In Frankreich mögen Parlamentswahlen zwischen der ersten und zweiten Tour den Kandidaten zwar viel Freiraum zur Anpassung der Parteistrategie sowie für taktische Rochaden lassen, so dass selbst Experten mitunter Schwierigkeiten haben, treffsichere Prognosen zum Wahlausgang zu formulieren, wie es das Ergebnis von Sonntag gerade zeigte, doch bereits am 30. Juni 2024 stand fest, dass die vom französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron nach den Europawahlen herbeigewünschte Abklärung der politischen Lage im Lande weitgehend zu einem Referendum für oder gegen ihn mutiert hatte. Dabei fiel die Antwort der Franzosen – bei massiver Wahlbeteiligung – zunächst eindeutig negativ aus. Auch das Endspiel vom 7. Juli, in dem sein Bündnis Ensemble von den Stimmen vieler Gegner zwecks Verhinderung eines Siegs der Rechtsextremen profitieren konnte, ändert daran nichts Wesentliches, ging es doch aus der Sicht vieler Bürger wie schon während der Präsidentschaftswahl von 2022 erneut darum, das sprichwörtliche geringere Übel zu wählen. Macrons Lager hatte den Trend bereits im Juni verstanden und versucht, dem entgegenzuwirken, indem es den französischen Präsidenten – nicht ohne Mühe – dazu brachte, nach der ersten Tour nicht mehr so allgegenwärtig in die Wahlkampagne einzugreifen, wie er es in den wenigen Wochen zwischen der Auflösung des Parlaments und der ersten Tour durch häufige Medienauftritte praktiziert hatte.
Obwohl Macrons zweite Amtszeit als Präsident noch fast drei Jahre dauern soll, sind in der Partei die Anzeichen der Ratlosigkeit angesichts seiner sinkenden Popularität und des – aller wahltechnisch bedingten, kurzfristigen Erleichterung zum Trotz – weiterhin unaufhaltsamen Aufstiegs der rechtspopulistischen bzw. rechtsextremen Rassemblement National (RN) bei gleichzeitigem Erstarken der Linken (der Parti socialiste, doch vor allem der linksradikalen Partei „Unbeugsames Frankreich“ – La France insoumise, LFI) nicht mehr zu übersehen. Und obgleich es vorzeitig wäre, Macrons politisches Ende zu verkünden, scheint der Macronismus offensichtlich als Strategie und als Projekt vorerst an seine Grenzen geraten zu sein. Dies bedeutet einen tiefen Einschnitt in einem Ende 2016 begonnenen politischen Experiment, das man unter dem Motto des soft – also weichen bzw. gemäßigten – Populismus zusammenfassen könnte. Macron war bereits 2016 bei weitem kein Neuling in der französischen Politik. Unmittelbar, bevor er sich als Kandidat in der Kampagne für die Präsidentschaftswahl 2017 deklarierte, firmierte er doch als Wirtschaftsminister in Manuel Valls‘ Regierung. Nichtsdestoweniger machte er sich Umbruch und Neuanfang zum Programm und stützte sich dabei mit Absicht nicht auf eine Partei, sondern auf eine von ihm gegründete Bewegung, die ihm den Weg in den Elysée-Palast ebnete. Auch deren Name – En marche!, später La République En Marche! (LREM) – wies auf eine Dynamik, die nicht von ungefähr mit der Semantik der revolutionären Geschichte und der kollektiven Vorstellungswelt der Franzosen spielte.
In Hinblick auf die partei- und ideologieübergreifende Ausrichtung von Macrons Wahlkampagne 2016/2017 und die Strategie des Kandidaten, die darauf basierte, durch zahlreiche Treffen im ganzen Lande möglichst nah an die Bürger heranzukommen, um sein Programm eng an die zum Ausdruck gebrachten gesellschaftlichen Erwartungen anzupassen bzw. diese zu thematisieren und in den allgemein elastischen Rahmen der Macronschen Vision eines gestärkten, wenn auch europhilen Frankreichs aufzunehmen, gestaltete sich sein Wahlsieg im Mai 2017 in der Tat als der Triumph eines neuerfundenen liberalen politischen Zentrums, das es zustande gebracht hatte, den Populisten durch einen gemäßigten Gebrauch ihrer eigenen Methoden vorerst effizient Einhalt zu gebieten. Nicht zuletzt kam Macron dabei wohl das nicht erloschene Faible der französischen Gesellschaft für eine Prise Bonapartismus zur Hilfe.
Allerdings war es dann gerade diese letztgenannte Tendenz im Macronismus, die der frisch gewählte Präsident schon zu Beginn seiner ersten Amtsperiode immer stärker bevorzugte. Indem er seine Rolle als Präsident als die eines politischen ‚Jupiters‘ verstand – eine Interpretation, die ja grundsätzlich im Einklang mit dem Geiste der Verfassung der Fünften Französischen Republik stehen mochte – und seine politische Kommunikationsstrategie darauf ausrichtete, direkten Medienkontakt mit der Gesellschaft zu suchen, drängte er die Institutionen und Akteure, die als Bindeglied zwischen Staat und Gesellschaft auf den mittleren Ebenen fungieren (die sogenannten corps intermédiaires, insbesondere die regionalen und lokalen Behörden) aus entscheidungstechnischer Perspektive immer mehr ins Abseits. Diese „Vertikalität“ seiner Amtsausübung – vonseiten seiner Kritiker wurde schon bald von „Machtvertikale“ gesprochen – zeigte bereits während der Krise, die von der Gelbwestenbewegung hervorgebracht wurde, unübersehbare Mängel: Indem u.a. Bürgermeister weitgehend aus dem Krisenmanagement ausgeklammert wurden, erwies sich dieses in seiner Durchsetzungsfähigkeit als limitiert und fehlerhaft.
Ebenso vehement gestaltete sich Macrons Herangehensweise in Sachen Sozialreformen. Überzeugt von der Notwendigkeit schneller und tiefgreifender Reformen, sei es im Rentensystem oder der Arbeitslosenhilfe, legten der Präsident und sein politisches Lager ein Tempo an den Tag, das den traditionsgemäß meistens langwierigen und mühsamen Negoziationsprozess mit den Gewerkschaften auf den Kopf stellte, ja sogar das Parlament umging und für das Aufkommen unnötiger negativer Emotionen sorgte. Besonders aber führte dies dazu bei, dass der Macronismus in immer breiteren Teilen der Wählerschaft (nicht nur links) als eine brutale Form des Liberalismus wahrgenommen wurde. Diese Brutalität kam auch wiederholt im öffentlichen Raum – sei es auf der Straße oder in den Social Media – als Reaktion auf die jeweiligen Realisierungsetappen der Macronschen politischen Agenda zum Ausdruck. Emmanuel Macrons Präsidentschaft war und bleibt durchsetzt mit gewaltsam auftretenden Krisenerscheinungen, die entweder quer durch das gesellschaftliche Spektrum des Landes liefen (im Falle der Gelbwesten), oder bestimmte wirtschaftliche Gruppen (z.B. die Landwirte) betrafen. Zuletzt brachte die straffe Haltung der französischen Exekutive – zwar nicht die des Präsidenten selbst, sondern der Regierung Gabriel Attals, insbesondere seines Innenministers Gérald Darmanin – in einer bereits angespannten Lage das französische Überseeterritorium Neukaledonien ins Lodern: Der Versuch, ein von den Befürwortern der neukaledonischen Unabhängigkeit als neokolonial kritisiertes Gesetz zur Angleichung der Wahlrechte der nicht-autochthonen Franzosen an die der Kanaken durchzusetzen, mündete vor dem Hintergrund hoher Arbeitslosigkeit auf der pazifischen Insel in wochenlangen Aufruhr. Die Ausrufung des Notzustandes, neun Todesopfer, Hunderte von Verletzten (Demonstranten und Gendarmen) sowie Sachschäden in Höhe von insgesamt mindestens zwei Milliarden Euro waren die Folge.
Da die bis 2017 maßgebenden Parteien rechts und links des Zentrums weitgehend von Macrons Bewegung – die später nun doch zur Partei (Renaissance) wurde – abgesaugt worden waren, boten sich im politischen Spektrum als Alternativwahl praktisch nur noch radikale Parteien. Aus dieser Hinsicht lässt sich auch besser nachvollziehen, dass unter den unzufriedenen französischen Bürgern nach und nach selbst diejenigen für die Extremen zu stimmen begannen, die bislang größtenteils zur Stammwählerschaft der Parti socialiste gehört hatten. Dies betrifft mittlerweile nicht nur die Arbeiterschaft, die sich gerade von den Rechtsextremen aus sozialpolitischer Perspektive eher angesprochen sieht, als von den Sozialisten und anderen Stellvertretern des linken Zentrums, die sich immer mehr auf Fragen der Minderheitenrechte konzentriert haben. Auch Lehrer wählen nun seit wenigen Jahren immer öfter Kandidaten der RN. Die stärker links orientierten Parteien und Gruppierungen wiederum radikalisierten sich parallel dazu und griffen immer häufiger auf populistische Parolen zurück, um mit den rechtsextremen Populisten um die Wählerschaft zu konkurrieren, die des Macronismus überdrüssig geworden war.
Der Schein trügt: Präsident Macron hat das nach seiner Wiederwahl von 2022 formulierte Versprechen, die Rechtsextremen einzudämmen, keineswegs halten können. Diese Rolle hat wieder die Linke inne, selbst wenn die aus der Konjunktur heraus gebildete „Neue Volksfront“ (Nouveau Front Populaire) sich wohl bald aufsplittert. Die konservativen „Republikaner“ (Les Républicains) wiederum können noch hoffen, mitunter als Zünglein an der Waage Einfluss zu nehmen. Auch bleibt es äußerst fraglich, ob der mit der Auflösung des Parlaments beschleunigte Aufstieg der RN tatsächlich als taktischer Zug in einer vermeintlich großangelegten Strategie Macrons gesehen werden könnte, um das Lager Le Pen/Bardella in den knapp drei Jahren bis zur nächsten Präsidentschaftswahl politisch abzunutzen und dessen Kandidaten oder Kandidatin dadurch 2027 für das höchste Amt in den Augen einer ernüchterten Wählerschaft untauglich zu machen. Ein solches Gambit birgt große Risiken und dessen Konsequenzen wären auf Dauer kaum zu kontrollieren.
In Polen haben der Journalist Sławomir Sierakowski und der Soziologe Przemysław Sadura in ihrer jüngsten Studie zum Populismus zeigen können, dass dessen Erfolg im Lande größtenteils von drei Hauptfaktoren abhängen: Einer nach und nach stärker postmodernistisch orientierten, ideologieresistenteren Gesellschaft, einer schwächeren Tradition des Liberalismus (als im Westen des Kontinents) und nicht zuletzt dem niedrigeren Vertrauen in Institutionen (bzw. zum Staat). Nun scheint ebenfalls in Frankreich das gesellschaftliche Vertrauen der Franzosen zu ihrem politischen Regime zu einem solchen Grad geschwunden zu sein, dass auch die Grande Nation nunmehr Anzeichen gibt, eine härtere populistische politische Kultur annehmen zu wollen. Davon zeugen die Anziehungskraft sowohl der RN als des LFI. Emmanuel Macron muss mitansehen, wie die Zustimmung für seine Person als Parteileader selbst in den eigenen Reihen schmilzt. Der Abschluss seiner zweiten – und letzten – Amtszeit im Frühling 2027 könnte durchaus dazu führen, dass die Franzosen auch unter das Experiment des Macronschen Soft Populism einen Schlussstrich ziehen. Vorerst zeichnet sich aber in Frankreich vor dem Hintergrund eines geschwächten Elysée-Palasts die Rückkehr zu mehr Parlamentarismus ab. In den kommenden Monaten sollten die politischen Impulse wieder stärker aus dem Palais Bourbon, dem Sitz der französischen Nationalversammlung, kommen. Jupiters Blitze wurden abgestumpft, auf dem Olymp wird es stiller.