In der polnischen Debatte hat es sich eingebürgert, dass jeder anstehenden Wahl eine außergewöhnliche Bedeutung beigemessen wird. Das ist eine nicht zuletzt von der Wahltaktik diktierte Rhetorik: Da die Öffentlichkeit stark polarisiert ist und es nur wenig Bewegungen von einer Wählergruppe zur anderen gibt, kommt es für die Parteien in erster Linie darauf an, ihre jeweilige Basis zu mobilisieren. Doch lässt sich andererseits dieser politischen Rhetorik nicht ganz die Aufrichtigkeit absprechen. In einer durch die langjährige Lagerbildung zwischen Bürgerplattform (PO) und Recht und Gerechtigkeit (PiS) bestimmten politischen Kultur haben sich ausgesprochen militante Einstellungen herausgebildet. Beide Seiten erklären sich zu nichts Geringerem als Hütern der höchsten Werte, die vom Gegner tödlich bedroht werden. Daher wäre es das Beste, diesen gleich völlig zu eliminieren, doch leider habe er seine Gräben bereits zu tief gezogen. Was bleibt, ist, ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu schwächen beziehungsweise einzudämmen. Das gemahnt an George Kennans bekanntes Containment-Konzept aus dem Kalten Krieg.
In dieser Logik werden die europäischen Wahlen zu so etwas wie einem Stellvertreterkrieg. Die letzten von 2019 waren hauptsächlich ein Truppenübungsplatz, auf dem die Parteien Wahlkoalitionen und ‑narrative austesteten, bevor sie ihren Frontalangriff im Kampf um Sejm und Senat eröffneten. Diesmal ist die Reihenfolge umgekehrt, weil die Wahlen zum Europäischen Parlament eine Wahltriade beschließen. Die in den Wahlen vom Herbst vergangenen Jahres durch die demokratische Koalition erzielte Parlamentsmehrheit ist bereits Realität, und auf halbem Weg kam es noch zu einem Patt bei den polnischen Lokalwahlen. Die Junischlacht soll nunmehr den Verlauf der Demarkationslinie stabilisieren, bis sich auf beiden Seiten wiederum massive Kräfte gruppieren werden. Schließlich wird es in einem Jahr schon wieder ums Ganze gehen, nämlich um die Präsidentschaft.
Allein, der dritte Zusammenprall dieser Art im Verlauf eines Jahres, das könnte dem durchschnittlichen Wähler ein bisschen zu viel werden, der sich vielleicht von Zeit zu Zeit in den politischen Konflikt hineinziehen lässt, dabei aber noch nicht in den mentalen Schützengräben steckengeblieben ist. Er hat die heftigste Zeit bereits hinter sich. Freilich steigerte er sich wie nie zuvor bei den Parlamentswahlen vom 15. Oktober 2024 hinein und durchlebte anschließend eine Phase der Euphorie oder auch der tiefen Niedergeschlagenheit. Doch der Karneval dauert nicht ewig, genauso wenig wie die Trauer. Schließlich geht das Leben weiter; ein Leben, das übrigens immer weniger stabil verläuft und bis zur Hutkrempe von Ängsten erfüllt, aber dafür umso aufregender ist. Theoretisch sollte die Politik in erster Linie Lösungen für Probleme liefern, aber seit sie fast ausschließlich auf Krawall ausgerichtet ist, leidet sie an einem Vertrauensdefizit, besonders bei den politisch weniger engagierten Bevölkerungsteilen.
Bereits die Lokalwahlen zeigten, dass die Wahlbeteiligung in Rekordhöhe vom Herbst ein einmaliges Ereignis war und keineswegs die neue polnische Norm. Der Rückgang der Wahlbeteiligung um ein Drittel war eine unliebsame Überraschung für die Parteichefs und die Kommentatoren, aber insgesamt war das noch nicht das Schlimmste. Viele Wähler empfanden nicht das Bedürfnis, beim nächsten Akt der Rettung der Demokratie oder der nationalen Souveränität wieder mit dabei zu sein, nicht wenige wollten es ihren Repräsentanten in den Lokalverwaltungen einfach auch nur mal zeigen. Während sich jedoch auf lokaler Ebene immer noch ein Gefühl erhält, der Bürger habe tatsächlich Einfluss auf die öffentlichen Angelegenheiten, hat es in solches Gefühl auf europäischer Ebene niemals gegeben. Und das Europäische Parlament gilt allgemein als nutzlose Schwatzbude, die noch dazu aus unerfindlichen Gründen mit fetten Diäten subventioniert wird. Deshalb ist davon auszugehen, dass die Wahlbeteiligung noch schwächer ausfallen wird als bei den Lokalwahlen.
Übrigens ist deutlich zu sehen, dass sich der aktuelle Wahlkampf in einem sozialen Vakuum und bei relativ geringem Interesse abspielt. Die Parteien selbst machen einen verschlafenen und schlaffen Eindruck; nicht zuletzt machen sich die von den vorhergehenden Wahlkämpfen erschöpften Kriegskassen bemerkbar. Die Wahlbeteiligung wird also nicht weiter nennenswert ausfallen, zumindest gemessen an den unlängst aufgekommenen Erwartungen. Die Aussicht auf mangelndes Wählerengagement übt ihren Einfluss auf die Strategien der Partei aus. In den Wahlkampfbüros hat man eingesehen, dass die Chancen ohnehin gering seien, die eher gemäßigten Wähler hinter dem Ofen hervorzulocken, also sei ganz auf den harten Kern zu setzen. Und so wurde jener Teufelskreis in Bewegung gesetzt, der nunmehr die Entfremdung zwischen Bürger und Politik vertieft. Die politischen Narrative wurden auf besonders radikal getrimmt, beide Seiten bedenken sich mit den schlimmsten Unterstellungen, und die diese Zänkereien beobachtende schweigende Mehrheit will sich desto mehr von dem dargebotenen Spektakel fernhalten.
Es hilft auch nicht viel, dass die in diesem Wahlkampf aufgebrachten Themen wie gemacht für die kollektive Erfahrung sind. Die Bürgerkoalition unternimmt einen glaubwürdigen Versuch, die Europäische Union in den Kontext der durch die russische Aggression bedrohten nationalen Sicherheit zu bringen, der zusätzlich unterfüttert ist durch den unsicheren Ausgang der Präsidentschaftswahlen in den USA und das zukünftige Verhalten dieses wichtigsten aller Bündnispartner. Daher versetzt Donald Tusk ja auch mit solcher Beharrlichkeit das Publikum mit der Rede von der „Vorkriegszeit“ in Alarmstimmung. Der sich gewandt auf der europäischen Bühne bewegende Regierungschef hat übrigens die richtigen Trümpfe im Ärmel, um diese Karte zu spielen. Übrigens scheint er als einziger wirklich daran interessiert zu sein, wie viele Mandate seine Partei im nächsten Europäischen Parlament besitzen wird. Wenn diese den geplanten Einfluss in der Europäischen Volkspartei (EVP) als zweit‑ oder drittstärkster Fraktion gewinnen sollte, wird sie nach dem Stand der Dinge zu einem der wichtigsten Stichwortgeber in der neuen Legislaturperiode werden. Für die übrigen Parteichefs in Polen, Jarosław Kaczyński eingeschlossen, ist das eine minderwichtige Frage, weil es ihnen fast ausschließlich um die innenpolitischen Gesichtspunkte geht.
Dem für seine Agilität im Wahlkampf bekannten Tusk sind diese ebenfalls keineswegs gleichgültig. Jede seiner Versprechungen wird nämlich flugs zum Motto seines großen Feldzugs gegen den Rechtspopulismus. Bei jedem Wahlkampfauftritt streicht er den zivilisatorischen Unterschied heraus, den die „westliche“ Bürgerkoalition von der „östlichen“ PiS-Partei trennt. Keine Fragen offen ließ in dieser Hinsicht seine im Sejm gemachte Äußerung über die „bezahlten Verräter und Knechte Russlands“ [polnisch: „płatni zdrajcy, pachołki Rosji“]. Das war eine scherzhafte Auflösung der Abkürzung für die vormalige kommunistischen Partei [PZPR für Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, Polnische Vereinigte Arbeiterpartei; A.d.Ü.], wie sie vor über dreißig Jahren auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen über die Entkommunisierung populär wurde und jetzt unter ganz anderen Umständen wieder in Gebrauch kommt. Doch ist der Ministerpräsident damit nicht ein wenig zu weit gegangen? So ganz ist nicht klar, ob er damit wirklich den Gegner beschuldigen wollte, im Dienst einer auswärtigen Macht zu stehen, oder ob es sich dabei lediglich um eine Wahlkampfparole handelt. Schließlich hat er einen Ausschuss zur Untersuchung „russischer Einflussnahme“ eingerichtet, aber PiS hatte ein Jahr zuvor damit gedroht, gegen ihn dieselbe Maßnahme zu treffen. Die Absicht dahinter war bekannt.
Noch schlimmer, diese Zweideutigkeit bei den randständigen Themen färbt zwangsläufig auch konkrete Versprechungen Tusks ab. Fast jeder in Polen spendet natürlich Beifall für seine Ankündigung der Befestigung der östlichen Grenze und des europäischen Raketenabwehrschilds, weil die von Russland ausgehende Bedrohung kaum realer sein könnte. Allerdings hat sich der Regierungschef die Versprechungen quasi nur so aus dem Ärmel geschüttelt, genau in dem Augenblick, als die Öffentlichkeit sich über einen nach Belarus geflüchteten Richter und dessen Landesverrat empörte. Zudem beruhen Tusks Versprechungen auf eher wackeligen Berechnungen und allzu optimistischen Vorannahmen. Es ist also keineswegs klar, ob es sich dabei um durchdachte Konzeptionen handelt, um erste Entwürfe oder um eine reine Augenblicksimprovisation, deren Umsetzungschancen noch völlig offen sind.
Diese Art zu kommunizieren ist in Polen selbstverständlich nicht neu. Ein sich abzeichnendes, reales Problem wird sehr häufig zum Vorwand, welcher der Regierung gestattet, ihre exekutive Gewalt zur Geltung zu bringen. Tusk gebrauchte diese Methode während seiner ersten Regierung (2007–2014), und PiS entwickelte sie später über Jahre hinweg fort. Mit der Zeit wurde es geläufig, eine gute Regierung mit einem Serviceunternehmen gleichzusetzen, das immer zu Diensten steht, wenn ein gerade sich rührendes Zipperlein zu beheben ist. Allerdings ist die von Russland ausgehende Gefahr wohl etwas ernster zu nehmen als ein Zipperlein. Hier ist das am tiefsten im polnischen historischen Bewusstsein verankerte Faktum auf die Tagesordnung zurückgekehrt. So drängt sich der Gedanke auf, an dieser Stelle sei nicht mehr nur ein kenntnisreicher Experte vonnöten, sondern ein Staatsmann.
Leider steht es einem Staatsmann gewöhnlich nicht gut zu Gesicht, im Sumpf des Parteiengezänks herumzustapfen. Aber Tusk kann sich nicht erlauben, den Konflikt mit PiS einfach auf sich beruhen zu lassen. Noch vor wenigen Monaten erschien es seiner Partei, als ob die Abrechnung mit der Vorgängerregierung längere Zeit ein idealer Katalysator sein würde, um den prosaischen Regierungsalltag wenigstens bis zum Herbst aufschieben zu können. Dieses Kalkül ging jedoch nicht auf. Denn einerseits erwies es sich, dass es nicht so einfach ist abzurechnen, wenn sich politische und institutionelle Barrieren dem entgegenstellen, was den allgemeinen Eifer sehr dämpfte, diesen Pfad weiter zu verfolgen. Heute empfinden die einen also ein Ungenügen wegen der unzureichenden Resultate der Abrechnungen, die anderen aber sehen in den immer noch unternommenen Versuchen nur einen Aktionismus des social engineering, der davon ablenken soll, dass ein eigentliches substantielles Regierungskonzept immer noch auf sich warten lässt. Mit letzterem muss schließlich den Leuten eine Art von Angebot gemacht werden, aber vorerst herrscht immer noch die Logik der Wählermobilisierung.
Recht und Gerechtigkeit wiederum macht den Leuten bis zum Überdruss mit dem Green New Deal Angst, wobei die Partei natürlich dieses EU-Projekt bei dem der rechtsgerichteten Wählerschaft geläufigen Stereotyp von den „europäischen Eliten“ ansiedelt. Dieses Narrativ wurde unlängst durch die Proteste der Landwirte einigermaßen glaubwürdig gemacht, obwohl die Zustimmung dazu inzwischen etwas abgeflaut ist. Ein wesentlicher Anreiz für die in der Gesellschaft verbreiteten Ängste ist aber nach wie vor die in der Kommunikation vernachlässigte Direktive zur Wärmedämmung von Gebäuden wie auch das schon seit einigen Jahren geplante Ende von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren. Doch in der Hierarchie der Gefahren ist das trotz allem deutlich niedriger angesiedelt als die mögliche Ausweitung der russischen Aggression.
Trotz ehrlicher Anstrengungen ist es den Rechten nicht gelungen, diesem Wahlkampf ihren Stempel aufzudrücken. Tusks Narrativ von nationaler Sicherheit erwies sich dann doch als tragfähiger. Ebenso wenig ist der PiS-Partei das Gezänk im eigenen Hinterhof dienlich, das sich oft an ungeahnter Stelle Bahn verschafft. Zu der ungünstigen Bilanz kommen noch jeden Augenblick neue Leichen im Keller hinzu: regelmäßig neu aufgedeckte Rechtsbrüche, immer weitere Fälle von schamlosem Nepotismus, Missbrauch von Budgetmitteln zur Bekämpfung der Opposition. Der größte Schlag für die Wahlkampagne von PiS kam auf der Zielgeraden mit der Aufdeckung der korrupten Praktiken bei der Verteilung von Mitteln aus dem regierungseigenen Gerechtigkeitsfonds.
Trotz allem liegen die beiden wichtigsten Parteien in den Umfragen Kopf an Kopf. Das Wahlergebnis ist umso schwerer vorherzusagen, als quantitative Umfragen das jeweilige Mobilisierungspotential falsch einschätzen können. In der ferneren Vergangenheit waren die Wahlen zum Europaparlament eher vom liberalen Lager beherrscht, weil sich seine besser gebildeten und zivilgesellschaftlich bewussteren Wähler aus den Großstädten statistisch mit größerer Wahrscheinlichkeit an die Urnen begaben. Aber bereits vor fünf Jahren wurden die Großstädte von dem der Rechten zuneigenden flachen Land überstimmt, weil dieses von der genauso abstoßenden wie absurden Hetzjagd von PiS auf die „LGBTQ-Ideologie“ mobilisiert wurde. Wie es damit in diesem Jahr aussehen wird, bleibt völlig offen. Eine Neigung zu beiden Seiten ist möglich, von der der endgültige Zieleinlauf abhängen wird. Das ist für beide führenden Parteien zentral. Tusk braucht den seit einem Jahrzehnt ersten unabhängigen Sieg über PiS, damit seine Anhänger endlich spüren, dass die Abrechnung mit dem Rechtspopulismus Früchte zu tragen beginnt. Kaczyński wiederum kämpft um die Führung, Autorität und Geschlossenheit seiner Partei.
In weiterer Perspektive wird der Knoten, in den beide Seiten miteinander verwirrt sind, negative Auswirkungen auf die Interessen der Gesellschaft haben. Dass Tusk Sicherheits‑ und Innenpolitik eng miteinander verknüpft hat, schließt für die Zukunft prinzipiell Kompromisse in einem Bereich aus, der eigentlich von parteipolitischem Hader frei sein sollte. Folge ist ein weiterer Rückgang des Vertrauens in die gesamte politische Klasse, was in einer Zeit existentieller Unsicherheit noch schwer zu stehen kommen kann. Umso mehr die Gesellschaft polarisiert ist und sich misstrauisch beäugt, desto geringer ist ihre Widerstandsfähigkeit gegen Manipulationen von außen und andere Techniken der hybriden Kriegführung Russlands. Es ist bemerkenswert, dass das Sich-um-die-Fahne-Scharen nichtmals nach dem Angriff auf die Ukraine funktionierte, obwohl dieser in der polnischen Gesellschaft einen Schock auslöste.
Die politische Nation ist heutzutage eine Leerformel geworden. Auch die Identifizierung der Polen mit Europa wird leiden. Einerseits ist das wohl unvermeidlich; denn die naiven Idealbilder aus der Zeit des EU-Beitritts konnten nicht auf Dauer fortbestehen. Die lange PiS-Regierung (2015–2023) hat jedoch den Keim eines Kulturskeptizismus gegen Europa gelegt, der leider die Grenzen der jeweiligen Wählergruppen überschreitet. Hinzu kommt, dass eine rein geschäftliche Einstellung zur Politik immer mehr Fuß gefasst hat: Nur wer augenblickliche Vorteile bringt, ist der Unterstützung wert. Auch die europäische Politik ist zur Geisel dieser Regel geworden, das Denken in Begriffen von Gemeinschaft wird immer mehr durch reine Interessenpolitik verdrängt.
In der rechtspopulistischen Version führt das zu radikalen Schlüssen, denn irgendwo am Ende verbirgt sich noch unausgesprochen der „Polexit“. Aber auch die linksliberale Seite hat insgesamt gesehen diesen Diskurs aufgegriffen. Sie betont, die EU-Mitgliedschaft mache sich heute für Polen besonders bezahlt, weil in Anbetracht einer möglichen erneuten Präsidentschaft Trumps möglichst schnell eine neue Sicherheitsstruktur aufzubauen sei. Das Lager übernimmt dagegen für gewöhnlich in Fragen der Klimapolitik oder beim Migrationspakt eine rein landeseigene Sichtweise, wobei es in erster Linie polnische Verhandlungspositionen absteckt, ohne seinen Anhängern irgendeine gesamteuropäische Perspektive zu vermitteln. Vorerst reicht das noch aus, um einen hohen Grad der Zustimmung zur EU aufrechtzuerhalten. Doch die Interessen ändern sich schneller als die Identitäten, und bereits in wenigen Jahren, besonders angesichts der Aufnahme der Ukraine, wird Polen nicht länger Empfänger leicht berechenbarer EU-Transfers sein. Dann wird es leider viel schwieriger sein, die Frage zu beantworten, was wir eigentlich von dieser EU erwarten.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann