Die Europäische Union befindet sich in einer Phase der Kontraktion, verliert ihre Konkurrenzfähigkeit und Bedeutung. Dem polnischen Außenminister Radosław Sikorski zu trotz sollten wir uns dagegen zur Wehr setzen, sie zu einem Imperium weiterzuentwickeln. Denn in einem Imperium würde Polen rücksichtslos ausgebeutet.
In den letzten drei Jahren ist die Europäische Union in eine wichtige neue Etappe ihrer Geschichte eingetreten. Daraus entsteht eine neue Staatengemeinschaft, ähnlich wie zuvor schon politische Krisen und Umbrüche die EU jeweils neu konstituierten, wie die Finanzkrise oder die Verabschiedung des Vertrags von Lissabon. Dies ist ein Augenblick, der uns alles abverlangt, aber auch zahlreiche Chancen für Polen mit sich bringt.
Die vier Dimensionen der EU-Transformation
Die aktuelle Transformation der Europäischen Union hat verschiedene Dimensionen. Erstens die von dem Ukrainekrieg verursachte geopolitische Krise. Einerseits entblößte diese Europa als zahnlosen Tiger. Ohne die militärische Macht der Vereinigten Staaten wäre das für sie eine niederschmetternde Katastrophe. Andererseits aber mobilisierte der Ukrainekrieg die EU zu entschlossenen Maßnahmen und stärkte sie als geopolitischen Akteur. Der Krieg am Dnepr brachte Brüssel auf einen direkten Konfrontationskurs mit Moskau und leitete einen dynamischen Prozess ein, sich seiner wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeiten von der Macht im Osten zu entledigen und die Wiederbewaffnung Europas einzuleiten, die mit Schwierigkeiten und Stockungen verläuft, aber doch nicht zu verachten ist.
Zweitens wurde offiziell die Neuverhandlung der europäischen Verträge aufgenommen. Entgegen verbreiteten Ängsten beruht diese jedoch nicht darauf, die Modifizierung der EU-„Verfassung“ als Endziel in den Blick zu nehmen oder besonders radikale Veränderungen vorzunehmen. Dazu wird es nicht kommen, und zwar aus einem einfachen Grund: In der vorherrschenden politischen Konstellation lässt sich kein Konsens der 27 Mitgliedsländer erzielen. Übrigens handelt es sich dabei eher um ein Projekt des fröhlich vor sich hin wurstelnden und immer realitätsferneren Europäischen Parlaments, während die viel wichtigere Europäische Kommission in dieser Hinsicht eher reichlich skeptisch ist. Doch hat die Einleitung der Prozedur eine mehrjährige Phase der Debatten über die Zukunft Europas eröffnet, Debatten von grundlegender Bedeutung. Sie bremste zudem die schleichende Zentralisierung der EU ab, über die ich in den letzten Jahren vielfach geschrieben und gesprochen habe. Dazu gehört etwa die Umwandlung des Europäischen Gerichtshofes in ein europäisches Verfassungsgericht oder die von der Kommission usurpierte Berechtigung zur Bezichtigung der Mitgliedsländer, tatsächlich oder vermeintlich gegen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit zu verstoßen. Anstelle von klammheimlichen, von den Regierungen betriebenen und vom Willen der Nationen völlig unabhängigen Verfassungsänderungen haben wir es also mit einem offiziellen Ansatz zur Änderung der Grundlagenverträge zu tun. Diese ist zwar politisch nicht umsetzbar, doch eröffnet sie eine umfassende Debatte, aus der wichtige Schlussfolgerungen zu ziehen sein werden. Denn die Europäische Union bedarf einschneidender Veränderungen, die früher oder später in Angriff genommen werden müssen.
Drittens tritt zeitgleich mit den großen, gesamteuropäischen Protesten der Landwirte die EU in eine Phase der Umsetzung ihrer Klimapolitik und Klimaidentität. Die von den überambitionierten Zielen bei der Reduktion der CO2-Emissionen aufgezwungenen Zumutungen können von der Landwirtschaft nicht geschultert werden. Daher werden sie bereits überarbeitet, wenn auch vorerst nur punktuell, chaotisch und inkonsequent. Mit diesen Rückwärtsschritten geht aber auch eine Flucht nach vorn einher, zum Beispiel in Gestalt eines Gesetzes zur Renaturierung. Aber es ist klar, was den Kern all dieser Vorgänge ausmacht: Die EU erreicht die Grenzen ihrer Möglichkeiten, wenn es um die Klimaziele geht. Die Landwirte machen besonders lautstark darauf aufmerksam, doch sind sie nicht die einzigen. Denn gleichzeitig findet ein Exodus europäischer Unternehmen statt, und die Konkurrenzfähigkeit der EU sinkt im weltweiten Maßstab, unter anderem, weil die Strompreise im globalen Vergleich bereits am höchsten liegen. Dieser Exodus wird von den Architekten der Klimapolitik bewusst beschleunigt. Diese wurde übrigens in einer Zeit konzipiert, als Sicherheit umsonst, Energierohstoffe aus Russland billig und der Handel mit China in vollem Gange waren. Mit all dem ist es zuende, dagegen wird nun eine lange Liste neuer Kosten aufgemacht. Die Klimaradikalen scheinen das nicht zu bemerken. Jemand muss sie darauf stoßen, soll die Europäische Union sich von ihrem selbstmörderischen Kurs abwenden.
Das alles passiert in Zeiten einer, man ist versucht es zu sagen, Führungskrise in Europa. Doch der Begriff der „Krise“ ist an dieser Stelle offenkundig unzureichend. Damit ließ sich noch umschreiben, wie niemand mit guten Ideen auf den Einbruch der Finanzen 2008 reagierte. Oder wie unzulänglich die Reaktion auf den russischen Angriff auf Georgien im selben Jahr ausfiel. Wie ebenfalls der Umgang mit der Migrationskrise des Jahres 2015, mit den verfassungspolitischen Fährnissen der anschließenden Jahre, mit der Covid-Pandemie… Wenn jemand die effiziente Reaktion Europas auf die russische Invasion 2022 auf der Habenseite führen möchte, ist daran zu erinnern, dass die US-Amerikaner damals wieder die Führung auf dem alten Kontinent an sich zogen. Wenn sich also etwas in mehr als fünfzehn Jahren vielfach wiederholt und keine Lösung dafür gefunden wird, handelt es sich nicht um eine Krise, sondern um ein Charakteristikum. Europa leidet am Mangel vernünftiger Führung und spricht nichtmals davon, was das systemische Problem verschärft. Soweit die vierte Dimension.
Die Europäische Union unterliegt einer Kontraktion
Wir wollen an dieser Stelle die vorgenannten Sachverhalte als Anlass nehmen, um uns etwas eingehender mit dem Zustand der EU zu befassen. Erinnern Sie sich daran, wie die Stimmung vor zwanzig Jahren war? Damals war die Überzeugung fast allgemein, weitere spektakuläre Erweiterungen der EU, beispielsweise um die Türkei, seien praktisch unausweichlich. Viele glaubten, die EU werde ein Vorbild für den Rest der Welt abgeben, die stärkste Wirtschaft global besitzen und sich selbstverständlich immer stärker integrieren. Die Realität strafte diese Meinungen Lügen. Doch beileibe nicht jeder, die Entscheidungsträger der EU eingeschlossen, ist bereits zu dieser Erkenntnis gelangt.
Die Erweiterung der Europäischen Union kam in einem bestimmten Augenblick zu einem abrupten Stillstand, während es von 1952 bis 2007 fünf beträchtliche Erweiterungen gegeben hatte, wobei sich die Anzahl ihrer Mitglieder von sechs auf 28 erhöhte (nach dem Brexit noch 27) und damit den größten Teil der Länder des Kontinents umfasste, eingerechnet den Beitritt von Bulgarien und Rumänien, der als Nachspiel der Erweiterung von 2004 galt. In den folgenden vierzehn Jahren jedoch trat ein Land bei, ein anderes aus; das beitretende Land war das kleine Kroatien, das austretende das mächtige Großbritannien. Die Popularität der EU sank nicht nur in den Mitgliedsländern selbst, sondern auch in ihrer nächsten geopolitischen Nachbarschaft. Heute ist schon der Beitritt des kleinen Nordmazedonien ein Problem. Fast niemand dagegen redet noch von der Erweiterung um die Türkei oder die nordafrikanischen Länder, was noch vor gut zehn Jahren allgemein im Schwange war. Es wird damit erneut deutlich, welchen Einschnitt die Zeit um das Jahr 2008 für den Westen mitbrachte, das ich als Schwanengesang der einsäuligen Welt definiere. Damals brachte die Renaissance Chinas und Russlands als Großmächte die USA um ihre globale Hegemonie. Und die russische Invasion Georgiens kennzeichnete eine der Grenzen der transatlantischen Expansion, darunter auch der EU.
Entgegen den europäischen Ambitionen wurde das europäische Experiment auch nicht zum Vorbild für andere Weltregionen. Nirgendwo orientiert sich irgendwer an diesem Vorbild. Zwar entwickeln sich unterschiedliche Formen regionaler und großregionaler Integration. Dabei handelt es sich aber gewöhnlich entweder um Freihandelszonen und Wirtschaftsvereinbarungen, um typische Militärbündnisse oder um lose politische Verbünde. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (USMCA), die lateinamerikanische Wirtschaftsorganisation Mercosur, die asiatisch-pazifische Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP), die Afrikanische Union, das britisch-australisch-US-amerikanische Militärbündnis AUKUS – keine dieser Organisationen hat auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit der EU. Diese selbst bildet eine eigentümliche Mischung aus Föderation und Konföderation sowie aus internationaler Organisation mit staatlichen Anteilen, eine in der bisherigen Geschichte ganz unerhörte Sache. Es ist damit zu rechnen, dass auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten nichts von Nachahmern zu hören sein wird. Jedenfalls wird das immer weniger wahrscheinlich.
2005 hatten von den fünfzig weltweit größten börsennotierten Unternehmen zwanzig ihren Sitz in der Europäischen Union. Davon sind heute nur noch drei übrig. Im Lauf von dreißig Jahren sind unter den zwanzig weltweit größten Technologieunternehmen die europäischen von drei auf null gefallen. 1990 produzierte Europa 44 Prozent der Halbleiter weltweit, gegenwärtig nur noch neun Prozent. Auf der Liste der zehn weltweit besten Universitäten nach dem Shanghai-Ranking befindet sich heute keine einzige in der EU. Geblieben sind nur zwei britische. Und so weiter und so fort.
Kurz gesagt: die Europäische Union unterliegt einer Kontraktion. Sie verliert international an Konkurrenzfähigkeit und Bedeutung. Das kann als unvermeidlicher Großtrend eingestuft werden, denn es gilt in gleicher Weise für die USA und Japan. Doch Europa verliert sehr viel schneller an Bedeutung als die Vereinigten Staaten, und zwar zu einem nicht geringen Teil infolge eigenen Verschuldens. Sein Modell aus aufgeblasener Konsumtion und überdehnter Sozialhilfen in Verbindung mit schwächelnder Innovativität und Oligarchisierung sowie einer absurden Klimapolitik, bewährt sich einfach immer weniger in einer immer kompetitiveren Umgebung. Während beispielsweise Europa nicht in der Lage war, eigene Technikgiganten in Reaktion auf die US-amerikanischen aufzubauen, ist das den Chinesen gelungen, die übrigens immer öfter die EU in zukunftsträchtigen Wirtschaftszweigen überholen, wie bei der künstlichen Intelligenz und der Robotik. Nochmals sei betont: All das geschah unter Bedingungen kostenloser Sicherheit, billiger Rohstoffe aus Russland und idyllischer Beziehungen mit China. Jetzt verhält es sich damit schlechter, und das ist nur der Anfang, weil die neuen Kosten mit der Zeit wachsen werden, genauso wie der Verlust an Bedeutung und Durchsetzungskraft Europas im internationalen Gefüge.
Wir werden die westeuropäischen Mächte nicht einholen
Die EU kann keine spektakulären Erfolge noch irgendwelche Nachahmer vorweisen. Vielmehr bietet sie der Welt den Blick auf ein großes Freilichtmuseum mit schönen Baudenkmälern, netten Menschen, immer auf großem Fuß, aber in Selbstzufriedenheit und bei überholten Lösungen verharrend, während die Konkurrenz die Führung übernimmt. Das erinnert lebhaft an das China vor der Ankunft der Europäer. Oder an Byzanz am Vorabend der osmanischen Eroberung.
Die Blockierung externer Expansionspfade leitet die Energie natürlicherweise auf interne Expansion um. Wenn die Äste aus denjenigen Mitgliedsländern, die bemerkenswerterweise nach zwanzig Jahren immer noch die „neuen“ genannt werden, sich zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz für die Kollegen in Westeuropa auswachsen, werden sie beschnitten. So erklärt sich doch die Direktive zu den delegierten Mitarbeitern und zu den Dienstleistungen. Wenn Deutschland plötzlich die Gebühren für den Gastransit anhebt und es den Ländern der östlichen Flanke erschwert, sich unabhängig von den Lieferungen aus Russland zu machen, sieht die Europäische Kommission keine Widersprüche zur eigenen neuen Russlandstrategie. Zugleich aber weckt es ihre Vorbehalte, sobald Polen plant, eigene Vorratslager für Flüssiggas aufzubauen, weil das auswärtige Unternehmen diskriminiere. Gleichzeitig hat Deutschland Probleme, die eigenen Gasspeicher zu füllen, und wirbt dafür, dass Polen seine Gasvorräte dort einlagert. Und so weiter und so fort. Es ist müßig, ähnliche Beispiele auf der anderen Seite zu finden.
Daher verwendet das seine Konkurrenz‑ und Expansionsfähigkeit einbüßende Westeuropa immer deutlicher die Methoden der Binnenkolonisation gegen die viel dynamischeren „neuen“ Mitgliedsstaaten. Für diese ist das äußerst gefährlich. Denn sie laufen Gefahr, für Jahrzehnte in einem System struktureller Gewalt steckenzubleiben, das durch andauernde „Entwicklung der Unterentwicklung“ gekennzeichnet ist, ohne die Möglichkeit zu besitzen, die mythische Distanz zu Westeuropa jemals aufzuholen. Wenn wir jedoch die immer stärker nach Stagnation und Rezession ausschauenden Perspektiven der „alten“ EU-Mitglieder in den Blick nehmen, geht die Gefahr wesentlich über die normale Abbremsung der Entwicklungsdynamik hinaus. Damit hatten wir in den vergangenen Jahrzehnten zu tun. Jetzt stehen wir vor der Herausforderung, dass die Konkurrenz seitens der „neuen“ Mitgliedsländer noch weiter beschnitten wird bis zu dem Grad, da ihnen unmöglich wird, die Distanz zu den reicheren Ländern weiter zu verkürzen. Dabei ist daran zu erinnern, dass von Anfang an die Entwicklungsdynamik Ostmitteleuropas nicht mit dem Fortschritt der Kapitalakkumulation Hand in Hand geht. Wir verkürzen einigermaßen problemlos die Distanz beim Bruttoinlandsprodukt generell, nicht aber beim Vermögensbesitz. Anscheinend ist das vor allem eine Folge der starken Penetration durch westliches, darunter westeuropäisches Kapital. Da die weitaus meisten der größten Unternehmen sich in ausländischer Hand befinden, müssen wir uns mit dem Umstand abfinden, dass ungeheure Kapitaltransfers an die Muttergesellschaften stattfinden. Das hier erarbeitete Wachstum wird großteils andernorts konsumiert.
Das alles bestätigt übrigens, dass die Europäische Union vor allem ein Imperium ist. Keine Föderation, keine internationale Organisation, nicht in erster Linie. In Imperien gilt jedoch keine Solidarität der Einzelbestandteile untereinander. Deshalb konnte das römische Zentrum in der Antike seine Peripherien auspressen wie Zitronen. In einer Föderation ist das unvergleichlich schwerer vorstellbar.
Daraus ist für Polen und andere „neue“ Mitglieder der EU ein strategischer Schluss von fundamentaler Bedeutung zu ziehen. In einer imperialen EU, die sich auf dem Pfad innerer Kolonisation befindet, werden wir uns in einer schlechten Position befinden, in einer solchen der ausgebeuteten Peripherie. Entgegen Außenminister Radosław Sikorski und Redakteur Tomasz Gabiś sollten wir gegen das europäische Imperium und die weitere Imperialisierung der EU eintreten. Soll es eine weitere Integration geben, dann in Form der Konföderation oder Föderation, in keinem Falle als Imperium. Hier ist an den hybriden Charakter der Europäischen Union zu erinnern. Das wird sich in absehbarer Zukunft nicht ändern. Zugleich befindet sich die EU insgesamt in ständiger Bewegung, in unablässiger Evolution. Auch Anteil und Proportionen ihrer einzelnen Merkmale einschließlich des imperialen ändern sich mit der Zeit.
Fünf Instrumente für Polen
Es ist äußerst wichtig, dass wir bei diesen Überlegungen nicht eine bestimmte grundlegende Tatsache übersehen. Die im Weltvergleich schwächelnde Europäische Union ist nämlich eine sehr heterogene Entität. Ihr unvergleichlich reicherer Westen befindet sich unübersehbar in Stagnation. Der östliche Teil des Imperiums ist durch eine viel größere Entwicklungsdynamik gekennzeichnet. Insbesondere Polen, lange Jahre in Europa an der Spitze des Wachstums, kann sich neuerdings eines Wachstums des Bruttoinlandprodukts rühmen, das sich dem globalen Durchschnitt annähert, während der Westen der EU dauerhaft unter diesem Wert liegt. Zugleich ist Polen eines der am besten gerüsteten EU-Mitglieder und macht mit die größten Anstrengungen zum weiteren Ausbau seiner militärischen Kapazitäten. Allein diese beiden Faktoren lassen erkennen, wie Polens Bedeutung international wächst. Einem stärker werdenden Polen steht mithin eine schwächelnde EU gegenüber. Das verstärkt übrigens nur noch die Versuchungen der weiteren Imperialisierung und inneren Kolonisierung.
Hier haben wir es mit noch einem weiteren historischen Phänomen zu tun: dem neuen europäischen Dualismus. Anders als in der Vergangenheit, ist heute der Osten des Kontinents in seiner Entwicklung dynamischer. Das weckt Befürchtungen und Neid im Westen der EU, der daran interessiert ist, den alten, wohlbekannten Dualismus längs der Elbe zu erhalten. Weil es keine Möglichkeiten zur Expansion nach außen mehr gibt, wenden sich die vormaligen westeuropäischen Mächte also nach innen. Sie möchten den dynamischen Osten nicht einen gleichberechtigten Platz am Tisch überlassen. Sie versuchen, dessen Dynamik zur Stärkung der eigenen, immer mehr stagnierenden Wirtschaften zu nutzen.
Daher wird eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre sein, die Gefahr abzuwehren, Polen permanent auf das Niveau der westeuropäischen Entwicklungsmisere hinunterzudrücken. Das kann und wird einige Europaskepsis auslösen. Ich bin jedoch unverändert der Ansicht, man müsse die Frage konstruktiver angehen und, solange die Handlungsmöglichkeiten nicht erschöpft sind, auf eine aktive Europapolitik setzen. Wir haben in der EU immer noch ein großes Potential des Bedeutungszuwachses durch den Einsatz bisher ungenutzter oder in nicht ausreichendem Maße genutzter Instrumente.
Das erste davon ist das polnische Lobbying in Brüssel. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass eine Reihe von unter dem Diktat Deutschlands oder Frankreichs getroffene, für uns ungünstige Brüsseler Beschlüsse nicht aus einer für alle Zeiten festgelegten Natur der EU rühren. Sie sind gewöhnlich die Folge erfolgreichen Lobbyings durch unsere Konkurrenten. Diese sind auf diesem Felde hochgradig durchorganisiert: Sie denken strategisch und handeln synergetisch und in großem Maßstab – Politik, Wirtschaft, NGOs, Meinungsbildner. Darin haben sie langjährige Erfahrung. Polen befindet sich in dieser Hinsicht immer noch im embryonalen Zustand. Das muss sich ändern, und zwar nicht in der Hoffnung auf einen Automatismus der Entwicklung, sondern durch aktive Maßnahmen von oben wie von unten.
Das zweite Instrument ist (sub)regionaler Art. Wir stehen mit den genannten Problemen nicht allein. Beispielsweise wurden auch die Tschechen Opfer des erwähnten deutschen Gaslobbyings, als sie im Februar 2022 in dieser Frage auf die Zusammenarbeit mit Berlin setzten. Allgemein gesagt, wird ganz Ostmitteleuropa schließlich zum Opfer der fortschreitenden Imperialisierung der EU. Neben der gemeinsamen, von der westeuropäischen verschiedenen Wahrnehmung sicherheitspolitischer Fragen liegt gerade hier die am klarsten zu fassende Tatsache, die uns den Träumen von einem wirklichen Trimarium [das heißt der Konzeption einer Ostmittel‑ und Südosteuropa umfassenden Großregion unter polnischer Führung; A.d.Ü.] annähert. Hier haben wir tatsächlich gemeinsame Interessen, die auch die Rolle Polens als Sprecher der (Sub)Region umfassen. Uns fehlt jedoch die Organisation. Und Warschaus Bemühungen in dieser Hinsicht sind bestenfalls unzulänglich. Wiederum gilt: Das muss sich ändern.
Das dritte Instrument ist die einzigartige Popularität der polnischen Sicht der EU. Diese geht aus den anfangs beschriebenen Sachverhalten hervor. Die umfassende Debatte zu Verfassungsfragen, verbunden mit dem Defizit an Führung und der wachsenden Bedeutung Polens sind die wichtigsten Faktoren bei dieser Entwicklung. Außer Mangel an Ehrgeiz und Aktivität gibt es keinen Grund dafür, dass Warschau keine Vorstellung von der Zukunft der EU entwickelt, die mit der französischen oder deutschen konkurrieren kann. Einer der besten Europakenner, der Politikwissenschaftler Marek Cichocki, meint dazu, nur Paris verfüge über die Fähigkeit, eine strategische Konzeption zur EU zu entwickeln, etwas, das seiner Auffassung nach selbst Deutschland abgehe. Selbst wenn er damit etwas übertreibt, hebt diese Beobachtung doch ins Bewusstsein, wie groß heute bei tausenden von Strategiepapieren das Defizit wirklichen strategischen Denkens in Europa ist. Es muss Polens Ziel sein, diesen Mangel auf nationaler und europäischer Ebene wettzumachen. Zu den europäischen Mängeln gehört übrigens die ausgesprochene Exzentrizität, ja durchaus Exotik aller französischen Konzeptionen. Daher leiden sie chronisch an mangelnder Akzeptanz. Polen könnte versuchen, eine Konzeption zu entwickeln, die am Anfang breitere Interessen repräsentiert, mitteleuropäische Interessen, die aber mit den westlichen bis zu einem gewissen Grad in Übereinstimmung gebracht werden können. Für Realisten ist schließlich klar, dass, wenn schon französische, auf die eigenen nationalen Interessen bedachten Konzeptionen von niemandem akzeptiert werden, polnische Konzeptionen ähnlichen Zuschnitts erst recht keinerlei Chancen haben.
Damit ist für die polnischen politischen Parteien eine ziemlich klare Handlungsanweisung vorgegeben. Die Mitte-Rechtsparteien könnten eine stärker konföderative Konzeption forcieren, die Mitte-Links-Parteien eine mehr föderative. In Streit und Rivalität könnten sie zugleich gemeinsam die imperialistischen Tendenzen in der EU bekämpfen.
Das vierte Instrument: Dabei geht es um die Beteiligung Polens an der Regierung der EU. Das ist kein Größenwahn, sondern Realismus. Wir sind das fünftgrößte Land der EU. Beim BIP pro Kopf sind wir schon nahe dran an Spanien und Italien, beim Militär wichtiger als diese, auf anderen Gebieten schwächer. Alles in allem sollte Polen darüber im Verhältnis zu seinem Potential mitentscheiden, was in der Europäischen Union geschieht, zumal in Anbetracht des chronischen Führungsdefizits in Europa. Und polnische Beamte sollten proportional wichtige Posten in der EU-Administration bekleiden, anstatt wie bislang diskriminiert zu werden. Polen hat jegliches Potential zum europäischen Moderator, sogar zum Mitschöpfer. Natürlich wird uns das niemand auf dem Tablett reichen. Wir müssen uns das erkämpfen. Wenn auch das reaktivierte Weimarer Dreieck keine geringe Bedeutung haben mag, sollten wir es als Instrument sehen, um einen übergeordneten Zweck zu verfolgen: Uns den „Großen Vier“ der EU anzuschließen, die vor dem Brexit die „Großen Fünf“ waren. Dies ist eine informelle Ländergruppe, die noch vor den EU-Gipfeln der Staats‑ und Regierungschefs die wichtigsten Entscheidungen abspricht und vorentscheidet.
Beachten wir dabei, dass, umso vom Westen verschiedenere Interessen des Ostens der EU Polen zu repräsentieren in der Lage ist, desto mehr hat es in der Hand, günstige Ergebnisse auszuhandeln. In beide Richtungen, gegenüber den östlichen Mitgliedsländern, die dann mehr Sinn in der Repräsentation durch Polen erkennen, wie gegenüber den westlichen, die unter diesen Voraussetzungen mehr Druck aus Warschau zu spüren bekommen.
Am Rande bemerkt, wird hier einmal mehr deutlich, wie sinnvoll es für Polen ist, seine Nordpolitik zu reaktivieren. Schwedens, Finnlands und Dänemarks Sicht auf sicherheitspolitische Fragen steht der polnischen sehr viel näher als die westeuropäische. Diese drei Länder sind zudem attraktive Wirtschafts‑ und politische Partner. Polen sollten danach streben, einen geschlossenen mitteleuropäisch-nordischen Block aufzubauen. Sollte ein solches Unternehmen gelingen, würde das das Gewicht Warschaus in Brüssel noch weiter erhöhen.
Das fünfte Instrument ist Polens Rolle als Frontstaat. Polen hat gemeinsam mit den übrigen Ländern der nordöstlichen Flanke die größte Last bei den verteidigungspolitischen Anstrengungen in Reaktion auf die wachsende Bedrohung aus Russland auf sich genommen, wobei es seine Position als europäischer Wachstumsführer gefährdet und die Sicherheit seiner Bündnispartner im Westen beträchtlich erhöht. Die Bedeutung dessen wird erst richtig klar, wenn wir uns vor Augen führen, wie schwerfällig, langsam und hochgradig inadäquat in Anbetracht der Bedrohung die analogen Bemühungen in Berlin und Paris ausfallen (als Beispiel sei genannt, dass die Franzosen anstelle ihrer landgestützten ihre seegestützten Luftstreitkräfte ausbauen). Wo bleibt die Gegenleistung? Faktisch exportieren wir nunmehr Sicherheit in den Westen. Und wenn schon etwas vorzuweisen ist, zum Beispiel EU-Unterstützung für den Ausbau der Kapazitäten zur Munitionsproduktion, dann geschieht das nach dem standardmäßigen bürokratischen Verteilungsschlüssel, der die Größten privilegiert, statt das Potential dort zu erhöhen, wo es am dringendsten gebraucht wird. In diesen und anderen Fällen müssen wir mit der Faust auf den Tisch schlagen und anfangen, Rechnungen für den Export der polnischen, mitteleuropäischen und skandinavischen Sicherheitspolitik in den Westen auszustellen. In der neuen geopolitischen Konstellation fällt Warschau eine Rolle zu, die derjenigen Bonns in Zeiten des Kalten Kriegs analog ist. Also sollten auch die daraus folgenden Privilegien analog sein.
An dieser Stelle sei ein etwas genauerer Blick auf einen möglichen Entwurf für eine polnische EU-Konzeption und neue Europapolitik geworfen. Die sechste Frage ist die gründliche Revision des Green Deal. Diese sollte von Polen ausgehen, weil es das Land ist, dem am stärksten mit der radikalen Klimapolitik geschadet wird. Dieser Radikalismus ist ganz allgemein absurd, denn es ist absurd anzunehmen, die Reduktion der weltweiten CO2-Emissionen um sieben Prozent, die den Anteil der EU ausmachen, könne den Planeten retten, und die letzten Reste der europäischen Konkurrenzfähigkeit zu beseitigen, könne Europa zu einem Weltführer in irgendwas werden lassen. Bis hinunter zur lokalen Ebene: Polen soll von irgendwoher 500 Milliarden Złoty [115,2 Mrd. Euro] für die energietechnische Transformation herbeizaubern. Oder, wie wir verstehen, bankrottgehen zur Erbauung der Brüsseler Klimaradikalen. Die Beherrschung der europäischen Politik durch realitätsferne Ideologen und dubiose Lobbyisten zerstört die EU. Sie treibt sie in den Selbstmord. Sie zielt auch absichtlich auf den völligen Verlust der Glaubwürdigkeit und den Ruin der umweltpolitischen Ideale. Aber noch mehr zerstört sie die östlichen Länder, am meisten Polen. Es ist an der Zeit, darüber in der europäischen Öffentlichkeit offen zu sprechen und eine Alternative vorzustellen. Ministerpräsident Donald Tusk hat hier ein sehr gutes Signal mit seinem „Plan für Europa“ gesendet, der unlängst in Kattowitz vorgestellt wurde. Seine Idee, die Beschlüsse des Green Deal auf freiwilliger Grundlage anstatt wie bisher auf Zwang beruhen zu lassen, ist richtig und im Wesen revolutionär. Natürlich wird sie ohne Bedeutung bleiben, wenn sie in dieser Allgemeinheit verbleibt. Es ist höchste Zeit, die europäischen Klimafanatiker und überhaupt den ganzen Trend in der EU in die Schranken zu weisen und eine komplexe, tiefgreifende Revision des Green Deal einzubringen. Eine Revision, die diesen vom Kopf auf die Füße stellt, Europa von seinem Weg in den Selbstmord abbringt und die umweltpolitischen Ideale auf dem alten Kontinent rettet, bevor es zu spät ist. Wer dabei voranzugehen den Mut finden wird, hat nicht nur die Chance, die ewige Dankbarkeit der von dem absurden Green Deal geschädigten Interessengruppen zuhause zu gewinnen. Er wird auch jeden Grund dafür haben, sich die Sympathien der deutschen und französischen Landwirte, der spanischen Baubetriebe und der italienischen Produzenten von Solarzellen zu sichern, ganz zu schweigen von ihren Kollegen in Mitteleuropa. Polen befindet sich in der besten Position, eine Konzeption zu entwickeln, die dem entspricht. Es muss jedoch den Willen dazu finden.
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Europa ist damit in eine turbulente Phase der Veränderungen und Krisen eingetreten. Es ist Teil des globalen Prozesses der Herauskristallisierung einer neuen, auf vier Säulen beruhenden internationalen Ordnung, einer Epoche der Stabilisierung in der Instabilität, der Verlagerung der Macht in den (Fernen) Osten, des Untergangs alter Paradigmata, der Rückkehr der Machtpolitik, des Kampfes der Staaten um das Überleben oder einen Platz an dem neu gedeckten Tisch. Den regionalen Kontext definieren: die Hemmung der EU-Expansion, die Verlockungen der Imperialisierung und Binnenkolonisierung, der neue europäische Dualismus, die Eröffnung einer großen Debatte zur EU-Verfassung. Die lokale Dimension – ein wachsendes Polen in einer sich verzwergenden EU. Polen läuft Gefahr, abgewürgt zu werden, hat aber auch die Chance, sich sprunghaft fortzuentwickeln. Es leidet an einem Mangel an Ressourcen, nicht zuletzt solchen der Qualifikation, um mit der Lage fertig zu werden, und bekommt zu spüren, dass es immer noch zu wenig tut, um diese Mängel wettzumachen.
Dieser Essay spricht sich dafür aus, zu träumen zu wagen und zugleich mit dem Fuß aufzustampfen. Von einem stärkeren Polen zu träumen und einer besseren Europäischen Union, indem konkrete Schritte zur Umsetzung dieser Vision unternommen werden. Lassen Sie uns das gemeinsam angehen!
PS. Der vorstehende Text ist die Fortsetzung meiner programmatischen Überlegungen zur Zukunft von Polen und EU in dem Essay „Polska w nowej Unii“ (Polen in der neuen EU) von 2021.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann
Der Text entstand dank finanzieller Unterstützung der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit im Rahmen des Projekts “Polens Perspektive”. Das Projekt wird in Zusammenarbeit mit dem polnischen ThinkZine Nowa Konfederacja realisiert.
Dieser Beitrag von Herrn Radziejewski hat mich zunächst irritiert zurückgelassen. Es hat etwas gedauert, bis ich meine drei Gedankenlinien darin einordnen konnte:
1) Die Rolle Polens in der EU muss und wird wachsen. Die Argumente sind zum Teil im Beitrag genannt: Wachstumsfokus- und Möglichkeiten, militärische Situation und neue Ideen.
2) Die frühere EU war wohlhabend, auch wegen Ausbeutung von Kolonien früher und dem noch heutigen Ausnutzen des Machtgefälles. Das ist jedoch kein Grund zu unterstellen, das würde heute gegenüber den ‚neueren EU-Ländern‘ aktiv eingesetzt. Eher ist hier erkennbar, dass auf Synergien gesetzt wird.
3) Die Klimaschutzziele sind notwendig, wenn künftig überhaupt noch Wachstum möglich sein soll. Sonst werden die Kosten der Bekämpfung der Symptome alle heutigen Kosten vervielfacht darstellen. Das Argument gegen die heutige EU ist daher für mich völlig unverständlich.