Endlich haben die Magyaren einen echten Magyaren gefunden. Nämlich Péter Magyar, einen 43jährigen, der Anfang dieses Jahres noch völlig unbekannt war. Über Nacht wurde er zur öffentlichen Person. Er stieg auf wie ein Meteor am selben Tag, dem 10. Februar 2024, als nach einer von einem der wenigen oppositionellen Portale öffentlich gemachten, aufsehenerregenden Affäre um einen Pädophiliefall die seit Mai 2022 im Amt befindliche Präsidentin Katalin Novák zurücktrat. Ihr folgte auf dem Fuß die frühere Justizministerin, die von der Regierungspartei Fidesz als Kandidatin bei den bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament designierte Judit Varga. Es war ein Geheimnis, das die Spatzen von den Dächern pfiffen – beide Damen waren enge Vertraute von Ministerpräsident Viktor Orbán. Katalin Novák stand zudem mit dem früheren einflussreichen Politiker und Fidesz-Minister, dem evangelischen Bischof Zoltán Balog auf vertrautem Fuß, der ebenfalls in die Pädophilieaffäre verwickelt war und trotz heftiger persönlicher Gegenwehr abtreten musste.
Korruption in der Familien-GmbH
Und just am selben Tag, da es in der Führungsmannschaft der Regierung zum Erdbeben kam, wurde Péter Magyar (selbst ehemaliges Fidesz-Mitglied) zum shooting star, früher Ehemann von Judit Varga, von der er seit 2023 geschieden ist und mit der er drei Kinder hat. Er gab in den sozialen Medien ein Interview, das umgehend auf YouTube viral ging und schließlich mehr als zwei Millionen Mal angeklickt wurde, eine ganz ungeheuerliche Zahl für ein Land mit knapp zehn Millionen Einwohnern. In jenem Augenblick begann die unerhörte und bis heute anhaltende öffentliche Aktivität Magyars, der zwischenzeitlich mehrere Massenkundgebungen auf die Beine gestellt hat, sowohl in als auch außerhalb von Budapest.
Zunächst wählte er Debrecen, seit langem eine Fidesz-Hochburg, aber auch in jüngster Zeit ein Ort beträchtlicher Unzufriedenheit und politischer Irritationen, weil in der Nähe eine chinesische Batteriefabrik für Elektroautos entsteht, wodurch Umwelt und Wasserversorgung der Stadt gefährdet sind. So wurde die Stadt zu einem Ort, von dem aus das Machtmonopol von Fidesz in Frage gestellt wird, und die starke Teilnahme an Magyars Kundgebung, ähnlich wie bei den vorangegangenen in der Hauptstadt, führte dazu, dass Péter Magyar, auch wenn er immer noch als Einzelkämpfer in Erscheinung tritt, doch nicht mehr allein dasteht: Er hat ganz offenkundig den richtigen Augenblick getroffen und den richtigen Ton angeschlagen, um gewaltigen Zuspruch aus der Gesellschaft zu finden und zu Prominenz aufzusteigen, was die Wahlen vom 9. Juni belegen.
Was waren die Voraussetzungen für diese unerwartete Popularität? Vor allem attackierte er die übermäßige Zentralisierung der Macht und deren Konzentration in den Händen von Viktor Orbán und seinem inneren Machtkreis. Bereits bei seinem ersten Interview hielt er fest, er wolle nicht, dass seine Kinder in einem Staat aufwüchsen, der wie eine „Familien-GmbH“ geführt werde. Auf von ihm organisierten Kundgebungen wiederholte er diese Formulierung fast wörtlich, fügte aber Namen hinzu und ließ keinen Zweifel, dass es ihm um den anscheinend allmächtigen Ministerpräsidenten Orbán höchstpersönlich, dessen Propagandachef Antal Rogán sowie Orbáns besonders geschäftstüchtigen Schwiegersohn István Tiborcz gehe.
Denn die Korruption stand im Mittelpunkt seiner scharfen Kritik, und darüber hinaus kritisiert er den allzu ausufernden und allgegenwärtigen Staat, den er für das „schlimmste Übel“ hält, und die demokratiefeindlichen oder geradezu autoritären Neigungen von Orbáns Machtklüngel – bislang greift er eher Orbáns Entourage an als diesen persönlich. Zudem spricht er von der Vernachlässigung des Gesundheitswesens und des Bildungssystems, alten Problemen, die die ungarische Gesellschaft umtreiben, sowie von dem Mangel an öffentlicher Transparenz und der Verlogenheit der Regierung, die zwar mit Durchsetzungskraft und Entschlossenheit in Erstaunen versetzt, andererseits aber dafür gesorgt hat, dass Ungarn unter Orbáns Regierung sich in eines der ärmsten und korruptesten Länder der Europäischen Union verwandelt hat, dass sich neben Bulgarien in den einschlägigen statistischen Tabellen ganz unten befindet.
Rundreise über das Land
Anfangs beschränkte sich Magyar darauf, sich in den Medien zu äußern, aber als ihm das wachsende Interesse an seiner Person bewusstwurde, änderte er rasch seine Strategie: Er veranstaltete bisher drei Massenkundgebungen in Budapest, die letzte davon Ende April vor dem Innenministerium. In Anerkennung der Tatsache, dass in Ungarn eine liberalere Hauptstadt der konservativeren Provinz gegenübersteht, begann er nach mehr als einem Monat öffentlicher Auftritte eine Rundreise durch das Land, die er bis heute fortsetzt und deren bisheriger Höhepunkt die Kundgebungen von Debrecen Anfang Mai sowie auf dem Heldenplatz im Herzen Budapests am 8. Juni waren, das heißt den Tag vor den Wahlen zum Europäischen Parlament, die auf Wunsch von Fidesz in Ungarn mit den Lokalwahlen zusammenfielen.
Doch Péter Magyar beließ es nicht bei der sehr klugen Entscheidung, auch die ungarische Provinz zu besuchen, sondern gründete überdies eine neue Partei unter dem Namen „Respekt- und Freiheitspartei“ (Tisztelet és Szabadság Párt – TISZA). Erstaunlicherweise ist diese, noch während ich diese Worte schreibe, bereits zur nach der Regierungspartei Fidesz zweitstärksten politischen Kraft im Lande aufgestiegen. Dies wurde vollständig durch die Ergebnisse der Wahlen am 9. Juni bestätigt, indem sie 7 von 21 Mandaten bei den Europawahlen gewann (Fidesz gewann 11, d.h. 3 weniger als zuvor) und ihre Kandidaten gut bei den Kommunalwahlen platzierte.
Die verfolgte Strategie erwies sich als erfolgreich. Mit einer bemerkenswerten Unterstützung durch die Bevölkerung, sowohl bei Kundgebungen als auch in den sozialen Medien (da die Mainstream-Medien fast ausschließlich unter Regierungskontrolle stehen), entschied sich Magyar, weiterzugehen. Er stellte seine Kandidaten für die Europawahlen auf und setzte anschließend auch auf die Wahl seiner Leute in einigen Bezirken bei den Kommunalwahlen, darunter in mehreren Stadtteilen von Budapest, wo der Einsatz besonders hoch ist, da die Hauptstadt bisher – als praktisch einziges Machtzentrum – außerhalb der Kontrolle von Fidesz war.
Es wird deutlich, dass Magyar nicht nur gegen die regierende Fidesz-Partei angehen will, sondern auch gegen die schwerfällige Opposition, die, wie er sagt, längst zu einem Teil des Gesellschaftsvertrags im System Orbán geworden ist: Regiert ihr mal, wir in der Opposition erfreuen uns an den wenigen Mandaten, die uns im Parlament zugefallen sind.
Rückkehr nach Europa
Magyars und seiner TISZA-Partei Programm geht bislang am deutlichsten hervor aus den Äußerungen, die er Ende April mit dem populären Influencer Róbert Puzsér in dessen Programm „Hard Talk“ gemacht hat. Die jetzt auch in die zwölf Punkte der Parteiplattform aufgenommenen wichtigsten Programmpunkte sind:
– Entfernung von Viktor Orbáns bis auf die Knochen korrupter Mannschaft von der Macht;
– Verhinderung der Bildung eines „Systems à la Putin“;
– Wiederherstellung der Freiheit der Medien und der Unabhängigkeit der Gerichte und des Justizwesens insgesamt;
– schnelle Behebung der katastrophalen Zustände im Bildungs‑ und Gesundheitswesen (Magyar liefert für diese Zustände viele, in seiner Formulierung durchaus drastische Beispiele);
– Rückkehr zu den Zuständen zur Zeit der ersten Regierung Orbán (1998–2002), als es hohe Wachstumsraten und niedrige Arbeitslosigkeit gab, womit sich die Lage im Vergleich zu der aktuellen genau umkehren würde;
– Wiederherstellung des Vertrauens bei den Bürgern, die wieder eigenständige Staatsbürger werden sollen; Förderung der Zivilgesellschaft;
– Rückkehr zu einem konstruktiven Dialog mit EU und NATO; allerdings soll die EU so aufgefasst werden, wie dies Viktor Orbán tut, das heißt sie soll auf starken Staaten aufbauen und nicht zu einer Art von Föderation weiterentwickelt werden, denn „Souveränität und nationale Interessen Ungarns müssen gewahrt bleiben“.
Letzterer Punkt ist anscheinend zentral für Magyars Strategie, da diese, wie schon gesagt, direkte Angriffe auf Orbán vermeidet und einige Programmbestandteile von dessen Politik beizubehalten versucht, darunter die Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine und sogar dessen russlandfreundliche Politik. Wie er in einem wichtigen Interview mit der polnischen „Rzeczpospolita“ vom 6. Mai 2024 erklärte, tue er dies bewusst, weil die von der Regierung kontrollierten Medien die Mentalität der Ungarn soweit geändert hätten, dass es schlicht kontraproduktiv wäre, die wichtigsten Eckpunkte der aktuellen Politik anzugreifen. Offenbar hat er in dieser Hinsicht durchaus Recht.
Orbán bagatellisiert, Magyar attackiert
Viktor Orbán, erfolgsgewohnt und mit einer schier grenzenlosen Selbstgewissheit ausgestattet, hat anfangs seiner Art gemäß den Aufstieg Magyars schlicht ignoriert und dessen Bedeutung kleingeredet. Nachdem er einmal begriffen hatte, dass es sich nicht um eine Eintagsfliege handelte, begann er, den Gegner auf jede erdenkliche Weise anzuschwärzen. Es war auf einmal die Rede von häuslicher Gewalt, daher Magyars Scheidung, dieser sei immer schon ein Liberaler und „Söldner Brüssels“ gewesen, er habe sich seit Jahren in den regierenden Zirkeln bewegt und sei sogar viele Jahre Diplomat in Brüssel gewesen, er habe dann in vielen Firmenvorständen und Aufsichtsräten gesessen. Orbán stellte Magyar also als schwarzes Schaf hin. Es kam dahin, dass er in der neusten Ausgabe der Regierungsplakate, die in Ungarn gewohnheitsmäßig die politischen Gegner desavouieren, einen Ehrenplatz unter den Oppositionsführern erhielt, so auch neben der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen; diese ist inzwischen anstelle des aus Budapest gebürtigen US-Milliardärs George Soros und dessen Sohns zur Verkörperung allen Übels geworden.
Doch bislang verhält es sich so, dass Péter Magyar in den Augen der Öffentlichkeit und nach allgemeiner Überzeugung als jemand, der die unverbrämte Wahrheit sagt, jede Kritik spurlos von sich abprallen lässt, so dass die regierungsseitigen Angriffe ihn eher stärker als schwächer machen. Er kennt das System und seine Schwachstellen von innen, er weiß viel. Das heißt aber noch nicht, dass er am Schluss auch siegen wird. Bekanntlich sind die Launen des Herrschers wandelbar, und genauso verhält es sich mit den Launen der Gesellschaft – sie lässt sich schnell für jemanden einnehmen, so wie es gerade Magyar vermocht hat, aber sie gibt ebenso schnell jemandem wieder den Laufpass, hat dieser nur einen falschen Schritt gemacht, ein falsches Wort geäußert oder ist von seinen Gegnern in Bedrängnis gebracht worden.
Viktor Orbán hat schon mehr als einmal unter Beweis gestellt, was für ein raffinierter Politiker er ist und wie kompromisslos, wenn es ihm um seine Machterweiterung (und die Erweiterung seines Vermögens) geht. Davon wird er so leicht nicht lassen, soviel ist sicher. Noch Anfang dieses Jahres wirkte sein System unerschütterlich, und es hatte den Anschein, es würde sich nicht so schnell mit demokratischen Wahlen stürzen lassen. Wie die allgemeine Rede geht, könnte die Straße oder das Ausland das dennoch bewirken. Letzteres murrt bekanntlich schon lang, die EU hat ihre Überweisungen an Ungarn gestoppt, aber das ungarische System wird dennoch nicht dadurch geändert werden, was Péter Magyar und seine Partei ganz genau wissen. Aber er hat offenbar die Straße auf seiner Seite, die große Masse der Gesellschaft. Er hat seinen historischen Augenblick.
Bleibt das Attentat aus?
Doch der historische Augenblick kommt erst noch, wenn die richtigen Kandidaten aufgestellt und die Parteistrukturen praktisch aus dem Nichts aufgebaut werden, was nach den nach seiner Auffassung gewonnenen Wahlen angegangen werden muss. Sollte das alles eintreten, dann werden wir von Magyar und seiner Partei TISZA noch viel hören; wenn nicht, bleibt er eine historische Fußnote. Vorerst sieht es nicht so aus, als ob es so kommen könnte, denn der Zuspruch aus der Gesellschaft ist groß. Doch vorläufig ist es noch verfrüht, um irgendwelche Vorhersagen zu machen. Zwar ist das System Orbán ins Wanken gebracht, aber es ist noch lang nicht gestürzt. Die alles entscheidende Frage ist, ob Péter Magyar damit recht hat, Viktor Orbán habe das Vertrauen der Gesellschaft verloren, wie er vielfach auf den Kundgebungen und in den Medien äußert. Diese kühne Behauptung muss sich erst noch in der Realität beweisen.
In dem erwähnten „Rzeczpospolita“-Interview wurde die interessante und makabre Frage gestellt: Ob sich Magyar nicht vor einem Attentatsversuch fürchte? Darauf gab er die bezeichnende Antwort: Nein, „weil dann in Ungarn eine Revolution ausbrechen würde“. Und zwar, wie er weiter erklärt, weil die Gesellschaft in Unruhe sei. Und genau das scheint zuzutreffen. So wird es interessant sein zu verfolgen, was sich weiter mit Péter Magyar tun wird, und wie es mit den inneren Verhältnissen Ungarns weitergehen wird, die noch vor wenigen Monaten den Modergeruch eines stehenden Gewässers von sich gaben. Etwas ist in Bewegung geraten. Besitzt Péter Magyar ausreichende Leidenschaft, Entschlossenheit, Konsequenz und Willenskraft? Wie es weitergeht, wird sich erst noch erweisen. Deshalb lohnt es sich, Ungarn im Blick zu behalten.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann