stichwahlen aufeinander, und Nausėda erzielte ein noch besseres Ergebnis als 2019. War das ein erwartbarer Sieg?
Mariusz Antonowicz: Ja und nein. Es war in dem Sinne ein erwartbarer Sieg, als Nausėda einer der populärsten Politiker in Litauen ist, und seine Rivalin Šimonytė ist eine der unbeliebtesten Politikerinnen des Landes. Eine Überraschung war allerdings, wie schwach die anderen Präsidentschaftskandidaten im Wahlkampf waren. Es sieht so aus, als ob der Rest der Kandidaten eingesehen hatte, gegen Nausėda keine Chance zu haben, die Präsidentschaftswahlen betrachteten sie vielmehr als Stimmungsmesser vor den Wahlen zum Seimas, dem litausischen Parlament, im Herbst.
Aber Nausėda hat seine Schwächen. Während seiner Amtszeit hat er sich einige Fehltritte geleistet, und sein Verhalten lässt manchmal Zweifel aufkommen. Beispielsweise stellten Journalisten von Delfi unlängst fest, dass der Präsident im Oktober 2023 eine Sitzung des Europäischen Rats in Brüssel früher verließ, um rechtzeitig zu einem Basketballspiel in Kaunas zu sein. Dafür wurde er im Wahlkampf aber von der Konkurrenz nicht kritisiert. Daher profitierte er stark von einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, wie sie durch den Defätismus und die intellektuelle Erschöpfung der übrigen Kandidaten vorgegeben wurde, und im Falle von Šimonytė zusätzlich noch durch einen psychischen Burnout.
Aber wieso haben die Sozialdemokraten (LSDP) keinen eigenen Kandidaten ins Rennen geschickt? Sie haben im Augenblick die besten Umfrageergebnisse und werden die Wahlen im Herbst sicher gewinnen.
Sie hatten keinen eigenen Kandidaten, weil erstens ihre Wähler Gitanas Nausėda sehr mögen und für ihn stimmen, während er häufig die Sozialdemokraten unterstützt. Die Stimmen der sozialdemokratischen Wähler hätten sich daher auf zwei Kandidaten aufgeteilt, was das Gefühl vermittelt hätte, die Sozialdemokraten seien weniger stark als angenommen, und was Nausėda geschwächt hätte. Zweitens fehlt den Sozialdemokraten ein Politiker, der einen starken Eindruck hinterlässt. Ihre Parteivorsitzende Vilija Blinkevičiūtė würde als Kandidatin keinen Gefallen finden und auf Kundgebungen durchfallen, sie ist keine Politikerin von dem Rang, um gegen Nausėda oder Šimonytė antreten zu können.
Die Sozialdemokraten haben die Chance, erstmals seit vielen Jahren die Wahlen zu gewinnen. Die Meinungsumfragen sehen sie bei 22 Prozent, an zweiter Stelle stehen die heute regierenden Konservativen (TS-LKD) mit 14 Prozent, noch sechs weitere Parteien würden in den Seimas gelangen. Es ist aber völlig offen, wer von der LSDP das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen könnte; die Partei kämpft mit Korruptionsskandalen. In den Vorzimmern höre ich, dass der von der LSDP gestellte Regierungschef im Herbst ein Pole sein könnte, der Vorsteher des Vilnius-Rajons Robert Duchniewicz.
Ja, die LSDP hat Personalprobleme, aber es will mir nicht so scheinen, dass Duchniewicz Regierungschef werden könnte. Tatsächlich hat er sich einen Namen gemacht, als er im letzten Jahr den Kandidaten der Wahlaktion der Polen in Litauen (AWPL) schlug und half, den ganz wichtigen Rajon Vilnius zu gewinnen, in dem die Aktion immer regiert hatte. Duchniewicz versteht aber, dass es sich für ihn auszahlen würde, für eine oder zwei Amtszeiten im Rajon zu bleiben, um die eingeführten Reformen zu stabilisieren. Die Ortsansässigen sind darüber aufgebracht, dass verschiedene Leute immer für zwei-drei Jahre im Rajon tätig waren, bevor sie in die Landespolitik überwechselten. Duchniewicz’ Position ist nicht stark: Er gewann mit gerade einmal 400 Stimmen, und die Mehrheit im Rajonrat wird immer noch von der AWPL gestellt.
Außerdem sagte Nausėda im Wahlkampf, er werde Blinkevičiūtė überreden, Ministerpräsidentin zu werden. Nausėda besuchte auch den Vorsteher des Rajons Jonava, Mindaugas Sinkevičius. Er war bis unlängst als Kandidat zum Ministerpräsidenten der LSDP vorbestimmt, verwickelte sich jedoch in einen Skandal wegen gesetzeswidriger Verwendung öffentlicher Gelder und wurde angeklagt. Der Besuch des Präsidenten wird als Versuch gesehen, Sinkevičius politisch abzuschirmen, so dass er trotz allem noch Regierungschef werden könnte.
Würde Robert Duchniewicz Ministerpräsident, würden außerdem im Rajon Vilnius Neuwahlen zum Vorsteher anfallen, welche die AWPL voraussichtlich gewinnen würde. Die Sozialdemokratie würde so einen wichtigen Rajon verlieren und könnte sich dadurch mit dem Amt des Regierungschefs mehr Nach‑ als Vorteile einhandeln.
Robert Duchniewicz ist erst 32 Jahre alt, sollte er nach zwei Amtszeiten in die Landespolitik wechseln, wird er immer noch zu den jüngeren Politikern zählen.
Es ist aber zum einen überhaupt nicht gesagt, dass selbst wenn die Sozialdemokraten im Herbst gewinnen sollten, ihnen die Regierungsbildung gelänge. Zum zweiten, ob das überhaupt irgendjemand schaffen würde. Es könnte zu einer Pattsituation kommen, in der niemand eine Koalition zustande bringt.
Ohne Unterstützung der großen Parteien traten drei populistische Kandidaten an, die zusammen etwa dreißig Prozent der Stimmen gewannen – davon Ignas Vėgėlė 12,5 Prozent, Remigijus Žemaitaitis 9,3 Prozent und Eduardas Vaitkus 7,4 Prozent.
Der Wahlzettel war für die systemfeindlichen Wähler wie eine Speisekarte: Sie konnten sich aussuchen, was sie am meisten ärgert: sie konnten zwischen dem noch eher gemäßigten Vėgėlė und dem die Fundamente der litauischen Staatlichkeit untergrabenden Vaitkus wählen. Vėgėlė kritisierte bevorzugt die Maßnahmen gegen die Pandemie, während Vaitkus zur Versöhnung mit Russland und zur Beendung des Kriegs aufrief, die NATO und die Vereinigten Staaten kritisierte und verlangte, die OSZE solle Wahlbeobachter entsenden. Žemaitaitis wiederum leistete sich einige antisemitische Ausfälle und sprach viel von Samogitien, der Region, aus der er selbst stammt. In Samogitien [einer von fünf historischen Regionen Litauens neben dem Suwałki-Gebiet, Oberlitauen, Preußisch Litauen und Dzūkija; A.d.Red.] gibt es keine separatistischen Bewegungen, doch die Menschen stellen gern ihre Besonderheiten heraus, hissen Samogitien-Fahnen und fühlen sich durch Vilnius unverstanden.
Der offen prorussische Kandidat Eduardas Vaitkus erzielte 7,4 Prozent. Wie erklärst du dir diesen Erfolg?
Viele erklären das irrtümlich mit den Stimmen der nationalen Minderheiten, der russischen und der polnischen. Tatsächlich erreichte Vaitkus in der mehrheitlich von Polen bewohnten Rajongemeinde Šalčininkai annähernd vierzig Prozent, aber diese vierzig Prozent sind nur fünftausend Stimmen, in ganz Litauen gewann er über 105.000. Die Stimmen der Minderheiten sind kaum 25 bis 30 Prozent von allen, die er gewann.
Mit anderen Worten, die übrigen sind Litauer, die auch für ihn stimmten.
Ja.
Im ersten Augenblick dachte ich, in Polen könne ein prorussischer Kandidat kein derart gutes Ergebnis erzielen. Doch dann erinnerte ich mich, dass der nationalistische Politiker Grzegorz Braun 2021 bei den Wahlen zum Amt des Stadtpräsidenten von Rzeszów zehn Prozent erreichte.
In der litauischen Gesellschaft besteht eine Angst vor Russland, die sich auf zwei Arten zeigt. Die eine Haltung veranlasst die Leute, sich zu bewaffnen und der Aggression zu widerstehen, die zweite, sich vorsichtig zu verhalten, um Russland bloß nicht zu reizen. Nach dem Beginn der Kämpfe im Donbas und der Annexion der Krim 2014, und dann nach Beginn des uneingeschränkten Kriegs 2022 wechselten allmählich immer mehr Litauer von der Gruppe der Tauben zur Gruppe der Falken über, aber selbst in meinem engsten Umfeld sehe ich immer noch Menschen, die vorzögen, dass Litauen sich ganz still verhält, sich nicht aus dem Fenster legt, und dass die Ukraine sich mit Russland einig würde. Und solche Leute stimmten später für Vaitkus.
Selbst wenn Verständigung bedeutet, sich Russland unterzuordnen, einen Teil der ukrainischen Gebiete abzutreten und Moskau Zeit zu geben, sich zu verstärken und in einigen Jahren erneut zuzuschlagen, dann vielleicht auch gegen Litauen. Aber wieso stimmte ein so großer Prozentsatz der Polen für Vaitkus?
Viele Polen nehmen Russland und Belarus anders wahr, sie stehen stark unter dem Einfluss russischer Medien, im Alltag verständigen sie sich häufig auf Russisch und nicht auf Polnisch, oft schämen sie sich zuzugeben, dass sie nicht immer fließend Polnisch sprechen. Das ist eine Folge komplizierter historischer Prozesse, insbesondere der starken Russifizierungspolitik der 1960er und 70er Jahre. Ihr Stimmverhalten war großteils auch ein Veto gegen die Politik der litauischen Regierung gegenüber Belarus. Šalčininkai liegt nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt, und Vilnius hat zwei Drittel der Grenzübergänge geschlossen.
Die Schließung der Grenzübergänge hat die Bevölkerung vor Ort benachteiligt…
Auf der anderen Seite der Grenze liegt der überwiegende Teil des historischen Wilno-Gebiets der Vorkriegszeit. Viele kamen schon nach dem Krieg zur Arbeit aus Belarus nach Litauen, die Verbindungen sind stark, die Ortsansässigen von der anderen Seite haben Geschäfte, Familien und Friedhöfe. Daran hat die Zentralregierung nicht gedacht.
Die Aufnahmen von dem Grenzzaun und den älteren Frauen sind berühmt, wie sie einander Grablichter durchreichen, weil die Grenze Dörfer geteilt hat und ihr Friedhof auf der anderen Seite liegt.
Während des Wahlkampfs kam kein litauischer Politiker außer Vaitkus zu den Polen nach Šalčininkai, niemand sagte zu ihnen: „Ich verstehe euch, ich habe dort auch Familie, aber aus diesem und jenem Grund müssen wir die Zahl der Grenzübergänge einschränken.“
Du hast auch Gräber auf der belarusischen Seite des historischen Wilno-Gebiets?
Ja schon, aber ich verstehe, solange Lukaschenka lebt und sein Regime fortbesteht, solange werde ich sie nicht besuchen können. Aber mit dieser Logik wollen sich viele Einwohner der Rajons Vilnius und Šalčininkai nicht zufriedengeben.
Genauso wurde den Leuten vor Ort erklärt, wieso einige Durchgangswege in den Rajons blockiert sind: Von der Grenze fahren ungeheure Kolonnen von Fernfahrern durch ihre Region. Die örtlichen Polen sahen also, dass es mit Vaitkus endlich jemanden gibt, der sich nicht gegen die Russen ausspricht. Sein Programm sieht ein neosowjetisches Litauen vor, ein Litauen nach der Art von Lukaschenka.
Und viele Polen sind immer noch von Lukaschenka fasziniert und sehen ihn als erfolgreicher als die litauischen Politiker.
Ein gewisser Teil der Polen ja – diejenigen, denen es schlechter geht und die näher an der Grenze wohnen. Ein Teil kennt das echte Belarus, ein anderer hat zu viel russisches und belarusisches Fernsehen geguckt und ist den Lügen aufgesessen.
Die Anti-System-Kandidaten haben beinahe jede dritte Stimme in Litauen gewonnen. Können sie neue Bewegungen in Gang setzen, die sie bis ins Parlament tragen, und dessen Arithmetik verändern?
Der stärkste von ihnen, Vėgėlė, wird sich gewiss der Bauernpartei anschließen [Litauischer Verband der Bauern und Grünen, geleitet von Ramūnas Karbauskis, der 2020 die Macht verlor; A.d.Red.], heute in den Meinungsumfragen die dritte Kraft. Ignas Vėgėlė ist Rechtsprofessor, und das kann er auch nicht verleugnen. Er ist ein Populist, aber rhetorisch nicht so auf der Höhe wie Matteo Salvini oder Jarosław Kaczyński. Žemaitaitis wiederum hat bereits die kleine Bewegung Nemuno aušra (Morgenröte von Nemunas) hinter sich [die er ins Leben rief, als er wegen antisemitischer Äußerungen aus der Partei „Freiheit und Gerechtigkeit“ ausgeschlossen worden war; A.d.Red.]. Ich denke, vor allem Žemaitaitis könnte versuchen, eine selbständige Rolle als Parteiführer zu spielen.
Und Vaitkus?
Vielleicht gründet er eine Partei, aber vergiss nicht, bei den Parlamentswahlen wird ein Teil der Wähler von ihm abspringen. Auch die Wahlaktion der Polen in Litauen hat keinen eigenen Kandidaten aufgestellt, eine Partei, für die traditionell ein großer Teil der russischen und polnischen Minderheit stimmt. Wenn die Aktion im Herbst antritt, wird sie Vaitkus Stimmen kosten. Sollte dieser eine Bewegung gründen, wird er sein Ergebnis nicht wiederholen und ganz bestimmt nicht ins Parlament einziehen.
Sollten die antisemitischen und prorussischen Populisten ins Parlament gelangen, werden sich die größeren Parteien auf der Suche nach Koalitionspartnern mit ihnen arrangieren müssen. Droht Litauen eine rechtspopulistische Wende wie in vielen europäischen Ländern?
Danach sieht es nicht aus. Litauens politische Kultur mag zwar nicht sonderlich hoch entwickelt sein, aber die Sozialdemokraten werden nicht gemeinsam mit den Populisten regieren wollen. Sie mögen heute die Konservativen kritisieren, aber wenn es nötig sein sollte, können sie mit diesen eine große Koalition bilden und zusammen regieren.
Werden die Wähler das verstehen?
Nicht alle. Für viele Wähler der Sozialdemokraten ist die Familie Landsbergis, der jetzige Parteichef Gabrielius Landsbergis und sein Großvater, der erste Staatschef des unabhängigen Litauen Vitautas Landsbergis, das schlimmste Übel.
Wäre das also eine Probe aufs Exempel für die Politiker, ob sie in der Lage sind, eine unpopuläre Entscheidung aus Verantwortung für das Land zu treffen?
Ja. Aber wie ich schon sagte, selbst ein sozialdemokratischer Sieg bei den Parlamentswahlen würde keine Mitte-Links-Koalition garantieren. Es ist möglich, dass die LSDP im Herbst vor einem großen Dilemma stehen wird: Ob sie ihren Grundsätzen treu bleiben soll, indem sie jegliche Zusammenarbeit mit den Konservativen ablehnt und eine Koalition mit Antisystem-Populisten eingeht, obwohl das das Regieren sehr schwer machen würde, oder ob sie eine große Koalition bildet, in der das Regieren leichter sein wird, durch die sich aber ein sehr großer Teil der Wähler verraten vorkommen würde.
Aber wieso hat die AWPL keinen eigenen Kandidaten aufgestellt?
Früher stimmten viele Russen für die Aktion, doch später verlor diese die russischen Wähler. Anzutreten hieße demnach, dass ihr Vorsitzender Waldemar Tomaszewski ein schwaches Ergebnis erzielen würde. Dann hieße es bei den Leuten: Erst der Verlust des Rajon Vilnius an die Sozialdemokraten, dann ein internes Problem der Partei, und jetzt ein schwaches Wahlergebnis. Die Präsidentschaftswahlen waren ein Kräftemessen vor den Wahlen im Herbst, und die AWPL wollte sich keine Blöße geben, Tomaszewski wollte außerdem den zentrifugalen Kräften im Verband der Polen in Litauen keinen Zündstoff liefern, in dem jemand seine Führung in Frage stellen könnte.
Im Herbst werden sich wahrscheinlich Politiker der russischen Minderheit auf den Listen der AWPL befinden. Ist das keine Belastung für Tomaszewski?
Wie schon gesagt, er braucht die russischen Stimmen, um die Prozenthürde zu überspringen, außerdem ist es für ihn selbst kein Problem – für ihn ist die Familie Landsbergis der Feind, während er sich unter den Russen wohlfühlt. Einige wie Michał Dworczyk oder Jan Dziedziczak sehen in den Polen in Litauen ein Atlantis des Polentums, sie denken, 1945 sei hier auf den Pausenknopf gedrückt worden, 1990 auf Start, und damit seien die alten Polen aus der Zwischenkriegszeit wieder aufgetaut worden. Sie verstehen nicht, dass viele Polen ganz anders sind, als sie sich das vorstellen.
Und wird es die AWPL im Herbst in den Seimas schaffen?
Ich weiß nicht, wie sie die Stimmen der russischen Minderheit in Litauen zurückgewinnen könnte. Wenn sie das schaffen, werden sie ins Parlament kommen, wenn nicht, bleiben sie unter der Schwelle. Die Stimmen der Polen allein werden nicht ausreichen, es wird ihnen nicht gelingen, 60 bis 80 Prozent der polnischen Minderheit zu mobilisieren, denn die Polen sind sich untereinander nicht einig. Früher hatte die Aktion ein Bündnis mit einer russischen Partei, der Allianz der Russen, aber später ist die Allianz zerfallen. Die Russen sind desorganisiert, und nach dem 24. Februar 2022 haben viele Angst, für eine Partei zu stimmen, die doch vor allem polnisch ist, sie denken: „Wenn etwas passieren sollte, wird die AWPL das tun, was ihr aus NATO-Warschau befohlen wird.“ Außerdem sehen die Russen, dass Tomaszewski es sich nicht mehr erlaubt, so prorussisch aufzutreten wie früher.
Besteht in Litauen Einigkeit über die Parteiengrenzen hinaus, dass man der Ukraine in diesem Krieg helfen muss?
So ein Einverständnis besteht, der einzige, der den Konsens in Frage gestellt hat, war Vaitkus.
Werden in Litauen historische Debatten mit der gleichen Heftigkeit geführt wie in Polen?
Ja, solche Debatten gibt es. Ich schaute mir die Präsidentschaftsdebatte an – kein Kandidat wusste wirklich gut bei außenpolitischen Fragen zu antworten oder bei Fragen zur Sicherheitspolitik. Niemand schaffte es, wirklich interessante Vorschläge zu machen, wie die bisherige Politik zu korrigieren sei. Und wenn Fragen nach Identität und Kultur gestellt wurden, dann gerieten sie ins Schwatzen.
Und welche Themen bringen die Litauer am stärksten in Wallung?
Als der russisch-ukrainische Krieg eskalierte, legte die Regierung mehr Gewicht auf patriotische Stimmungen. Aber was heißt das in der Praxis? Geschichte, Geschichte, Geschichte. Zum ersten sind ein wichtiges Thema die Partisanen, die im Zweiten Weltkrieg gegen die Sowjets kämpften. Zum zweiten, die späte Stalinzeit seit der sowjetischen Besetzung Litauens 1940. Genau in diesem Kontext wurde einem Gymnasium in Vilnius seine Namenspatronin Salomėja Nėris genommen, die eine sowjetische Aktivistin, zugleich aber sehr begabte Dichterin war. Zum dritten, die kommunistischen Zeiten überhaupt, aber besonders die späte Zeit, die 1970er und 80er Jahre. Es wird eine Debatte um die Persönlichkeit des Justinas Marcinkevičius geführt, des 2011 verstorbenen Dichters, der einerseits in Sowjetzeiten ein regimenaher Dichter war und im Luxus lebte, andererseits aber die Präambel der litauischen Verfassung schrieb. Das ist das schlimmste Dilemma des historischen Gedächtnisses in Litauen – wie mit den kommunistischen Zeiten umzugehen sei.
Und der Holocaust?
Das ist ein wichtiges Thema, aber doch nicht so wichtig. Alle geben schon zu, dass Litauer sich am Holocaust beteiligten, dass sie als Henker und Bürokraten kollaborierten, aber davon wird nicht gern gesprochen. Mit der Shoah haben wir immer noch ein Problem. Es gibt ein Denkmal für Juozas Krikštaponis in Ukmergė. Nach dem Krieg kämpfte Krikštaponis mit den Partisanen gegen die Sowjets, aber vorher hatte er mit den Nazis kollaboriert und Juden in Belarus erschossen. Es gibt immer noch weiße Flecken, von denen kaum einer etwas weiß und die auf ihre Zeit warten, fügen wir dem hinzu, dass die Litauer während des Kriegs in Ponary [Stadtteil von Vilnius, litauisch Aukštieji Paneriai; A.d.Ü.] etwa zweitausend Polen ermordeten.
Die Litauer sehen sich lieber als Teil von Nord‑ als von Mitteleuropa. Ist die Konzeption von Baltoskandia populär, die die baltischen und skandinavischen Länder miteinander verbindet?
Sich als Bestandteil von Skandinavien sehen zu wollen, ist keine geopolitische Konzeption, sondern der Traum von einem guten Leben, der endlich Wirklichkeit geworden ist. Skandinavien ist für die Litauer ein Synonym für das Paradies, in dem Gleichheit herrscht, in dem alle wohlhabend und glücklich sind. Aber das hat eher etwas Spielerisches, zum Beispiel überall zu verkünden, die UNO habe uns als nordeuropäisches, nicht als osteuropäisches Land anerkannt. Oder eine gewisse bekannte Influencerin, die Litauen das „Neue Nordland“ nannte.
Und nach Mitteleuropa wird weniger gern geblickt.
Einzelne kennen Tschechien, die Slowakei oder Ungarn sehr gut. Polen ist immer besser bekannt, nicht nur Podlachien, das wird nicht als Freilichtmuseum gesehen. Polen wird immer mehr zum Bezugspunkt: Es liefert ein Vorbild, weil Polen seine Straßen verbessert hat, es hat seine Verteidigungsausgaben auf vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöht, immer öfter fahren die Leute dort ans Meer, nicht nur in den Urlaub, machen Geschäfte usw. Und wenn wir die Via Baltica und Rail Baltica fertigstellen, dann wird Warschau als Stadt, in der man mal eben einen Kurzurlaub verbringt, Theater und Museen besucht und Einkäufe macht, an Bedeutung gewinnen, auch als Stadt, die Trends setzt. Schließlich ist Warschau die Litauen am nächsten gelegene Millionenmetropole.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann
Politologe, Dozent am Institut für Internationale Beziehungen und Politische Wissenschaften der Universität Vilnius.
Reporter, Buchautor, Laureat des Nike-Literaturpreises.