Ein Gespräch mit Marek Prawda, stellvertretendem polnischen Außenminister
Die nach sechsjähriger Pause ersten Regierungskonsultationen zwischen Polen und Deutschland waren nach Auffassung des stellvertretenden polnischen Außenministers Marek Prawda eine wirkliche Bestandsaufnahme dessen, was gemeinsam im Laufe des ersten halben Jahres der neuen Regierung in Warschau erreicht werden konnte. Und sie waren eine Gelegenheit, sich neue Aufgaben zu setzen.
Aureliusz M. Pędziwol: Was lässt sich in drei Stunden erreichen, wenn auf jeder Seite des Tisches ein gutes Dutzend Personen sitzen? Ich spreche natürlich von den deutsch-polnischen Regierungskonsultationen.
Marek Prawda: Es lässt sich zusammenfassen, was man getan hat. Diese Konsultationen waren der Höhepunkt dreimonatiger Vorbereitungsarbeiten und eine echte Bestandsaufnahme dessen, was auf dem Gebiet der deutsch-polnischen Beziehungen in der ersten Phase der Regierung von Donald Tusk erreicht werden konnte. Aber es galt auch aufzuzeigen, wo es noch besondere Defizite gibt. Das war der Sinn der Übung. Die einzelnen Ressorts sollten vorstellen, was in ihrem jeweiligen Bereich die dringendsten Aufgaben sind und darlegen, wie sie vorhaben, diese zu bewältigen. Es ist darüber hinaus sinnvoll, Mechanismen zur Umsetzung der Pläne zu erstellen.
Wir sind zufrieden, dass die Konsultationen stattgefunden und wir beiderseitig den Willen bekundet haben, die Dinge stark zu beschleunigen. Wir werden sehen, was dabei herauskommt. Uns ist klar, wie umfassend die anliegenden Aufgaben sind und wie viel Zeit bereits verlorengegangen ist. Aber wir sind hoffnungsvoll.
Welche Schlussfolgerungen konnten Sie ziehen?
Dass Polen und Deutschland nicht daran vorbeikommen, eine bestimmte Verpflichtung einzugehen, eine Konzeption für ganz Europa zu entwickeln. Denn beide Länder sind zu wichtig, weil sich hier die beiden Teile Europas miteinander verbinden, die heute bereits eine Einheit darstellen. Der östliche Teil ist zu einem nicht wegzudenkenden Part der europäischen Identität geworden, und Polen und Deutschland begreifen das am besten. Und nun stehen beide vor der Aufgabe, der Europäischen Union ein Konzept vorzuschlagen, was in unserer Lage zu tun ist, in der so viele gewichtige Veränderungen erfolgen.
Die Warschauer Gespräche waren von Sicherheitsfragen beherrscht, was in Anbetracht der Vorgänge östlich von Polen nicht weiter überrascht. Können diese Fragen allein von Polen und Deutschland beantwortet werden, oder muss sich ganz Europa daran beteiligen?
Daran muss sich das gesamte Europa beteiligen, aber unsere beiden Länder ganz besonders. Polen ist heute ein Frontstaat, Deutschland ist dagegen das Land mit dem größten Potential in der Europäischen Union.
Wir sprachen auch viel davon, dass unabhängig von den aktuellen Streitfragen und ungelösten Problemen das Weimarer Dreieck inzwischen zu einer Art Miniatureuropa geworden ist, in dem die neue Tendenz innerhalb der Europäischen Union zum Ausdruck kommt, ihren Schwerpunkt nach Osten zu verlagern.
Werden Deutschland und Polen zum neuen Motor der Europäischen Union in Sicherheitsfragen, insbesondere mit Blick auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine?
Ich würde sagen, dass wir es uns nicht leisten können, zwischen Berlin und Warschau keine Verständigung zu erzielen. Europa bedarf der gemeinsamen Anstrengung Deutschlands und Polens. Allerdings sprechen wir nicht von einem deutsch-polnischen Tandem, denn Polen besitzt kein so großes Potential, um eine solche Einschätzung zu rechtfertigen. Doch wird Europa jedenfalls von unseren beiden Ländern Lösungen verlangen, wie militärische Fähigkeiten herzustellen und Rüstungsausgaben zu bewältigen seien.
Die Frage, wie wir davon wegkommen, Europa als eine Maschine von Regelwerken zu sehen, und dahin gelangen, Europa als Schicksalsgemeinschaft zu empfinden, ist aber schon beantwortet. Diese Änderungen verpflichten uns zu einer engen verteidigungspolitischen Zusammenarbeit. Und darum drehten sich die Konsultationen, darüber sprachen die Regierungschefs, die Verteidigungsminister und die Chefs der anderen Ressorts.
Doch durch die Medien geisterten einmal mehr die Schlagwörter „Entschädigung“ und vor allem „Reparationen“. Inwieweit wurde das Thema bei den Gesprächen angesprochen?
Beide Seiten wiederholten, was seit langem bekannt ist. Das heißt, Fragen der Reparationen gelten nach internationalem Recht als abgeschlossen. Dagegen bestehen moralische und politische Verpflichtungen der deutschen Seite fort, die auch zukünftige polnische Regierungen ansprechen werden. Bei der Ausarbeitung des deutsch-polnischen Vertrags wurde die sogenannte pragmatische Formel des damaligen polnischen Außenministers Krzysztof Skubiszewski eingeführt, die ein Appell an die deutsche Seite war, dass diese moralisch-politische Motivation in Entschädigungsleistungen an Polen umgesetzt werden möge.
In Polen besteht das Gefühl, die deutschen Entschädigungszahlungen seien im Verhältnis zu den ungeheuren Verlusten und menschlichen Katastrophen, die Polen erlitten hat, unzulänglich, und es gebe keinen Geldbetrag, der jemals einen Ausgleich dafür herstellen könnte. Bei diesem Thema hat Bundeskanzler Olaf Scholz konkrete Zusagen gemacht.
Die Zusage einer Geste gegenüber den noch lebenden Opfern der NS-Herrschaft?
Ja. Und das wird sehr schnell umgesetzt werden. Eine weitere Zusage betrifft das Projekt des Deutsch-Polnischen Hauses in Berlin. In den letzten Monaten wurden dazu Gespräche geführt. Wir haben uns konsequent dafür ausgesprochen, das Projekt solle ein Element des Gedenkens einschließen, also ein Denkmal. Und auch, dass es in einer weiteren Phase Bildungsinitiativen umfassen solle, bei denen ein vollständiges Bild der dunkelsten Zeit unserer Beziehungen vermittelt wird. Ich denke, es wird alles nach diesem Plan ablaufen.
Als ich vor einigen Wochen mit Peter Oliver Loew sprach, dem Direktor des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, sagte er mir, ein Denkmal werde gewiss zum Deutsch-Polnischen Haus gehören. In Berichten über die Regierungskonsultationen hörte ich viel von dem Haus, aber von einem Denkmal war mit keinem Wort die Rede, zumindest habe ich nichts davon zu Ohren bekommen. Wie verhält es sich also damit?
Genauso, wie schon gesagt. Das Denkmal ist ein nicht wegzudenkender Bestandteil des Plans.
Das ist beschlossene Sache?
Ja.
Waren auch profanere Angelegenheiten wie Grenzkooperation, Umwelt‑ und Klimaschutz Gegenstand der Gespräche?
Wir haben einen sehr weit entwickelten „Aktionsplan“, der sicher keine besonders spannende Lektüre ist. Aber für die Experten handelt es sich um ein interessantes Dokument, weil darin mehr oder minder konkrete Projekte angekündigt werden.
Können Sie einige davon verraten?
Es ist jetzt nicht sonderlich sinnvoll, diese Projekte aufzuzählen. Jedes Ressort hat einige erarbeitet. Das Verkehrsministerium wird von Verbindungen sprechen, bei denen wir die eklatantesten Defizite haben, um nur die fehlende Elektrifizierung von Eisenbahnstrecken zu nennen.
Die Minister sprachen in Warschau eben gerade über die Modernisierung und vollständige Elektrifizierung der Eisenbahnverbindung zwischen Stettin und Berlin, über den Ausbau der Verbindung Berlin-Kostrzyn an der Oder sowie die Ausweisung einer Linienführung für einen Hochgeschwindigkeitszug zwischen Posen und Berlin. Ich hoffe, die Konsultationen werden Anregungen für neue Projekte liefern. Andere Ressorts befassten sich mit einem Wasserstoffkorridor zu den baltischen Ländern, also mit Konnektivität, mit der weiteren Anbindung von Regionen in den Bereichen Energie, Verkehrs‑ und Dateninfrastruktur.
Das ließe sich um vieles ergänzen. Jedes Ressort hat dabei seine eigenen Ideen, aber sicher würden wir alle gern weniger davon sprechen und mehr an Umsetzung und Beschleunigung sehen. Und ich hoffe, das wird auch so sein.
Zum Schluss möchte ich noch fragen, ob die deutsch-polnischen Beziehungen nach acht Jahren des Darbens wieder zum alten Zustand zurückkehren werden? Oder werden sie ein anderes Niveau, eine andere Ebene, eine andere Qualität und Herangehensweise erreichen?
Wir kehren doch niemals einfach dorthin zurück, wie es einmal war, weil sich die Welt ständig weiterentwickelt. Das jetzige, stärker östliche Europa wird zu einer Schicksalsgemeinschaft. Heute sind wir mit neuen Gefahren und Herausforderungen konfrontiert. Daher gibt es keine einfache Rückkehr zu dem, was einmal war.
Aber ich würde mir doch ein Verhältnis wünschen, bei dem die deutsche Seite das, was in Polen vor sich geht, als wichtig für sich selbst wahrnimmt, mehr als das in der Vergangenheit der Fall war. Die Veränderung, von der ich ständig spreche, beruht großteils darauf, dass westliche Expertise allein heute nicht mehr ausreicht. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat gezeigt, dass auch die östliche Expertise wichtig ist, und es ist wichtig, dass der Westen sie in seinem politischen Alltagsgeschäft berücksichtigt.
Der Westen hat schließlich doch anerkennen müssen, dass sich Polen damit auskennt.
Der Westen hat sich von der Vorstellung verabschieden müssen, unfehlbar zu sein. Aber Polen sollte auch nicht dauernd wiederholen, wie sehr es doch Recht gehabt habe. Das reicht nicht. Wir lernen doch alle ständig dazu, wir alle müssen unser Wissen an eine sich ändernde Realität anpassen. Ich möchte jedenfalls, dass unsere Sicht auf die Ereignisse in Europa von unseren Partnern stärker berücksichtigt wird.
Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann
Das Gespräch fand am 5. Juli 2024 auf dem Schloss Scharfeneck (zamek Sarny) in Ścinawka Górna/Obersteine im Glatzer Land am Rande von Olga Tokarczuks Festival „Gipfel der Literatur“ statt.
Ökonom, Soziologe und Diplomat, seit diesem Jahr Unterstaatssekretär im polnischen Außenministerium. 2016 bis 2021 leitete er die Vertretung der Europäischen Kommission in Polen. In den Jahren 2001 bis 2016 war er Botschafter Polens in Schweden, Deutschland und bei der Europäischen Union.
Aureliusz M. Pędziwol, Journalist, arbeitet mit der polnischen Redaktion der Deutschen Welle zusammen. Er war 20 Jahre lang Korrespondent des Wiener WirtschaftsBlattes und für zahlreiche andere Medien tätig, darunter für die polnischen Redaktionen des BBC und RFI.