Die Bürgerkoalition unter Führung von Donald Tusk hat erstmals seit einem Jahrzehnt einen Wahlsieg errungen. Das ist die wichtigste, jedoch nicht einzige Information, die in Polen aus den Wahlen zum Europäischen Parlament vom Juni 2024 zu gewinnen ist. Für das Lager der Demokraten endeten die Wahlen mit einem bittersüßen Nachgeschmack. Denn erstens ist Recht und Gerechtigkeit zwar angeschlagen, hält sich aber immer noch gut auf den Beinen, zweitens kann ein einziger Fehler bereits zum Machtverlust führen. Selbst der klitzekleinste.
Die Koalition des 15. Oktober [die aktuelle polnische Koalitionsregierung aus Bürgerplattform, Drittem Weg und Neuer Linken; A.d.Ü.] hatte an jenem Wahlabend des 9. Juni 2024 nicht allzu viel zu feiern. Die Parteichefs der Linken und des Dritten Wegs gratulierten ihrem größten Koalitionär zum Sieg, mussten aber selbst eine bittere Pille von der Größe einer Faust schlucken. Die Linke landete mit sechs Prozent auf dem letzten Platz; sie hat künftig im Parlament in Straßburg nicht nur weniger Mandate, sondern auch nicht mehr solche namhaften Repräsentanten wie die beiden früheren Ministerpräsidenten Włodzimierz Cimoszewicz und Marek Belka. Einen wahrhaften Orkan übler Laune musste dagegen das Lager, vielmehr die beiden Parteien des Dritten Wegs über sich ergehen lassen, der vor den Sejmwahlen von 2023 gebildeten Koalition aus der Polnischen Volkspartei (dem PSL) und Polska 2050. Ein Ergebnis von unter acht Prozent würde bei Sejmwahlen die Nichterreichung der Sperrklausel bedeuten. Im Verlauf von neun Monaten hat der Dritte Weg, die konservativ-ländliche Stütze der demokratischen Regierungskoalition, mehrere Prozent an Wählerstimmen eingebüßt. Und besonders bei der Volkspartei erhoben sich augenblicklich Stimmen, die Formel vom Dritten Weg habe sich erschöpft. Es sei zwar keine Rede davon, die Regierungskoalition zu verlassen, aber jede Einzelpartei solle zu ihren eigenen Bedingungen und unter eigenem Namen darin verbleiben. Ihrer traditionellen Identität trauern besonders die Volksparteiler nach, zumal sie von den Ergebnissen bei ihren Stammwählern auf dem flachen Land nachgerade verschreckt sind.
Dieser Schrecken ist natürlich eine etwas überzogene Reaktion. Die europäischen Wahlen haben nicht nur ihre eigene Wahlordnung, sondern auch ihre Eigentümlichkeiten, wie sie sich am deutlichsten bei der Wahlbeteiligung abzeichnen. Trotz der Bemühungen von Ministerpräsident Donald Tusk, der in den letzten Wochen vor dem Wahltag an den hohen Einsatz bei diesen Wahlen gemahnte, gemessen zum einen an der in Europa wachsenden Popularität der nationalistischen und faschistoiden Parteien, zum anderen an der von Russland ausgehenden Gefahr, gingen am 9. Juni kaum vierzig Prozent der Wähler zu den Urnen. Wenn wir die 75 Prozent Wahlbeteiligung bei den Sejmwahlen dagegenhalten, ist leicht einzusehen, wieso die Ergebnisse an der Weichsel so und nicht anders aussehen.
Sejmmarschall Szymon Hołownia (Polska 2050), der noch vor wenigen Monaten der unbestrittene Favorit für die Präsidentschaftswahlen von 2025 war und gegenwärtig mit einem dramatischen Rückgang seiner Popularität kämpft, versuchte sich schon am Tag nach den Wahlen an dem (allerdings aus ganz anderer Richtung) wohlbekannten Klagegesang: „Es ist Tusks Schuld!“ Vielleicht sagte er es nicht geradeheraus, aber der Sinn seiner Worte war: Donald Tusk polarisiert, er spaltet die Öffentlichkeit; die Regierung ist fast ausschließlich damit befasst, Recht und Gerechtigkeit die Leviten zu lesen, während sie die den Polen wirklich wichtigen Angelegenheiten vernachlässigt; daher die niedrige Wahlbeteiligung und die Gelbe Karte für die Demokraten.
Es kommt selten vor, dass ein sympathischer Politiker, und ein solcher ist Szymon Hołownia ohne Frage, so voll und ganz und ohne eine Spur Verlegenheit danebenliegt. Decken wir den Mantel des Schweigens darüber, dass Hołownia lange Zeit, noch vor den Wahlen vom vergangenen Herbst, die von Tusk dem Dritten Weg gebotene Hand ausgeschlagen hat, als es lange danach ausschaute, dass die Partei die Acht-Prozent-Hürde nicht überwinden würde. Auf der Zielgeraden appellierte der nachmalige Ministerpräsident geradezu an die Wähler, dass sie nicht rein rational auf die stärkere KO setzen, sondern nach ihrem Gewissen wählen sollten, wobei er genau wusste, dass die PiS-Partei ihre Mehrheit nur dann verlieren würde, wenn der Dritte Weg in den Sejm einzöge. Nach den Wahlen behauptete Hołownia jedoch, dass nicht Tusks Appell, sondern das ausgezeichnete Parteiprogramm und glaubwürdige Kandidaten die Wähler überzeugt hätten.
Es ließe sich aber gute Münze wetten, dass die Wählereinbußen des Dritten Wegs zugunsten der Bürgerkoalition nicht „Tusks Schuld“ sind. Die Verantwortung ruht auf der Führung des Dritten Wegs. Dazu liefern sie übrigens selbst den Beweis. „Die Polen haben einen viel konservativeren Sejm gewählt, als sie es selbst sind“, sagte Hołownia im März, als er im Gespräch mit der Wochenzeitung „Polityka“ den Widerstand des Dritten Wegs gegen Pläne kommentierte, die Vorschriften zur Abtreibung zu liberalisieren. Tatsächlich setzt sich der Sejm zu siebzig Prozent aus Männern zusammen, aber der Dritte Weg – sowohl Polska 2050 als auch das PSL – sind entgegen Hołownias Bonmots keine Geiseln ihrer Wählerschaft in weltanschaulichen Fragen. Ganz im Gegenteil, als bei Frühjahrsbeginn die Verschiebung der Gesetzesvorlagen zur Abtreibung bis nach den Lokalwahlen beschlossen worden war, verschiedene Institute Umfragen durchführten, zeigte sich, dass etwa 60 bis 70 Prozent der Wähler des Dritten Wegs (besonders von Polska 2050) die Legalisierung der Abtreibung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche befürworten, das heißt die weitestgehende der vier Gesetzesvorlagen, an denen der Sejm arbeitet. Dagegen forcieren ihre Abgeordneten einen Entwurf, der den Zustand von vor Oktober 2020 wiederherstellen würde, als der von Julia Przyłębska geführte Verfassungsgerichtshof die Voraussetzung einer schweren Schädigung des Embryos für verfassungswidrig erklärte. Allein – die Polen (und Polinnen) wollen einen solchen „Kompromiss“ nicht mehr.
Die Haltung des Dritten Wegs zeigt, dass seine Politiker ausgesprochen beratungsresistent sind, wenn es darum geht, von den eigenen Fehlern zu lernen, und die Niederlage bei den Europawahlen hat daran nichts geändert. Nachdem ein neuer Gesetzesentwurf zur den Lebenspartnerschaften aufs Tapet gebracht worden ist, ein Thema, bei dem Szymon Hołownia sich schon lange öffentlich bejahend geäußert hatte, sperrt sich ein großer Teil der Volksparteiler unter ihrem Parteichef und stellvertretenden Ministerpräsidenten Władysław Kosiniak-Kamysz entschieden dagegen, obwohl mehr als sieben von zehn Wählern des Dritten Wegs die Legalisierung der Lebenspartnerschaften befürworten. Seinen Ansichten treu zu bleiben, ist löblich bis zu dem Augenblick, da sich das in Gleichgültigkeit, ja Taubheit gegenüber den Wählern verwandelt. Schließlich haben diese die Wahl – nomen est omen. Sie können immer auf eine Partei ausweichen, die besser und erfolgreicher auf die Bedürfnisse derer reagiert, die an den Urnen entscheiden. Sie können leider immer auch zuhause bleiben, wenn sie sich von keiner Partei repräsentiert fühlen. Der Dritte Weg, eine wichtige Säule der Demokraten, kämpft nicht darum, wenigstens einen Teil der Wähler der Mitte für sich zu gewinnen, sondern scheint immer mehr nur noch den Ambitionen seiner Vorsitzenden zu folgen.
Anscheinend ist das Projekt dabei, sich zu erschöpfen, und was sich auf der anderen Seite der Barrikade tut, kann den Prozess eigentlich nur noch beschleunigen. Donald Tusk ist ein zu erfahrener Akteur, um die heftigen tektonischen Bewegungen nicht wahrzunehmen, die sich in der Kaczyński-Partei vollziehen. Die Europawahlen haben bestätigt, dass sich PiS unverändert auf einen Wählerstamm verlassen kann, der sich nichtmals von dem durch schriftliche Beweise belegten Skandal um den Gerechtigkeitsfonds abschrecken lässt, einer Einrichtung, deren Aufgabe es ist, Verbrechensopfer zu unterstützen, und welche Politiker des Souveränen Polen für eigene oder Parteiinteressen einsetzten, also Angehörige der Partei des Zbigniew Ziobro, des vormaligen Justizministers und selbsternannten Repräsentanten des europaskeptischsten und reaktionärsten Teils der Vereinigten Rechten – wer erinnert sich nicht der Schmähungen, mit denen Ziobro den damaligen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki bedachte, als er diesen belehrte, bei Verhandlungen mit Brüssel dürfe man kein „Weichei“ sein. Im Untersuchungsverfahren ist es bereits zu ersten Verhaftungen gekommen, darunter von Beamten des Justizministeriums, das die Aufsicht über den Fonds führt. Gegen den vormaligen stellvertretenden Justizminister Marcin Romanowski erhebt die Staatsanwaltschaft den Vorwurf, in einer „organisierten kriminellen Gruppe“ gehandelt zu haben; wir können uns denken, dass der Vorwurf, die Gruppe geleitet zu haben, sich gegen seinen Chef in Partei und Ministerium richten wird. Romanowski steht der Verlust seiner Abgeordnetenimmunität bevor. Zbigniew Ziobro, seit einem halben Jahr wegen einer schweren Tumorerkrankung politisch nicht mehr aktiv, ebenfalls.
Jarosław Kaczyński tritt die Flucht nach vorne an. Ihm bleibt nichts anderes übrig, denn in seiner eigenen Partei begegnet ihm immer öfter Insubordination, wenn nicht offener Aufruhr. Ein Beispiel: In Kleinpolen, einer der Wojewodschaften, in denen PiS nach den Lokal‑ und Regionalwahlen über Mehrheiten zur Alleinregierung verfügt, schlägt schon seit April die Wahl eines Marschalls fehl, und Łukasz Kmita, der von Kaczyński gesalbte Kandidat, für den der PiS-Vorsitzende seine gesamte Autorität einsetzt, ist schon bei zwei Abstimmungen durchgefallen. Seine Wahl wird von der Fraktion der früheren Ministerpräsidentin Beata Szydło blockiert, die viele offene Rechnungen mit Jarosław Kaczyński hat; denn dieser hat sie mehr als einmal öffentlich gedemütigt, auch in ihrer Zeit als Regierungschefin.
Ja, Kaczyński muss Handlungsfähigkeit beweisen. Während der ungeliebte Ziobro, in dessen Geiselhaft sich Kaczyński über Jahre hinweg wähnte, im Krankenhaus um sein Leben kämpft, sieht sich der PiS-Vorsitzende durch den Zerfall der Partei Souveränes Polen beflügelt – die ersten Abgeordneten haben das sinkende Schiff bereits verlassen oder sind im Begriff, es zu tun. Kaczyński will diejenigen übernehmen, die nicht oder zumindest nicht direkt in den Finanzskandal verwickelt sind, und sich von den übrigen distanzieren, wenn das überhaupt möglich ist. Das könnte sich aber als undurchführbar herausstellen, und die Strafe – eine angemessene, empfindliche und daher ausgesprochen wirkungsvolle Strafe – wird sich gegen die PiS-Partei richten. Die Vereinigte Rechte ist gemeinsam als Recht und Gerechtigkeit in die Wahlen gegangen. Die Staatsanwalt hat Beweise, dass Ziobros Leute im Wahlkampf von 2023 Mittel aus dem Gerechtigkeitsfonds zweckentfremdet haben, doch belasten sie nicht nur Politiker aus der Partei Souveränes Polen, sondern das gesamte Wahlkomitee [nach der polnischem Wahlordnung leiten die Wahlkomitees den Wahlkampf der aus mehreren Parteien gebildeten Wahlkoalitionen; A.d.Ü.]. Die Dokumente werden von der Staatlichen Wahlkommission auf illegale Wahlkampffinanzierung hin untersucht – Parteien haben bereits für geringfügigere Verstöße die Zuwendungen aus dem Staatshaushalt für eine ganze Legislaturperiode verloren. Im Falle von PiS ist die Rede von dreißig Millionen Złoty [knapp sieben Millionen Euro] im Jahr; Jarosław Kaczyński muss damit rechnen, dieses Geld nicht zu bekommen. Das ist aber noch nicht alles; denn auch Dokumente zum Wahlkampf von 2019 werden untersucht. Und es sieht ganz danach aus, als ob PiS die Zuwendungen für die vorherige Legislaturperiode wird zurückgeben müssen, was weitere etwa einhundert Millionen Złoty [gut 23,1 Millionen Euro] wären. Für eine Partei, die noch vor einem Jahr förmlich in öffentlichen Geldern badete und die Ihrigen mit fetten Sinekuren in Unternehmen im Staatsbesitz versorgte, kann sich das als schwerer Schlag erweisen, der für sie nicht nur den finanziellen, sondern auch politischen Bankrott bedeutet.
Die Demokraten können sich deswegen aber noch lange nicht beruhigt zurücklehnen. Am Wahlabend des 9. Juni betonte Donald Tusk, Polen habe sich diesmal auf der hellen Seite der Macht befunden, im Gegensatz zu vielen Ländern in Westeuropa, in denen Parteien der äußersten Rechten historische Ergebnisse erzielt hatten. Polen wird die im Europäischen Parlament die größte Fraktion bildende Europäische Volkspartei erheblich verstärken, und der polnische Ministerpräsident hatte in den Verhandlungen mit den anderen europäischen Regierungschefs bei der Besetzung der zentralen EU-Positionen ein gewichtiges Wort mitzureden; wie immer man es sehen möchte – er verteilte die Karten. Das kann jedoch die Tatsache nicht vergessen machen, dass nicht nur PiS ein beachtliches Ergebnis bei den Europawahlen erzielte, sondern auch die Konföderation auf einen zweistelligen Prozentsatz kam, eine Partei, in der sich nationalistische und fremdenfeindliche Politiker sammeln. Darunter zumindest einige mit ziemlich offenkundigen Verbindungen zum kremlfreundlichen Milieu wie zum Beispiel Grzegorz Braun, der im Dezember 2023 gegen eine im Parlamentsgebäude entzündete Menora mit einem Feuerlöscher anrückte. Was jedoch ganz besonderen Anlass zur Sorge gibt, so auch in Deutschland: die radikale Rechte wurde von einem großen Teil der jüngsten Wähler unterstützt.
Im Herbst waren es die jungen Wähler, welche die Demokraten an die Macht brachten. Im Vorsommer blieben sie entweder zuhause oder stimmten für die Nationalisten. Die Wegscheide, an der sich die Regierungskoalition befindet, ist keine einfache Kreuzung: Hier zweigen sehr unterschiedliche Wege ab.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann