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Belarus im Exil

Aureliusz M. Pędziwol spricht mit Pawel Latuschka, Vizechef des Vereinigten Provisorischen Kabinetts von Belarus.

 

Aureliusz M. Pędziwol: Sie sind Vizechef des Vereinigten Provisorischen Kabinetts von Belarus? Ist das eine belarusische Exilregierung?

 Pawel Latuschka: Wir haben in der Emigration Institutionen, welche die belarusische Gesellschaft im Land und die belarusische Diaspora repräsentieren. Wir haben eine Präsidentin, die die Wahlen von 2020 gewann, was allgemein anerkannt wurde, obwohl Swjatlana Zichanouskaja ihr Amt nicht antreten konnte, weil Lukaschenka das mit Gewalt verhinderte und die Macht nicht abgab. Während eines Kongresses demokratischer Kräfte im August 2022 riefen wir das Vereinigte Provisorische Kabinett als Exekutivorgan ins Leben, also als Exilregierung. Außerdem haben wir den Koordinationsrat, und wir sind gerade dabei, die Wahlen dazu zu planen.

Der Rat ist ein Parlament?

Es handelt sich um ein Vorparlament. Es wird auch eine zweite Kammer geben, in dem überparteiliche Nichtregierungsorganisationen versammelt sein werden.

Etwas in der Art eines Senats?

Nein, eher eine beratende Körperschaft, die Stimme der Gesellschaft, der Nichtregierungsorganisationen, die im Land verboten wurden. Die Regierung hat bereits mehr als anderthalbtausend NGOs aufgelöst, und weitere 900 befinden sich in Liquidierung. Ihre Vertreter wurden gezwungen, Belarus zu verlassen und haben einen Teil der NGOs im Ausland reaktiviert.

Wir haben also Exilinstitutionen des belarusischen Staates ins Leben gerufen. Wir haben auch eine Opposition, die mit unserer Politik nicht einverstanden ist und die unser Recht in Frage stellt, solche Organe einzurichten. Aber als Politiker bin ich mir bewusst, dass Institutionen einem System Dauerhaftigkeit verleihen. Und ein System ist wichtig, weil gleichzeitig die Interessen der Belarusen im Ausland zu berücksichtigen sind wie auch eine ausländische Repräsentation der Interessen der Belarusen im Inland. Und auch, um den Widerstand gegen das Regime zu organisieren.

Wie viele belarusische Wahlberechtigte halten sich außerhalb der Landesgrenzen auf?

Nach letzten Daten, die von dem polnischen stellvertretenden Minister für Familie und Sozialpolitik stammen, leben in Polen mehr als 310.000 Belarusen. An zweiter Stelle kommt Litauen, wo es 67.000 von uns gibt. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates gab im Mai vergangenen Jahres die Zahl von einer halben Million Belarusen an, die Belarus verlassen haben. Auf der Grundlage verschiedener an uns gelangter Informationen schätzen wir, dass jetzt vielleicht sogar anderthalb Millionen Belarusen außerhalb des Landes leben. 2020 hatte Belarus mehr als neun Millionen Einwohner. Nach einem von Lukaschenka in Auftrag gegebenen Bericht sind es gegenwärtig 7,8 Millionen.

Aber wenn ich Sie richtig verstehe, sprechen Sie von den Gesamtzahlen der im Ausland lebenden Belarusen, nicht von den Wahlberechtigten?

Ja. Ich bin im Augenblick nicht in der Lage zu präzisieren, wie viele von den im Ausland lebenden Belarusen stimmberechtigt sind.

In Kürze sind vier Jahr seit den von Lukaschenka gefälschten Präsidentschaftswahlen vergangen. Wie hat Ihrer Meinung nach der Westen darauf reagiert?

Langsam und verspätet. Diktatoren brauchen viel weniger Zeit, um Entscheidungen beispielsweise über Repressionen zu treffen. Demokratie dagegen verlangt Beratungen und Diskussionen. In der Europäischen Union werden Entscheidungen von 27 Ländern getroffen. Das hat dazu geführt, dass wir viel Zeit verloren.

Es ist ein grundsätzliches Problem, dass heute nur ein einziges Land eine Strategie hat, was mit Belarus zu tun sei. Das ist die Russländische Föderation. Und deren Strategie besteht darin, Belarus in das russländische Imperium einzugliedern.

Russland will die Ukraine durch Unterwerfung in sein Imperium eingliedern, Belarus mit nichtmilitärischen Mitteln. Daher werden ungeheure Mittel, hunderte Millionen, vielleicht sogar Milliarden Dollar für Propaganda ausgegeben, um die Ansichten der Belarusen zu ändern. Um die Mehrheit zu schwächen, die für Demokratie, Menschenrechte und eine gemeinsame Perspektive mit Europa eintritt. Um ihr die Motivation zu nehmen.

Noch ein Problem ist – als die Belarusen 2020 auf die Straße gingen, glaubten sie, die Demokratie sei wirksam. Das internationale Recht werde dafür sorgen, sowohl Lukaschenka selbst zur Verantwortung zu ziehen, weil er den Befehl gegeben hatte, auf die Menschen zu schießen, als auch seine Untergebenen.

Aber es sind vier Jahre vergangen, und gegen Lukaschenka wurde kein Verfahren eingeleitet. In Sachen der Deportation von Kindern aus der Ukraine und ihrer Indoktrination haben wir als Nationale Leitung zur Krisenbekämpfung Materialien an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag übergeben. Gemeinsam mit dem litauischen Zentrum zur Verteidigung der Menschenrechte Justice Hub haben wir einen Bericht dazu erstellt, wie von Mai 2020 bis Mai 2023 in Belarus mindestens 136.000 Menschen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Opfer gefallen sind. Aber niemand wird zur Verantwortung gezogen, und die Belarusen sehen, dass es seitens der Europäischen Union keine wirksame Unterstützung für unseren Kampf gibt.

Welche Maßnahmen erwartet sich Swjatlana Zichanouskajas Kabinett von der Europäischen Union?

Erstens sollte sie eine Strategie entwickeln, bei der ganz oben steht, Lukaschenka und seine Helfershelfer strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Zweitens müsste sie sich stärker gegenüber der belarusischen Gesellschaft öffnen.

In letzter Zeit ist viel die Rede davon, Waffen zu kaufen, um die Sicherheit der Europäischen Union zu verbessern, besonders der Länder in der Nachbarschaft von Belarus und Russland. Dem widerspreche ich nicht. Aber die mächtigste Waffe ist die Gesellschaft. Wenn bis heute die Mehrheit der Belarusen gegen den Krieg und gegen Lukaschenka ist, sollten wir doch gerade auf diese Waffe setzen, auf die belarusische Gesellschaft. Denn Belarus unterscheidet sich in dieser Hinsicht von Russland, wo die Mehrheit für den Krieg und für Putin ist.

Wenn die belarusische Gesellschaft sich weiter dem Krieg und der erneuten Benutzung belarusischen Gebiets für die Aggression gegen die Ukraine oder irgendeinen anderen unserer Nachbarn widersetzt, wird das die mächtigste Waffe sein. Wenn jedoch die Gesellschaft die Motivation verliert, bekommen das auch unsere Nachbarn schmerzhaft zu spüren, die Mitglieder der Europäischen Union und der NATO sind.

Und drittens?

Der dritte Bestandteil der Strategie sollte selbstverständlich die Visapolitik sein. Wir sind uns klar darüber, dass die Schwierigkeiten mit der Ausgabe von Visa an Belarusen nicht die Schuld unserer Partner in der Europäischen Union ist, sondern auf die Entscheidung Lukaschenkas zurückgeht, viele Diplomaten und Konsuln auszuweisen. Es müssen Mechanismen ausgearbeitet werden, damit die Belarusen Visa erhalten und ins Ausland reisen können. Wieso nur wird gewöhnlichen Belarusen die Möglichkeit genommen, in die Europäische Union zu reisen, während zugleich mit dem Aggressor mit sogar größeren Umsätzen Handel getrieben wird?

Wie stark ist der EU-Handel mit Belarus gewachsen?

Fachleute geben an, dass in den Jahren 2022 und 2023 aus Deutschland, Litauen und Polen durch Belarus Waren im Wert von zehn Milliarden Euro geliefert wurden, die für die weitere Kriegführung eingesetzt werden könnten.

Bedeutet das, dass die Sanktionen Belarus nicht betreffen?

Die EU-Sanktionen gegen Russland sind zwölfmal höhere als diejenigen gegen Belarus. Wenn aber Ziel der Sanktionen sein soll, es Russland zu erschweren, den Krieg zu finanzieren, ist zu bedenken, dass Belarus und Russland eine Wirtschaftsgemeinschaft bilden. Wenn also die Handelsumsätze zwischen der Europäischen Union und Belarus steigen, bedeutet das, dass in Wahrheit diejenigen mit Russland steigen. Waren gelangen weiter dorthin, eben nur im Transit durch Belarus.

Mit anderen Worten, es verhält sich damit genauso wie mit Zentralasien?

Ganz genau. In unserer Region ist Belarus führend, das Regime Lukaschenka. Zum Beispiel bei den Farben. Früher kaufte Belarus Farben für 16.000 Euro, und jetzt für 15 Millionen Euro. Das ist beinahe eintausend Mal so viel! Was heißt das? Dass diese Farben durch Belarus auf den russischen Markt gelangen. Denn aus der Europäischen Union können keine Farben nach Russland geliefert werden.

Jede Statistik zeigt gestiegene Umsätze an. In letzter Zeit wuchs zum Beispiel der Export von Glas aus Belarus in die EU um das Vierfache. Und warum? Weil auf dem EU-Markt kein russisches Glas mehr verkauft werden darf. Belarusisches Glas dagegen schon. Dieser vierfache Anstieg von Verkauf belarusischen Glases an die EU bedeutet daher, dass Russland schlicht die Schlupflöcher nutzt und über Belarus sein Glas in den Westen verkauft. Dass es sich um russisches Glas handelt.

Interessanterweise wissen das in der Europäischen Kommission alle. Und ich weiß meinerseits, dass sie es wissen, weil wir dort schon viele Gespräche geführt haben, bei denen alle Belege, Dokumente und Ausarbeitungen übergeben wurden. Aber niemand will eine Entscheidung treffen. Warum? Das ist eine Frage an unsere Partner, nicht an mich.

Was ist daraus zu schließen?

Erstens, dass der Transit durch Belarus in Drittländer verboten werden muss. Das würde bewirken, dass die Einführung von Waren nach Belarus sinnlos würde, um sie später faktisch nach Russland zu verkaufen.

Ist das realistisch?

Das hängt natürlich von Brüssel ab. Die Europäische Kommission kann auch Quoten für die Lieferung von Waren aus Belarus wie nach Belarus einführen.

Letzter Bereich, die Medien. Für die belarusische Gesellschaft oder zumindest einen Teil davon spielt seit Jahren der Fernsehsender Belsat TV [von Polen aus betriebener belarusischsprachiger Sender; A.d.Ü.] eine sehr wichtige Rolle. Ist das immer noch so?

Dieses Thema sollten wir weiter fassen. Auf einen Beschluss von Putin und Lukaschenka hin wurde eine Medienholding im Staatenverbund gegründet. Diese wird von Russland zur Annexion von Belarus benutzt. Schließlich sind die wichtigsten Instrumente der Annexion Ideologie und Propaganda. Durch die Schaffung gemeinsamer Medien, also Fernsehen, Zeitschriften, Zeitungen, wobei das russische Fernsehen bis nach Belarus hin ausstrahlen kann, durch den Einsatz eigener Propagandisten in belarusischen Programmen, die Lukaschenka unterstützen, will Russland die Ansichten der Belarusen verändern.

Wir kämpfen jetzt darum, wie die Belarusen denken, das ist die schwerste Aufgabe überhaupt. Unabhängige Medien können nur im Ausland funktionieren, denn in Belarus wurden sie als extremistisch eingestuft und liquidiert.

Um unsere Möglichkeiten zu erweitern, mit Informationen auf die belarusische Gesellschaft einzuwirken, brauchen wir ein Programm im europäischen Maßstab, das von den Amerikanern unterstützt wird. Und hier hat das aus Polen sendende Belsat TV strategische Bedeutung. Es ist besonders populär und nutzt viele Instrumente der sozialen Netzwerke.

Haben Sie keine Sorgen, was weiter aus Belsat TV werden könnte?

Bei meinen Gesprächen im polnischen Außenministerium wurde mir versichert, die neue polnische Regierung werde Belsat weiter unterstützen.

Außer Belsat TV ist sicher noch das amerikanische Radio Free Europe wichtig. Was noch?

Das aus Warschau sendende Euroradio (Europäisches Radio für Belarus) und aus Białystok das Belarusische Radio Razyja, die Internetportale Zerkalo.io und Nexta.tv, der Kanal Realnaja Belarus auf YouTube und die Wochenzeitschrift „Nascha Niwa“ (Unser Feld).

Viele Länder haben in ihrer Geschichte dasselbe durchgemacht, besonders Polen. Ihr hattet eine Exilregierung in Großbritannien und bemühtet euch um deren Anerkennung.

Jetzt kämpfen wir darum. Wie ich bereist sagte, haben wir unsere Staatsinstitutionen im Exil: Präsidentin, Regierung, Parlament. Jetzt ist wichtig, dass sie von unseren Partnern anerkannt werden. Das wird für die Zukunft unseres Landes von strategischer Bedeutung sein. Aber auch für Polen und andere Nachbarn. Wir haben schließlich übereinstimmende Interessen. Wir wollen in einem demokratischen und freien Land leben, und ihr wollt, dass euer Nachbar sicher ist, dass er nicht Polen, Litauen, Lettland und die ganze Europäische Union bedroht.

Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch und wünsche viel Erfolg.

Ich möchte mich auch bedanken. Nicht als Politiker, sondern einfach als Mensch. Für uns ist wichtig, dass hunderttausende Belarusen in Polen leben können. Dass wir in Polen aufgenommen wurden, ist eine sehr wichtige Geste der Solidarität, die bereits in die Geschichte der Beziehungen zwischen unseren Nationen, der polnischen und der belarusischen eingegangen ist. Dass ihr der belarusischen Nation in dieser schwierigen Lage Hilfe geleistet habt. Wir wissen das sehr zu schätzen.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann


Pawel Latuschka

Politiker und Diplomat, Stellvertreter der Chefin des Vereinten Provisorischen Kabinetts von Belarus, das heißt der belarusischen Exilregierung, Chef der Nationalen Leitung zur Krisenbekämpfung. Vormaliger Kulturminister von Belarus und vormaliger Direktor des Janka-Kupala-Akademischen Nationaltheaters in Minsk. Ehemaliger Botschafter von Belarus in Warschau, Paris, Madrid und Lissabon.

 


Aureliusz M. Pędziwol Autor bei DIALOG FORUM

Aureliusz M. Pędziwol, Journalist, arbeitet mit der polnischen Redaktion der Deutschen Welle zusammen. Er war 20 Jahre lang Korrespondent des Wiener WirtschaftsBlattes und für zahlreiche andere Medien tätig, darunter für die polnischen Redaktionen des BBC und RFI.

 

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