Gespräch mit Anita Baranowska-Koch und Jakob Reinhold
Natalia Prüfer: Die Deutsch-Polnische Gesellschaft Berlin ist Autor des an Jugendliche aus Deutschland und Polen gerichteten Projektes „Jenseits der Mauern, Geschichten verbinden“. Das Projekt ist der Erinnerung an den Warschauer Aufstand gewidmet und besteht in einem Jugendaustausch zwischen Berlin und Warschau, bei dem in Berlin ein Wandkunstwerk über den Aufstand, eine Wanderausstellung und eine Publikation zu dem Thema entstehen sollen. Das klingt nach einem sehr ambitionierten und arbeitsintensiven Projekt.
Jakob Reinhold: Wir können das Projekt dank der Unterstützung zahlreicher Institutionen und Organisationen realisieren. Es ist ja nicht so, dass Anita und ich das allein machen. „Jenseits der Mauern, Geschichten verbinden“ ist ein Projekt, das auf der Kooperation vieler deutsch-polnischer Institutionen basiert. Damit muss man anfangen, denn es hat sich gezeigt, dass das Interesse an diesem Thema in verschiedenen Institutionen enorm ist.
N.P.: Wer nimmt an diesem Projekt teil? Es sind junge Menschen zwischen 18 und 30 Jahren, aber können wir noch mehr über sie erfahren?
J.R.: Es handelt sich um das erste Jugend-Projekt, das seit längerer Zeit von der Deutsch-Polnischen Gesellschaft organisiert wird. Uns ist schnell aufgefallen, dass die Arbeit daran etwas anderes ist als unsere sonstigen Aktivitäten. Mit Jugendlichen arbeitet man anders, das ist eine andere Herausforderung und bringt auch neue Perspektiven und Ideen. Die Teilnehmergruppe setzt sich zusammen aus Polen und Deutschen mit polnischer Herkunft. Es sind insgesamt 27 Personen. Die meisten sind sehr interessiert an deutsch-polnischen Themen, sie haben oft persönliche Gründe und das Bedürfnis, an diesem Projekt teilzunehmen. An den ersten Workshops, die kürzlich in Warschau stattgefunden haben, haben 22 Personen teilgenommen.
N.P.: Hattet ihr keine Schwierigkeiten damit, junge Leute zu finden? Das ist ein recht ernstes und schwieriges Thema für ein Jugendprojekt.
J.R.: Ja, das hatten wir befürchtet. Das Thema ist schwierig. Wir haben uns gefragt, ob sich überhaupt Jugendliche finden würden, die bei einem Kunst-Projekt über den Warschauer Aufstand mitmachen wollen. Es gab noch ein weiteres Hindernis: den Wissensstand. Die Jugend in Polen behandelt den Aufstand in der Schule, während in Deutschland dieses Thema im Lehrplan im Grunde nicht vorkommt. Wir mussten die Jugendlichen und ihre Motivationen und ihren Wissensstand am Anfang zunächst gut kennenlernen. Für uns war es besonders wichtig, dass ein Dialog auf dem gleichen Niveau möglich wird. Und damit haben wir bei der Begegnung in Warschau begonnen.
N.P.: Die erste Projektetappe habt ihr also bereits hinter euch, ihr wart ein paar Tage in Warschau. Was genau habt ihr dort gemacht?
J.R.: Wir haben das Museum des Warschauer Aufstandes besucht, haben uns Vorträge angehört, waren im Haus der Warschauer Aufständischen. Wir haben über persönliche und familiäre Erfahrungen gesprochen und über unsere Gefühle. Gemeinsam haben wir darüber nachgedacht, wie diese schwierigen Erfahrungen und Gefühle in künstlerische Arbeit umgesetzt werden könnten, so wie sie im Projekt beschrieben sind: grafisch, fotografisch und verbal. Es entstanden erste Ideen für Wandkunstwerke. Als wir den offiziellen Teil des Treffens in Warschau abgeschlossen hatten, wollten die Teilnehmer weiter darüber sprechen. Wir waren sehr positiv überrascht. Unsere Partner ebenfalls. Der stärkste Beweis für das Interesse war ein Treffen mit Aufständischen; das war faszinierend.
Anita Baranowska-Koch: Eine zwanzigköpfige Gruppe von über neunzigjährigen Warschauer Aufständischen traf sich mit uns und unseren Jugendlichen.
J.R.: Sie wollten mit den jungen Menschen sprechen, es lag ihnen wirklich viel daran.
A.B.-K.: Mir bricht noch immer die Stimme, wenn ich an diese Begegnung denke. Ich habe den Eindruck, dass das der letzte Moment ist. Diese Menschen haben so lange Jahre auf diese Gespräche gewartet und warten noch immer, das ist wichtig für sie, und zwar nicht nur einmal im Jahr zum Jahrestag des Ausbruchs des Aufstandes. Die Tatsache, dass wir sie mit deutschen Jugendlichen besucht haben, war besonders bedeutsam für sie. Manche haben versucht, einzelne deutsche Wörter aus ihrem Gedächtnis hervorzukramen, sie haben die deutschen Jugendlichen aus Berlin herzlich begrüßt. Das war ausgesprochen bewegend; am Ende wollten wir gar nicht mehr auseinandergehen. Dieses Projekt löst starke Emotionen aus, sowohl bei den jungen als auch bei den älteren Menschen.
J.R.: Alle, die sich für dieses Projekt engagieren, sind gewissermaßen mit diesem Thema infiziert. Das ist ein großes Projekt und viel Arbeit. Wir machen das eher ehrenamtlich, in unserer Freizeit, aber es sind Effekte zu sehen und dass es bei den Jugendlichen etwas bewirkt und die deutsch-polnischen Beziehungen beeinflusst; wir wollen nicht aufhören und nicht aufgeben. Ich weiß noch, dass ich, als wir darüber nachdachten, ob wir dieser Idee überhaupt gewachsen sind, gesagt habe: „Manchmal ist es ok zu sagen, dass wir das nicht schaffen“. Doch jetzt, wo wir unsere Teilnehmer, unsere Partner und die Atmosphäre, die im Zusammenhang mit diesem Projekt entstanden ist, kennen, weiß ich, dass es sich lohnt und dass man das machen muss.
A.B.-K.: Da stimme ich dir zu, Jakob. Bei der Begegnung mit den Aufständischen war ich sehr glücklich und hatte das Gefühl, dass diese Arbeit sehr sinnvoll ist. Wir tun, was wir können, und auch, was wir nicht können (lacht). Das ist unser Motto.
N.P.: Warum ist gerade der Warschauer Aufstand eurer Meinung nach ein historisches Ereignis, in dessen Zusammenhang man deutsch-polnische Jugendprojekte entwickeln muss? In diesem Jahr begehen wir den 80. Jahrestag des Warschauer Aufstandes, aber ich glaube nicht, dass das für euch der einzige und fundamentale Grund war, richtig?
J.R.: Ich habe es schon am Anfang erwähnt: der Unterschied zwischen der polnischen und deutschen Herangehensweise an die Geschichte, an ihre Aufarbeitung und Verarbeitung ist enorm. Ich spreche jetzt aus der deutschen Perspektive und muss sagen, dass wir, um unseren polnischen Nachbarn zu verstehen, ihn besser kennenlernen müssen, besonders seine Geschichte. Es geht dabei nicht allein um die Ereignisse, sondern um die Menschen, ihre Lebensläufe, den Kampf für die Freiheit und um den Charakter. Ich würde deine Frage ein bisschen umdrehen: Nicht, warum der Aufstand, sondern was gibt uns der Aufstand heute? Warum müssen wir über den Warschauer Aufstand sprechen? Welche Wertvorstellungen und Ideen verkörpert er? Es geht nicht darum, zum hundertsten Mal den Verlauf zu analysieren, sondern darüber nachzudenken, was er der heutigen Jugend gibt und wie man aufeinander zugehen kann. Sonst werden wir nie gemeinsam agieren. Es müssen Brücken gebaut werden. Natürlich haben wir zwei verschiedene Geschichten, das ist richtig, aber wir werden sie miteinander verbinden. Wir machen das, um in der Zukunft gemeinsam aktiv werden zu können.
N.P.: Brücken bauen, Geschichten verbinden – welche Ziele hat das Projekt „Jenseits von Mauern, Geschichten verbinden“ noch?
A.B-K.: Das alles folgt aus unserem kulturellen Gedächtnis. Wir müssen uns weiterhin vor den polnischen Opfern verneigen. Jetzt, nach achtzig Jahren, ist dafür noch immer Zeit. Wir waren sehr bewegt von der Begegnung mit den Aufständischen. Manche von ihnen haben noch immer schreckliche Bilder vor Augen, obwohl achtzig Jahre vergangen sind, arbeitet das noch alles in ihnen. Wir hatten alle Tränen in den Augen, als wir darüber sprachen. Dieses Projekt bedeutet generationsübergreifende Geschichtsaufarbeitung – das ist unsere Pflicht. Die Informationen über den Aufstand müssen weitergegeben werden, und gleichzeitig dürfen die Tragödie dieser Generation, ihre Kriegs- und Aufstandserlebnisse nicht vergessen werden, auch nicht das, was danach kam: dass man von dem Aufstand nicht sprechen durfte, dass man nicht erzählen durfte, dass Aufständische in Gefängnisse gesteckt wurden. Ich selbst spüre, dass ich die familiäre Verpflichtung habe, darüber zu sprechen und solche Projekte zu machen. Früher war ich mir darüber nicht im Klaren, habe das nicht gesehen, jetzt aber habe ich das Bedürfnis. Mein Stiefvater war in einem deutschen Lager inhaftiert, dann in einem sowjetischen, und mein Großvater war im Pawiak-Gefängnis (berüchtigtes Gefängnis für politische Häftlinge im Zentrum Warschaus während der deutschen Besatzung, Anm. d. R.) und wurde dann in Auschwitz ermordet. Ich bin der Meinung, dass Brücken gebaut werden müssen, indem wir die Tragödie verstehen, die in Polen geschehen ist. Beinahe jede polnische Familie hat während des Krieges jemanden verloren, deshalb fällt es schwer, von den Deutschen als Freunde zu sprechen. Es muss von Helden wie Władysław Bartoszewski oder Stanisław Stomma erzählt werden. Um weiter gehen zu können, muss diese Geschichte verarbeitet werden. Wir verneigen uns vor den Opfern und nur so können wir weitergehen. Wir können nichts rückgängig machen, die Opfer nicht wieder auferstehen lassen. Aber wenn wir darüber reden, schreiben, malen, Ausstellungen und Wandkunstwerke erstellen, dann überzeugen wir andere davon, dass wir nicht vergessen dürfen. Das haben wir den Aufständischen, die wir in Warschau getroffen haben, versprochen. Das ist ein wichtiges Versprechen. Es ist traurig, dass die Warschauer Stadtregierung, Stadtpräsident Trzaskowski und die Warschauer Medien überhaupt kein Interesse für dieses Projekt gezeigt haben. Ich hoffe, das wird in Berlin anders sein. Wir haben die Last dieses Themas auf uns genommen, und es wäre gut, wenn andere diese Relevanz wahrnehmen würden. Wir haben Mittel von vielen Institutionen erhalten, nirgendwo haben wir eine Absage bekommen, ich kann mich nicht beklagen. Das hat uns in der Überzeugung bestärkt, dass wir etwas Gutes tun.
N.P.: Wo genau entsteht das Wandkunstwerk, das eines der sichtbaren Hauptergebnisse des Projektes sein soll?
A.B-K.: Der Stadtbezirk Treptow-Köpenick ist Partner des Warschauer Stadtbezirks Mokotów und hat uns eine Wand des Jugendamtes in Adlershof zur Verfügung gestellt. Die genaue Adresse ist Groß-Berliner Damm 154, 12489 Berlin. Dort werden wir malen. Das Amt stellt uns auch Abstellräume und ein Gerüst zur Verfügung. Die Beamten sind sehr wohlwollend, wir haben die Bewilligung für das Wandkunstwerk beinahe sofort erhalten, dabei war das gar nicht so klar. Ein anderes wichtiges Ergebnis wird eine Wanderausstellung in Berlin sein. Bald werden wir genau festlegen, wo diese Ausstellung gezeigt wird. Mit Sicherheit vor der Volkshochschule Treptow und in Lichtenberg – dieser Bezirk ist Partner des Warschauer Bezirkes Białołęka. Es wird auch eine Publikation über die Ausstellung, das Wandkunstwerk und die Motivation der Teilnehmer entstehen.
N.P.: Lasst uns noch vom zeitlichen Rahmen sprechen. Ende Juni fand die Jugendbegegnung in Berlin statt, wie geht es weiter?
A.B.-K.: Zunächst trafen wir uns alle in Berlin; am 24. Juni begann die Arbeit an dem Wandkunstwerk; wir haben Berlin besichtigt, uns Street Art in der Stadt angeschaut. Die Wandmalerei-Künstler Dariusz Paczkowski und Maria Michoń haben mit den Jugendlichen zusammengearbeitet. Und unsere Jugendlichen sind großartig, sie sind engagiert und gehen mit Ernsthaftigkeit an das Projekt heran. Sie wollten nicht, dass die Künstler etwas vorgeben, sondern sie wollten selbst entscheiden, wie das Wandkunstwerk aussehen soll. Das Projekt selbst wird so lange dauern wie der Aufstand gedauert hat, also 63 Tage, bis zum 2. Oktober. Bis dahin wird die Ausstellung durch Berlin wandern. Mithilfe der Ausstellung werden die Teilnehmer auch ihre Fähigkeiten präsentieren können.
N.P.: Das Projekt reiht sich ein in Partnerprojekte zwischen Berlin und Warschau. Was für eine Partnerschaft ist das eurer Meinung nach? Was geschieht im Rahmen dieser Partnerschaft?
A.B.-K.: Auf Verwaltungsebene gab es Gespräche und Besuche, aber meiner Meinung nach fehlte es an einem „allgemeinen Aufbruch“, sprich: an einer aktiven Zivilgesellschaft. Wir wurden eingeladen, als Deutsch-Polnische Gesellschaft, aber das waren meistenteils offizielle deutsch-polnische Delegationen. Es hat mir an normalen Kontakten mit der Zivilgesellschaft gefehlt. Wenn etwas nicht funktioniert, versuche ich, das zu ändern. Ich habe große Lust dazu, dass Berliner sich in Warschau und Warschauer in Berlin verlieben. Das Motto „Verlieb dich in Warschau“ spricht mich stark an. In den vergangenen acht Jahren war das aus politischen Gründen nicht möglich, die Deutschen haben das Interesse an Polen verloren, jetzt ist es Zeit, das wieder aufzugreifen. Mein Anliegen ist es, dass Multiplikatoren aus Berlin bald nach Warschau kommen und verschiedene Institutionen kennenlernen, die an Zusammenarbeit interessiert sind. Das Interesse an einem solchen Austausch ist groß; ich habe viele Rückmeldungen von Personen, die nach Warschau fahren möchten. Das ist jetzt meine Aufgabe und meine Verpflichtung.
N.P.: Es gibt viele Nichtregierungsorganisationen, die die Partnerschaft zwischen Berlin und Warschau stärken könnten. Sind die Städte in der Lage dieses Potenzial zu erkennen und entsprechend zu nutzen?
A.B.-K.: Das ist eine sehr interessante Frage. Die Verständigung auf Bezirksebene ist wesentlich einfacher als auf der gesamtstädtischen und meiner Meinung nach muss man sich darauf konzentrieren. Organisationen und den Bezirken muss geholfen werden bei der Kontaktaufnahme zwischen polnischen und deutschen Städten, insbesondere wenn es in den Ämtern Personen gibt, die an Zusammenarbeit und Kontakten interessiert sind, denn das hängt oft von einzelnen Beamten ab. Ich arbeite daran, Berliner Bezirke mit Warschauer Bezirken in Verbindung zu setzen. Ob das klappt, weiß ich nicht, ich hoffe es.
N.P.: Ich drücke die Daumen und bedanke mich für das Gespräch.
Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Miller
Pressemitteilung zum Projekt und Einweihung des Wandbildes am 8. Juli 2024: Pressemitteilung.3.7.24.Mural
Anita Baranowska-Koch ist Vorsitzende und Jakob Reinhold stellv.Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Berlin
Natalia Staszczak-Prüfer ist Theaterwissenschaftlerin, freiberufliche Journalistin und Übersetzerin.