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Schmitt, Koselleck und die Negative Öffentlichkeit unserer Zeit

Die liberale Demokratie wird durch eine neue, transnationale Konstellation politischer Öffentlichkeit herausgefordert: die Negative Öffentlichkeit. Ihre Ideologie geht auf den „Kronjurist des Dritten Reiches“ zurück  

Fataler Ideentransfer

Politische Ideengeschichte ist kein Selbstzweck. Erst das Aufzeigen geistiger Ursprünge und ihrer praktischen Resultate ermöglicht ein umfassendes Verstehen der Realität. Die Beantwortung der Frage, ob weitergegebene Ideen mit bekannten Konzepten und realen Konstellationen übereinstimmen, schärft den Blick für Wesensmerkmale und mögliche Konsequenzen beobachtbarer Erscheinungen. Deshalb ist die Ideengeschichte geeignet, Pfadabhängigkeiten gleichzeitig offenzulegen und zu unterminieren. Denn Handlungsoptionen gründen auf dem Verstehen der Lage.

Dass man es mit tendenziell bedrohlichen Erscheinungen zu tun hat, ist wahrscheinlich, wenn relevante Ideen auf einer Traditionslinie gründen, die auf den rechtsextremen Staatsrechtler Carl Schmitt (1888-1985) zurückgeht. Das gilt natürlich für Schmitts bekannte Arbeiten aus der Zeit der Weimarer Republik, also seine Parlaments- und Parteienkritik, sein Homogenitätsdenken, den führungszentrierten Dezisionismus sowie seine berühmt-berüchtigte Definition von Politik als Freund-Feind-Unterscheidung. Hier liegen wichtige Wurzeln der antidemokratischen Neuen Rechten von heute. Weniger bekannt sind hingegen Schmitts Schriften aus der Zeit des Nationalsozialismus. Er war ein regimetreuer Hetzer mit teilweise explizit antisemitischer Agenda, der sich später verstärkt dem Feld der Internationalen Beziehungen zuwandte. Das Themenfeld diente auch als Rückzugsort für eine angebliche „innere Emigration“, denn die Konsequenzen des eliminatorischen Totalitarismus kündigten sich mehr und mehr an. Heute bedienen sich sowohl totalitäre Ideologen (Alexander Dugin) als auch vorgeblich realistisch gesinnte Autoren der im Zweiten Weltkrieg entstandenen Großraumtheorie von Carl Schmitt.

Schmitts Verfallsthese

Im Jahr vor dem deutschen Überfall auf Polen veröffentlichte Schmitt eine Arbeit, die zeitlich wie inhaltlich zwischen den innen- und außenpolitischen Schwerpunktsetzungen liegt: „Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes“. Das Buch wird fast nur von Spezialistinnen und Spezialisten rezipiert. Vor dem Hintergrund heutiger Muster politischer Öffentlichkeit ist es jedoch von immenser Bedeutung. Interessant ist sicherlich, dass sich Schmitt im Verlaufe seines Lebens wechselhaft zu Hobbes verhält, der aber immer ein zentraler Bezugspunkt seiner Schriften ist. Hier soll es jedoch um eine konkrete Traditionslinie gehen. Schmitts Hobbes-Rezeption im Buch von 1938 ebnet den Weg für eine radikale Institutionen- und Liberalismuskritik, die sich heute in einer spezifischen Ausformung politischer Öffentlichkeit manifestiert: der Negativen Öffentlichkeit. Dabei bleibt die Übernahme der Grundgedanken nicht auf die Neue Rechte beschränkt. Schmitt erschließt sich mit seiner Grundlegung der Kritik liberaler Öffentlichkeit eine breitere Rezeptionsgemeinde. Er wird sozusagen querfronttauglich und gleichzeitig analytisch interessant – ebenso wie schon seine Parteien- und Parlamentarismuskritik bis heute den Nerv verschiedener Lager trifft.

Den Ausgangspunkt bildet Hobbes‘ Ersetzung der religiös begründeten Ordnung durch die auf Vertrag basierende absolute Herrschaft im Staat, den er Leviathan nennt. Es war seine Antwort auf die kriegerischen Auseinandersetzungen des 17. Jahrhunderts. In Schmitts Hobbes-Buch gibt es ein programmatisches Kapitel mit dem Titel „Die souverän-repräsentative Person stirbt an der Trennung von Innen und Außen“. Laut Schmitt brachte Hobbes die „Unterscheidung von innerem Glauben und äußerem Bekenntnis in das politische System des Leviathan“, so „daß sich daraus im Laufe des folgenden Jahrhunderts bis zum liberalen Rechts- und Verfassungsstaat alles weitere folgerichtig ergeben hat.“ Die „Gedanken- und Glaubensfreiheit“ war demnach der „Todeskeim, der den mächtigen Leviathan von innen her zerstört und den sterblichen Gott zur Strecke gebracht hat.“ Laut Schmitt zerbricht der dezisionistische, starke Staat an der sukzessiven Entstehung einer aus der privaten Freiheit entspringenden Öffentlichkeit, die schließlich die entfesselte Moral zum Maßstab der Politik macht. Auf Hobbes‘ Trennung von Politik und Religion durch Errichtung eines vertragsbegründeten absoluten Staates und seine Freigabe des privaten Glaubens folgt nach Schmitts Lesart zuerst eine in Geheimbünden organisierte Bündelung moralischer Privatheit. Diese Sphäre habe sich dann zur existenziellen Herausforderung entwickelt – bis hin zur Übernahme des Staates durch den Liberalismus und die öffentliche Meinung.

Schmitts Verfallsdiagnose schiebt dem liberalen Denken die Schuld an den negativen Entwicklungen des zwanzigsten Jahrhunderts zu. Bei Schmitt wird die Argumentation mit antisemitischem Verschwörungsdenken garniert. Er spricht vom „rastlose[n] Geist der Juden, der die Situation am bestimmtesten auszuwerten wußte“. Hobbes habe „neuen, gefährlicheren Arten und Formen indirekter Gewalten die Bahn frei [ge]macht“. Dafür steht dann laut Schmitt die „angelsächsische Weltpropaganda“, während er selbst den italienischen Faschismus und Machiavelli als „Besieger moralistischer Lüge“ würdigt.

Aktualisierungen in der jungen Bundesrepublik

Viele Bestandteile dieser fundamental antiliberalen Krisendiagnose finden sich später in dem einflussreichen und 1954 als Dissertation eingereichten Buch „Kritik und Krise“ des deutschen Historikers Reinhart Koselleck (1959). Verschiedene Autorinnen und Autoren (etwa Jürgen Habermas, Jan-Werner Müller, Jan-Friedrich Missfelder, Sidonie Kellerer oder Sebastian Huhnholz) haben das teilweise detailliert herausgearbeitet. Habermas‘ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962) ist als Gegenschrift zu Kosellecks „Kritik und Krise“ angelegt. Koselleck führte einen Briefwechsel mit dem Nachkriegs-Schmitt, der trotz Lehrverbot umfangreich und relativ erfolgreich geistige Einflusspolitik betrieb. Am 02.11.1953 schreibt Koselleck an Schmitt, letzterer habe „meine Fragestellung im Grunde veranlasst“.

„Kritik und Krise“, in flottem Stil verfasst, kann als wissenschaftlich ausgearbeitete und ideologisch bereinigte Fassung der Leviathan-Grundthese Schmitts gelesen werden. Hobbes habe Politik und Moral getrennt. Laut Koselleck bildeten sich daraufhin „indirekte Gewalten“, die zuerst im Geheimen agierten, also in Salons oder Freimaurerlogen. Allerdings sei es die Natur der moralischen Ansprüche, sukzessiv „in den Raum des Politischen hinein vorzustoßen“. Die aus „indirekten Gewalten“, moralischem Wahrheitsanspruch und geheimer Verbrüderung resultierende Öffentlichkeit wird von Koselleck als scheinheilig und doppelzüngig beschrieben. Er spricht von der „Doppelbodigkeit aufklärerischer Denkformen und Verhaltensweisen“. Es gehe hier um die Überwindung „staatlicher Politik“. Mehr noch: Laut Koselleck führte das moralische Handeln der entstandenen liberalen Öffentlichkeit schnurstracks zur Zensur und zum Totalitarismus der Französischen Revolution: „Nachdem die Aufklärung jeden Unterschied zwischen Innen und Außen beseitigt hat … wird die Öffentlichkeit zur Ideologie. Die Gesinnung herrscht, indem sie hergestellt wird.“ Entstanden sei eine „ideologische Diktatur der Tugend“. Laut Koselleck ist diese utopische „Moralisierung der Politik“ der eigentliche Grund für die „Entfesselung des Bürgerkrieges“. Das meint er durchaus zeitlos, denn, so Koselleck, „das Erbe der Aufklärung ist noch omnipräsent.“

Zusammen mit Hanno Kestings ebenfalls 1959 erschienenem Buch „Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg“ bildete Kosellecks Schrift eine wirkmächtige Basis für die Weitergabe der Gedanken Carl Schmitts in der Bundesrepublik. Die Alte und die Neue Rechte nahmen dies dankend an. Carl Schmitt rezensierte positiv, ebenso Armin Mohler oder später Karlheinz Weißmann.

Hanno Kestings Habilitationsschrift über „Öffentlichkeit und Propaganda“ aus dem Jahr 1966, die erst 1995 veröffentlicht wurde, denkt die Grundlinien von Schmitts, Kosellecks und seiner eigenen Liberalismuskritik weiter. Kesting schreibt: „[D]ie sogenannte „öffentliche Meinung“ ist nichts anderes als die Meinung derjenigen, die mit Hilfe ihrer Propagandamaschine in der Lage sind, eben ihrer höchst persönlichen Meinung den nötigen Widerhall zu verschaffen.“ Demnach ist „öffentliche Meinung“ nur „veröffentlichte Meinung“, gebildet von „lenkenden Eliten“, um die eigene Macht zu sichern. Dabei gibt Kesting vor, über historische Entstehungen liberaler Öffentlichkeit zu schreiben, jedoch fällt er seine abschließenden Urteile stets zeitlos.

Die Weltsicht innerhalb der Negativen Öffentlichkeit

Schmitt, Koselleck und Kesting formulieren mit ihren Kategorien eine geistesgeschichtliche Traditionslinie, die sich heute in einer spezifischen Formation von Öffentlichkeit manifestiert: der Negativen Öffentlichkeit. Diese populistische Konstellation aus Akteuren, Strukturen und ideologischen Grundannahmen ist in ihrer gemeinsamen Abwehrhaltung gegen den sogenannten „Mainstream“ relativ geschlossen. Vor allem hat sich, zumindest im deutschsprachigen Raum, eine transnationale Negative Öffentlichkeit herausgebildet. Habermas erhoffte sich eine solche Struktur in positiver, Deliberation und Rationalität fördernder Hinsicht. Doch hier ist das Gegenteil eingetreten, nämlich eine radikale, nicht vermittelnd gesinnte Gegenöffentlichkeit, die die Demokratie herausfordert, weil ihre Kritik fundamental ist und von Rechtsextremisten in Wahlergebnisse umgemünzt werden kann.

Den Begriff „Negative Öffentlichkeit“ findet man mit anderem Inhalt schon bei Alain Cottereau und Klaus Eder. Ich verwende ihn zur Beschreibung der praktischen Umsetzung der Kategorien von Schmitt, Koselleck und Kesting. Publikationsorgane, politische Akteure und sendende Rezipienten bilden diese Sphäre Negativer Öffentlichkeit. Man grenzt sich dabei strikt ab. Demokratische Medien werden als reine Propagandainstrumente in den Händen herrschender Eliten skizziert. Diese Eliten herrschen angeblich mittels indirekter Gewalt, durch stetige Beeinflussung und subtile Kontrolle. Ihre Herrschaft wird laut den Vertretern der Negativen Öffentlichkeit im Geheimen vollzogen. Der Machtanspruch der vermeintlich geschlossenen Elite gründet demnach auf einer scheinheiligen Moralisierung, die angeblich nur eine Wahrheit und den eigenen Vorteil kennt. Die Negative Öffentlichkeit skizziert das liberaldemokratische System als Totalität, als Diktatur von öffentlicher Meinung und Politischer Korrektheit. Außerdem werden die darin Regierenden als absichtliche Zerstörer des Staates und der nationalen Einheit dargestellt. Man selbst geriert sich als Verteidiger der Meinungsfreiheit, paktiert aber mit Parteien, deren Ziel die Abschaffung von individuellen Rechten und Gewaltenteilung ist.

Natürlich werden solche Ansichten auch in kleinen medialen Sub-Blasen vertreten, aber die gemeinsame Abgrenzungsideologie integriert die Negative Öffentlichkeit zu einer gemeinsamen Sphäre. Da die einzelnen ideologischen Versatzstücke darin allgemein geteilt werden, fallen die Unterschiede zwischen den Akteuren – sowohl in puncto Intensität als auch in inhaltlicher Hinsicht – nicht so sehr ins Gewicht. Die Gatekeeper in den Redaktionen lassen „Experten“, Propaganda- und Hetzakteure verschiedenster Couleur zu Wort kommen, solange nur die bekannten Stereotype präsentiert werden. Zur Negativen Öffentlichkeit im deutschsprachigen Raum gehören Parteien wie die AfD, die FPÖ, das BSW, die Basis oder die Werteunion. Expertenstatus genießen vermeintliche Aufklärer mit verschwörungstheoretischem Einschlag, von Daniele Ganser bis Philip Hopf. Ideologen verschiedenster Richtungen kommen zusammen, etwa der neoliberale Roland Tichy mit dem russlandtreuen Dieter Dehm in einer regelmäßigen Talkshow. Extremisten (Compact-Magazin, Auf1 etc.) und Scharnierportale (Nachdenkseiten, Weltwoche, Nius, Tichys Einblick etc.) bedienen dieselben Narrative.

Die Sphäre Negativer Öffentlichkeit ist wissenschaftlich noch unzureichend ausgeleuchtet, aber Realität. Teilweise denken seriöse Akteure, sie könnten durch Auftritte in dieser Sphäre etwas Positives bewirken. Dabei adeln sie aber nur ein rein destruktives Programm, dessen Grundüberlegungen auf Carl Schmitt zurückgehen und durch Reinhart Koselleck adaptiert wurden. Eine lange zurückreichende Geistesgeschichte zeigt Wirkung.

Markus Linden

Markus Linden

außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Trier, zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Theorie und Empirie der Demokratie, Parteien- und Parteiensysteme, die Neue Rechte und Rechtspopulismus.

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