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Die Barbaren aus Polen. Wie der Westen die Mär von der polnischen Rückständigkeit erfand

Polen ist wie Norwich City oder Bruk-Bet Termalica Nieciecza – zwei Fußballklubs, die seit langem zwischen der ersten und der zweiten Liga hin‑ und herwandern. Oft sind sie zu stark für die Gegner in der niedrigeren Spielklasse, dann aber doch wieder nicht gut genug, um mit den Besten mithalten zu können. Sie sind ein bisschen wie der polnische Staat. Der ist zu groß, um sich in der europäischen Politik bescheiden mit der zweiten Reihe zu begnügen, dann aber doch wieder zu schwach, um am Haupttisch die Karten zu verteilen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Polen sich nicht recht mit einem Status der Peripherie in der imaginären Geographie Europas zufriedengeben wollen. Die „dreifache Erfindung“ Polens als Land in Osteuropa folgt ihm wie ein Fluch.

 

Womöglich besteht die geheime Kunst der Politik darin, ein gutes Garn spinnen zu können, ein Narrativ zu entwickeln? Nicht allein eines, das aus den Säulen des Bruttoinlandprodukts, der Höhe des Exports, dem Platz in der globalen Wertschöpfung, der Last historischer Erfolge und Triumphe oder auch nur aus dem geopolitischen Potential des eigenen Staats besteht. Denn das alles liefert nur einzelne Fäden, um daraus eine unwiederholbare nationale Erzählung weben zu können. Es bringt die Vorstellungskraft in Schwung, motiviert, Phantasie und Wirklichkeit miteinander zu verbinden und unverwechselbare Narrative über sich selbst zu ersinnen.

So entsteht eine imaginäre Geographie, das Studienfeld, auf dem sich Philosophen und Kartographen, Politiker und Literaten, Historiker und Essayisten in ihren Bemühungen begegnen. Ein Studienfeld, das zwischen Erdachtem, Ehrgeiz, Empirie und Manipulation oszilliert, wobei die Fakten Begründungen oder auch Alibis für unsere nationalen Begehrlichkeiten liefern.

Die imaginäre Geographie gestattet noch ein Weiteres, womöglich noch Wichtigeres, nämlich, ein Narrativ über andere zu spinnen und ihnen dabei ihre eigene Stimme zu versagen. Mit solchen erdachten Geschichten können wir andere in den Käfig unserer eigenen Hirngespinste, Erwartungen und politischen Interessen sperren.

 

Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Zivilisierteste im ganzen Land?

Im 18. Jahrhundert ereignete sich die Große Umpolung Europas. An die Stelle der vorherigen Aufteilung des Kontinents in einen protestantischen Norden und einen katholischen Süden trat die horizontale West-Ost-Achse. Ab sofort war das kennzeichnende Kriterium für die imaginäre Landkarte Europas nicht länger die Religion, sondern die Zivilisation, ein Begriff, der Kultur und Sozialleben der Nationen miteinander verband. So entstand die neue Kartographie unseres Kontinents in den Schreibstuben des aufgeklärten Westens.

In diesem frisch ausgedachten Narrativ bestanden die westlichen Länder des zivilisatorischen Zentrums neben denen des peripheren Ostens. Die Entwickelten und die Rückständigen, die Modernisierer und jene, die der soziokulturellen Modernisierung erst noch harrten. Auf der einen Seite befanden sich Großbritannien, Frankreich, die Niederlande und Preußen, auf der anderen die nach und nach ihre politische Bedeutung einbüßende polnische Adelsrepublik sowie das ständig an Macht gewinnende imperiale Russland.

Die zentrale Dichotomie der neuen Achse fand sich in der Einteilung in Zivilisation und Barbarei. Larry Wolff, der New Yorker Historiker und beflissene Chronist der Großen Umpolung Europas, verweist in seiner monumentalen Studie „Inventing Eastern Europe“1 auf die Symbolhaftigkeit des Moments, in dem Samuel Johnson (1709–1784), der Pionier der Lexikographie, seinem berühmten „Wörterbuch der englischen Sprache“ (1755)2 das Lemma civilisation hinzufügte.

Wolff berichtet von einem Ratschlag, den der schottische Jurist und Literat James Boswell (1740–1795) Samuel Johnson erteilte: „Er wollte civilisation nicht zulassen, nur civility [Höflichkeit]. Bei all meiner großen Wertschätzung für ihn vertrat ich die Auffassung, civilisation, abgeleitet von to civilise [zivilisieren], sei besser als Gegensatz zu barbarism [Barbarei].“ Sprache, Logos und Diskurs sollen sich die Realität außerhalb ihrer selbst gefügig machen und ihr Form verleihen. Gleichsam wie die Macht der Sprache (puissance de langage) aus Michel Foucaults (1926–1984) Schriften, die durch die Benennung der Dinge dem Sprechenden erlaubt, direkte Kontrolle über sie zu gewinnen. Wer Namen vergibt, übt Macht aus.

Die Erfinder Osteuropas schufen für seine Einwohner eine wahrhaft antike Genealogie zur Begründung ihrer barbarischen Natur. Wolff führt ein gleichermaßen symptomatisches wie symbolhaftes Zitat aus dem Tagebuch eines reisenden Aristokraten aus dem Westen an: „Eine arme, unfreie Bevölkerung; schmutzige Dörfer; Katen, die sich kaum von den Hütten der wilden Völker unterscheiden; alles das erzeugt das Gefühl, als seien wir zehn Jahrhunderte zurückgefallen, als befänden wir uns unter Skythen, Venetern, Slawen und Sarmaten.“

Wolff charakterisiert die Besonderheiten solcher Reiseeindrücke: „Offenbar erlebte Ségur seine Reise als etwas, das weit über die Fahrt von einem Königreich ins nächste hinausging. Er ließ eine perfekte Zivilisation hinter sich, verließ Europa ganz und gar, absolviert gar eine Reise durch die Zeit und begab sich aus dem 18. Jahrhundert hinaus. […] Wohin reiste er? In seiner Einschätzung nicht nach Europa, aber auch nicht nach Asien, in den Orient. Er reiste in einen geographischen Zwischenraum ohne bestimmte Verortung in Zeit und Geschichte.“

Ségur erlebte also etwas in der Art der Helden aus der populären deutschen Fernsehserie „Dark“. Ausgestoßen aus der stabilen Ordnung von Zeit und Raum, gerät er in einen zivilisatorischen Schwebezustand, in ein eigentümliches Niemandsland, also in ein fließendes, formbares, für eine Umformung von außen empfängliches Gebiet, das seiner barbarischen Formlosigkeit entwunden werden kann.

Bei diesem ambitiösen Modernisierungsunternehmen fand der aufgeklärte Westen einen geopolitischen Partner in Gestalt des imperialen Russlands. Der Staat der Kaiserin Katharina II. war ein integraler Bestandteil des neu erfundenen Ostens, existierte aber zu Sonderkonditionen. Er erfüllte darin die Funktion des Großen Zivilisators der Völker.

Für Voltaire (1694–1778) und seine intellektuelle Koterie waren die russländischen Gebiete gleichsam die literarische Fortspinnung von Tommaso Campanellos (1568–1639) „Sonnenstaat“3 oder Thomas Morus’ (1478–1535) Insel „Utopia“4. Einerseits bezauberte Russland durch seine exotische Wildheit, andererseits war es ein zivilisatorischer Vorposten des Westens im barbarischen Osten. Es erlaubte, aufklärerische Ambitionen mit utopischer Modernisierungsfantasie zu verbinden, wie sie in den bequemen Schreibzimmern der Aristokratie ersonnen wurden.

Es ist an der Zeit, vom Doppelcharakter der Erfindung Osteuropas zu sprechen. Dabei lieferte das westliche Zentrum die theoretische und philosophische Begründung für die Modernisierungsanstrengungen, es schuf eine zivilisatorische Software in Gestalt einer imaginären Geographie. Das Russländische Reich dagegen war bei dieser geopolitischen Partnerschaft für die Hardware verantwortlich, mit anderen Worten für staatliche Macht und militärische Dominanz.

Auf diese Weise wurde das Russländische Reich, vor einem Augenblick noch das Moskauer Großfürstentum, allmählich Europa angenähert und legitimiert mittels seiner modernisierenden und imperialen Aufgaben gegenüber dem barbarischen Osten. Der Westen konnte sich im Wohlgefühl seiner vermeintlichen zivilisatorischen Überlegenheit wähnen und sich bei der Konstruktion Osteuropas in diesem eitlen Gefühl bespiegeln.

Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Zivilisierteste im ganzen Land? Wer im östlichen Teil des Kontinents lebte, wurde unfreiwillig zum Helden der Mär von den aufgeklärten Herren und den orientalischen Barbaren. Die Eliten des Westens erfanden diese Geschichte für ihren eigenen Bedarf.

 

Polen als Grünzeug Europas

Und wo bleibt bei dem allen die polnische Adelsrepublik, die Rzeczpospolita? In seinem „Inventing Eastern Europe“ verzeichnet Larry Wolff den Versuch einer symbolischen Gegenoffensive in Sachen imaginärer Geographie, der von dem letzten polnischen König Stanislaus II. August (1732–1798, reg. 1764–1794) unternommen wurde.

In derselben Zeit, in der westliche Philosophen und intellektuelle Aristokraten auf Kavalierstour die neue Teilungsachse Europas zeichneten, ließ Stanisław August Poniatowski aus demselben Westen Kartographen nach Polen kommen, um unser Vaterland seinerseits auf Karten zu übertragen. Leider war diese Aufgabe so zeitraubend und mühselig, dass sie nie zu Ende gebracht werden konnte. Das ehrgeizige Unternehmen infolge der Teilungen abgebrochen.

Die Teilungen ergaben sich in der neuen imaginären Ordnung Europas mit ihrer West-Ost-Achse ganz selbstverständlich aus einem vorherbestimmten Schicksal. So musste es einfach kommen, denn die Erste Rzeczpospolita verlangte buchstäblich danach, zwischen den historisch reifen Modernisierern und Zivilisatoren parzelliert zu werden.

Wolff kommentiert die Teilungen so: „Die Begriffe der Unreife und Unvollkommenheit stellten noch mehr die schwächere Entwicklung Osteuropas im Verhältnis zum Westen heraus. [Der französische Enzyklopädist Louis de] Jaucourt [1704–1780] überließ Ungarn Maria Theresa, und seinen Artikel über Polen beendete er mit einem Appell an den ,großen König‘ [gemeint ist Friedrich II. von Preußen; A.d.Ü.].“

Wolff führt die Meinung Gabriel François Coyers (1707–1782), eines weiteren französischen Literaten und Biographen des polnischen König Johannes III. Sobieski, dazu an, welche Art von König Polen brauche, nämlich einen, „der um sich herum fruchtbare Erde, schöne Flüsse, die Ostsee und das Schwarze Meer erblickt hat und seinem Königreich Schiffe, Manufakturen, Handel, Finanzen und Menschen geben wird“, jemanden, der die Erbuntertänigkeit abschafft und so Polen „gute Beispiele, Industrie, Expertise, Wissenschaften, Ehre und Wohlstand“ bringen könne. „Mit der geographischen Lage Polens im Blick, würde ein solcher König ein Entwicklungsprojekt unternehmen, welches die Fakten der Geographie und die Artefakte der Zivilisation umgestalten würde.“

Selbstverständlich fand sich bald ein solcher in Gestalt des Preußenherrschers Friedrichs II., Autors einiger poetisch beflügelter Verse über Polen. Darin finden wir eine Anrufung der Göttin der Dummheit. Hier ein Ausschnitt:

 

Avec plaisir elle vit la Pologne                                  Sich ihrem vergnügten Blicke bot
La même encor qu’à la création,                               Polen, noch ganz wie zur Schöpfung,
Brute, stupide et sans instruction,                              Roh, stupid und ohne Bildung,
Staroste, juif, serf, palatin ivrogne,                           Starost, Jud’, Bau’r, trunkner Woiwod,
Tous végétaux qui vivaient sans vergogne.               Grünzeug alles, das lebte ohn’ Gewissensnot.5

 

Ein Stück weiter im Text zitiert Wolff Voltaire, eine Stelle, an der sich zeigt, wie Dichtung, Phantasie und Vorstellungskraft mit der wahrnehmbaren politischen Realität in Verbindung treten und was passiert, wenn politische Macht und militärische Schlagkraft der literarischen Kunst auf den Fuß folgen: „[…] was Sie [Friedrich II. von Preußen] in Wirklichkeit tun, gleicht vollkommen Ihrem Gedicht über die Konföderierten [Bezug auf die Konföderation von Bar 1768, eine Adelsrevolte, die sich gegen die Reformbemühungen des polnischen Königs Stanislaus II. August und dessen Konzessionen an Russland richtete; A.d.Ü.]. Es ist angenehm, eine Nation zu vernichten und über sie zu singen.“

Es ist häufig davon die Rede, welch fataler Umstand es für unsere Staatlichkeit war, die Unabhängigkeit gerade in der Zeit verloren zu haben, als ganz Europa die industrielle Revolution und die damit einhergehenden politischen, sozialen und kulturellen Umwälzungen durchmachte. Ebenso fatal war es für unser Land, von der politischen Karte gelöscht zu sein, als die Große Umpolung erfolgte. Larry Wolffs titelgebende Erfindung Osteuropas bedeutete nämlich eine doppelte Unsichtbarkeit, also ein zweifaches Verschwinden Polens.

Zum ersten, als Land wurden wir Teil einer neuen, imaginären Region, eben Osteuropas. Zum zweiten, selbst innerhalb dieses geographisch-intellektuellen Konstrukts erfüllten wir eine untergeordnete Funktion im Verhältnis zu dem damals im Entstehen begriffenen Russländischen Reich. Das bedeutet, dass die Rzeczpospolita 1795 bereits in dreifacher Weise verschwand, sie verlor ihre ideelle Souveränität, ihre politische Unabhängigkeit und ihr geographisches Territorium.

 

Wenn die imaginäre Geographie mit dem Blut von Millionen getränkt ist

„Wo Hitler und Stalin das Ihre taten“ – erinnern Sie sich noch an diese Zeile aus dem Kultlied „Warszawa“ (Warschau) der [polnischen Rockgruppe] T.Love? Diese paar Worte fassen nicht nur knapp das Schicksal der Stadt Warschau zusammen, nicht nur Polens insgesamt, sondern der gesamten Region Osteuropa, wie sie vor mehr als zweihundert Jahren von westlichen Intellektuellen ausgedacht worden war.

Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs erfolgte nämlich die zweite Erfindung Polens als Teil Osteuropas. Wenn Larry Wolff mit seinem „Inventing Eastern Europe“ uns einen Überblick über die erste dieser Erfindungen machte, ist der Chronist der zweiten Erfindung Timothy Snyder mit seinem nicht minder monumentalen Werk „Bloodlands“6.

„,Jetzt werden wir leben!‘ Das sagte der hungrige Junge, als er den einsamen Straßenrand entlang wanderte und durch die abgeernteten Felder. Doch die Nahrung, die er sah, gab es nur in seiner Phantasie. Aller Weizen war weggebracht worden, als Teil eines kaltherzigen Requirierungsprogramms, mit dem das Zeitalter des europäischen Massenmords begann. Man schrieb das Jahr 1933, und Josef Stalin hungerte bewusst die ukrainische [sic!] Sowjetrepublik aus. Der Junge starb und mit ihm über drei Millionen andere Menschen.“ So beginnen Snyders „Bloodlands“.

Dieses Zitat geht ausgezeichnet mit der vorher angeführten Songzeile von T.Love zusammen, doch vor allem lässt es zwei Arten von Phantasievorstellungen miteinander in Verbindung treten. Die exotischen Phantasmata der Philosophen der Aufklärung, Osteuropa eine zivilisierte Existenzform zu geben, mit dem Trugbild, das dem namenlosen jungen Mann in seiner Phantasie vorschwebt. Jene an anderem Ort und zu einer anderen Zeit erdachte Geographie ließ dieses Bild im Geiste des jungen Mannes aufkommen, eines Todesopfers der West-Ost-Achse.

Sollten unsere Anschuldigungen etwa über das Ziel hinausschießen? Erkennen wir Zygmunt Bauman (1925–2017) und sein Buch „Modernity and the Holocaust“7 als autoritativ an, kann davon keine Rede sein. Der polnische Philosoph argumentiert in diesem Buch, die Konzentrationslager und die Shoah seien die logische Folge der philosophischen Behauptungen, welche die Epoche der Moderne begründeten.

Die imperialistische und völkermörderische Politik Nazideutschlands bildeten den Tiefpunkt eines langen Prozesses, der während der Aufklärung begonnen und anschließend in den Gestalten des Großen Rationalisierers, des Großen Planers und des Großen Modernisierers fortgesetzt worden war. Der Geist Voltaires, der Geist der Erfindung Osteuropas, der zivilisatorische Modernisierungseifer der westlichen Intellektuellen des 18. Jahrhunderts, das war dieselbe Art von Energie, die den deutschen Imperialismus im Zweiten Weltkrieg antrieb.

Zitieren wir ein weiteres Mal Larry Wolff: „Eine arme, unfreie Bevölkerung; schmutzige Dörfer; Katen, die sich kaum von den Hütten der wilden Völker unterscheiden; alles das erzeugt das Gefühl, als seien wir zehn Jahrhunderte zurückgefallen, als befänden wir uns unter Skythen, Venetern, Slawen und Sarmaten.“

Eben jene Slawen sollten der Logik der wirtschaftlichen Erschließung von „Lebensraum“ nach von den ungemein kultivierten Erben Goethes und Wagners zivilisiert und unterworfen werden. So wie diese im 19. Jahrhundert Afrika kolonisiert hatten, so begehrten sie nunmehr, die Länder der Ersten Rzeczpospolita seligen Angedenkens zu übernehmen. Die Ereignisse spielten sich immer noch auf derselben imaginären Landkarte Osteuropas ab.

Im Vorwort zu „Bloodlands“ weist Snyder noch auf einen anderen, ganz wichtigen Punkt hin: „Deutsche Juden wurden in die Großstädte der Bloodlands deportiert, nach Łódź, Kaunas (Kowno), Minsk oder Warschau, bevor man sie erschoss oder vergaste. Die Menschen, die in dem Häuserblock wohnten, wo ich gerade schreibe, im 9. Bezirk von Wien, wurden nach Auschwitz, Sobibór, Treblinka und Riga verfrachtet, alles Orte auf der Blutigen Erde. – Der deutsche Massenmord an den Juden fand im besetzten Polen, Litauen, Lettland und der Sowjetunion statt, nicht in Deutschland.“

Dieses Zitat veranschaulicht die fundamentale Logik des aufgeklärten Westens, den Export von Gewalt nach außerhalb des zivilisierten Zentrums. Ähnlich wie vor dem Ersten Weltkrieg, als Gewalt und Tod in die Kolonialgebiete Afrikas exportiert wurden, machte man im Zweiten Weltkrieg die osteuropäischen Bloodlands zum Raum eines völkermörderischen Outsourcings.

An die Stelle der Hütten und Katen der wilden Völkerschaften auf der imaginären Landkarte Osteuropas des 18. Jahrhunderts traten Mitte des. 20. Jahrhunderts die Konzentrationslager und Stätten der Massenverbrechen an den Nachfahren der barbarischen Skythen. Das genozidale Gemetzel im Warschauer Stadtteil Wola während des Warschauer Aufstands von 1944 war nur ein weiteres Glied in der metapolitischen Kette, die einhundertfünzig Jahre zuvor beim Gemetzel von Praga durch die Moskowiter begonnen worden war [bei der Einnahme Warschaus während der Niederschlagung der Kościuszko-Insurrektion 1794; A.d.Ü.]. Das Polen des Ostens wurde gleichsam außerhalb von Zeit und Raum gefangengesetzt, es befand sich fortan in der Falle eines zivilisatorischen Schwebezustands, eines halbbarbarischen Niemandslandes, das auf seine Pseudomodernisierer aus den Lesefibeln der Aufklärer wartete.

 

Das alles wegen der verfluchten Grenze an der Elbe

Die Große Umpolung Europas ging einem weiteren wichtigen Vorgang voran, auf den Larry Wolff hinweist. Er führt aus, dass sich in der Epoche von der Renaissance bis zur Aufklärung die europäischen Kultur‑ und Finanzzentren von den Tresoren und Schatzkammern Roms, Florenz’ und Venedigs in die sich nunmehr rascher entwickelnden Städte wie Paris, London und Amsterdam verlagerten. In wirtschaftlicher Hinsicht begann sich die West-Ost-Achse des 18. Jahrhunderts bereits seit dem 16. Jahrhundert abzuzeichnen.

Die dritte Erfindung Osteuropas fand in der Wirtschaft statt. So wie die erste Erfindung zu Zeiten der Anfänge der aufklärerischen Moderne durch die Philosophie getragen wurde, die zweite durch die Politik und das Militär, war die dritte eine Erfindung, die in den Arbeitszimmern von Gelehrten gemacht wurde.

Dafür war insbesondere die Geschichte, konkreter die Wirtschaftsgeschichte verantwortlich. Als Führerin zur letzten Erfindung Osteuropas soll uns Anna Sosnowska dienen, Autorin der Monographie „Rückständigkeit verstehen. Der Historikerstreit über Osteuropa“8. Sie stellt fest, dass die Unterteilung in einen Osten und einen Westen Europas sich zwar vorwiegend auf wirtschaftshistorische Daten stütze und sich auf den Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit beziehe, aber auffälliger Weise genau längs der kontinentalen Trennungslinie verlaufe, die bei der Konferenz von Jalta [im Februar 1945] festgelegt wurde.

Der Betrachtungsraum, so Sosnowska mit einem Zitat des polnischen Historikers Marian Małowist (1909–1988), „,erstreckt sich von der Ostsee bis zu Adria und Schwarzem Meer und erfasst einen Großteil der Balkanhalbinsel. Im Westen erreicht er Deutschlands Grenzen, im Osten überschreitet er den Ural.‘“ So umreißt Małowist, für Sosnowska eine der Hauptfiguren ihres Buches, sein Untersuchungsgebiet. Nach wie vor treten wir auf unserer imaginären Landkarte auf derselben Stelle.

Und von hier bewegen wir uns auch nicht weg, und zwar ohne Rücksicht auf den Historiker, dessen Ansichten Sosnowska in ihrem Buch bespricht. Die jeweilige Terminologie, mal „Osteuropa“, mal „Ostmitteleuropa“, macht da keinen Unterschied, wir verbleiben immer noch im selben Gebiet. Ebenso wenig ist es von Bedeutung, ob wir gerade von einem ausländischen oder einem polnischen Autor sprechen, denn der gemeinsame Nenner ist doch bei allen derselbe.

Für den bekannten US-amerikanischen Wirtschaftshistoriker Immanuel Wallerstein (1930–2019) fungierte Osteuropa als eine der beiden ältesten Peripherien des kapitalistischen Weltsystems. Sosnowska dazu: „Wallersteins Grundthese ist […] die folgende: Der Kapitalismus entstand in Nordosteuropa im Laufe des 16. Jahrhunderts, entwickelte sich durch die koloniale oder quasi-koloniale Ausbeutung von immer neuen Territorien und wurde schließlich im 19. Jahrhundert zu einem wahrhaft globalen System.“ Der französische Historiker Fernand Braudel (1902–1985) war etwas vorsichtiger mit seiner Diagnose, sein Bild von Osteuropa nuancierter, aber auch er beschrieb die Region des östlichen Europa als einen vom Kapitalismus „penetrierten“ Raum.

Am weitesten legte sich der britische Historiker Perry Anderson (geb. 1938) aus dem Fenster. Seiner Auffassung nach war es Osteuropa bestimmt, wirtschaftlich zweitrangig zu sein und eine untergeordnete Stellung einzunehmen. Anderson ging in der Geschichte weiter zurück, um nach den Ursachen für diese periphere Lage zu suchen, im Anschluss an Braudels Konzept von der longue durée verfolgte er sie zurück bis auf die römische Epoche und die Unterteilungen des europäischen Kontinents im Anschluss an den Fall des Imperium Romanum. Demnach sei Osteuropa schlicht die barbarische Slawenheit, die nicht von den modernisierenden Einflüssen des antiken Rom profitierte.

Marian Małowist verortet die strukturellen Ursachen der sozioökonomischen Aufteilung Europas in West und Ost um das 15. Jahrhundert herum. Auf den Spuren von Małowist beschreibt Sosnowska diese Ursachen als ein Modell kolonialer Entwicklung: die „Ansichten Małowists fügen sich zu einem scharfsinnigen Modell kolonialer Entwicklung der osteuropäischen Gesellschaften als einer Wirtschaftskolonie des Westens zusammen. – Dieses Modell bringt Aufkommen und Entwicklung der Refeudalisierung im Osten Europas mit den intensiven Handelskontakten zu dem wirtschaftlich fortgeschritteneren Westen in Verbindung. Es verweist auf den sich negativ auf diese Entwicklung auswirkenden strukturellen Einfluss der Erbuntertänigkeit und Leibeigenschaft sowie den regressiven Charakter der Gutswirtschaft und anderer Wirtschaftsformen bereits seit dem 16. Jahrhundert.“

Mit diesem Modell steht die Sichtweise des polnischen Historikers Jerzy Topolski (1928–1998) in Zusammenhang. Bei ihm steht gleichfalls die Frage der Refeudalisierung, anders formuliert der zweiten Erbuntertänigkeit der Bauern im Mittelpunkt. Wesentlich daran ist, dass Topolski einige in der heutigen Debatte bekanntere Argumente zum Wirtschaftsdualismus zwischen West‑ und Osteuropa anführt.

Dazu gehört in erster Linie die notorische „Elblinie“, welche die Grenze zwischen den zwei Wirtschaftsbereichen Europa definiert, von denen der Osten vor allem Lebensmittel und Rohstoffe liefert, während der Westen letztere zu Produkten höherer Qualität verarbeitet. Und damit wären wir bei der aktuellen Diskussion angelangt, die Polen als „Montagewerk Europas“ sieht und ihm einen spezifischen Platz in der globalen Wertschöpfungskette zuweist.

 

Die Uhren zeigen im Westen eine andere historische Stunde

Existiert eine Geheimgeschichte der Europäischen Union? Als Probestück zu einem solchen verschwörungstheoretischen Werk mag uns das Buch „Große Illusion Europa“ des bekannten britisch-amerikanischen Historikers Tony Judt (1948–2010) dienen.9 Dieses 1996 veröffentlichte Büchlein, als gerade die Länder des vormaligen Ostblocks dabei waren, sich der europäischen Staatengemeinschaft anzuschließen, stellt die Zukunft der EU ein wenig in Frage. Judt verweist auf die strukturellen Unterschiede zwischen West und Ost, hinterfragt die simple Logik der „Rückkehr nach Europa“ der vormaligen Warschauer Pakt-Länder und stellte die Ungleichheit im politischen Status zwischen beiden Hälften des Kontinents heraus.

Judt fragt, wo sich eigentlich die europäischen Hauptstädte befänden, in den die wichtigsten Institutionen des Kontinents zuhause sind. Dazu nannte er: Die Europäische Kommission befindet sich in Brüssel, das Europäische Parlament tagt in Straßburg und Luxemburg, der Gerichtshof der Europäischen Union residiert ebenfalls in Luxemburg, das berühmte Abkommen von 1992 wurde unweit davon in Maastricht unterzeichnet.

Der wichtigste Schluss aus diesem Katalog der Institutionen ist: „Das Herz (und manche mögen hinzufügen, die Seele) der heutigen Europäischen Union deckt sich also fast bis auf den Kilometer mit dem ersten westeuropäischen Reich. […] Daran gibt es nichts auszusetzen; im Gegenteil, der Gedanke, daß Karl der Große und seine Erben sich in der Europäischen Union zu Hause gefühlt hätten, ist durchaus beruhigend. Doch die instinktive, atavistische (und politisch wohlbedachte) Plazierung der modernen Hauptstädte ,Europas‘ sollte uns zu Vorsicht und Einsicht mahnen. Nicht alle Wahrheiten, die über die über das heutige ,Europa‘ verbreitet werden, sind neu; und was als ,neu‘ hingestellt wird, muß deshalb nicht unbedingt wahr sein.“

Judts Überlegungen erinnern an die Schlussfolgerungen des bereits zitierten Perry Anderson. Dieser spricht in deterministischer Weise vom Schicksal der strukturellen Rückständigkeit Osteuropas, das auf die „lange Dauer“ des römischen Erbes zurückzuführen sei. Judt dagegen schreibt von den alten Wurzeln der EU, die bis zum karolingischen Reich zurückreichen würden, dem Erben des Römischen Kaiserreiches. So könnten die Anfänge eines weiteren Werkes aussehen: „Die Erfindungen Westeuropas“.

Die zwölf Jahrhunderte der metapolitischen Geschichte der Europäischen Union führen uns zur nächsten Frage über die chronistischen Messverfahren. Wie alt ist Polen? Aus polnischer Sicht ist die Antwort offenkundig und nicht kontrovers: Unser Vaterland erblickte das Licht der Welt mit der Taufe Mieszkos [Miszko I. 945–992, ab ca. 960 Herzog in heute polnischen Gebieten, etwa in derselben Zeit auch die Taufe; A.d.Ü.] und seines Gefolges. Allein, Historiker aus dem Westen sind nicht unbedingt derselben Meinung.

Der US-amerikanische Historiker Brian Porter-Szűcs, Autor von „Poland in the Modern World. Beyond Martyrdom“10, führt zunächst einmal Fakten an, die unsere polnischen Herzelein doch nur erwärmen können. Hier ein Beispiel: „In praktisch jedem seriösen englischsprachigen Handbuch zur europäischen Geschichte für den Universitätsgebrauch (und auch in einer ganzen Reihe von Schulgeschichtsbüchern) werden die Teilungen Polens behandelt.“

Doch das Lächeln mag uns vielleicht ein wenig vergehen, wenn wir Porter-Szűcs’ weitere Erläuterungen lesen. Denn ihm geht es keineswegs darum, die historische Ungerechtigkeit der uns genommenen Unabhängigkeit zu betrauern, sondern darum, dass die Rzeczpospolita ausgerechnet in dem Augenblick von der Landkarte verschwand, als die Begriffe Nation und Volk geschichtsmächtig wurden.

Nach Auffassung von Porter-Szűcs ist die polnische Konstitution des 3. Mai 1791 ein Gründungsdokument des gerade im Entstehen begriffenen (und kurz darauf endgültig zu Grabe getragenen) polnischen Nationalstaats. Aus all dem zieht er den alles entscheidenden Schluss: Für die Menschen im Westen entstand Polen als Nationalstaat erst im Jahr 1918.

Verbinden wir die Sichtweisen von Judt und Porter-Szűcs, werden wir einer paradoxen Falle gewahr, in der sich das dreifach erfundene Polen befand. Einerseits ist seine Entstehung aus westlicher Sicht eher in der Moderne angesiedelt. Polen ähnelt also eher einem jüngeren Cousin als einem volljährigen Erwachsenen.

Andererseits leitet Westeuropa als Zentrum der Europäischen Union seine Wurzeln bis auf die Zeiten der Herrschaft Karls des Großen zurück. Polen existiert also gewissermaßen in einer gegenläufigen Zeitordnung. Die metapolitischen Uhren unseres Staates und des europäischen Westens ticken nicht synchron und zeigen durchaus verschiedene Stunden an.

 

Übung des Vorstellungsvermögens zur Nichtexistenz des polnischen Staates

Es ist riskant und gefährlich, sich leichterdings einzureden, die Wiedergewinnung der Unabhängigkeit 1918 wie auch die Entstehung der Dritten Rzeczpospolita mehr als siebzig Jahre später seien Selbstverständlichkeiten gewesen. Schließlich hatten wir doch Freiheit und Unabhängigkeit infolge einer historischen Ungerechtigkeit verloren. Unsere „Rückkehr nach Europa“ war eine Rückkehr zur Normalität, zum geopolitischen business as usual. Hier gibt es nichts herumzureden, die Arbeit ist beendet, Feierabend jetzt, Zeit, sich zurückzulehnen.

Befassen wir uns mit dem polnischen Fluch der „dreifachen Erfindung“ Polens als europäischen Osten, dann sollten wir uns auf ein derart kurzschlüssiges Denken gar nicht erst einlassen. Wir müssen unsere politische Vorstellungskraft wachrütteln, wir müssen jede Selbstzufriedenheit hinter uns lassen.

Aus westlicher Sicht sind wir gleichzeitig Teil des Westens, und wir sind es nicht. Innerhalb der imaginären Geographie und des Konstruktes Osteuropa fungieren wir weiterhin als „Gemeinschaft von zweifelhafter Europäizität“, wie Anna Sosnowska treffend gesagt hat.

Die letzten dreißig Jahre waren kein Ende der polnisch-europäischen Geschichte, vielmehr ein neuer Beginn. In der Zweiten Rzeczpospolita (1918–1939) beschrieb der Jurist und Publizist Adolf Bocheński (1909–1944) Polen als revisionistisches Land. Es lag in unserem nationalen Interesse, den geopolitischen Status quo in Europa in Frage zu stellen. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Wir müssen immer noch um unseren Platz in Europa ringen und raufen.

Es ist unsere Berufung, ein revisionistisches Land zu sein, das die Überlieferung von der „dreifachen Erfindung“ Polens als Osten Europas überwindet; den imaginären Status Polens als kulturelle Barbaren, als wirtschaftliche Peripherie und als „Vorzimmer Europas“, in dem die Großmächte ihren militärischen und imperialen Rankünen freien Lauf lassen können. Der Kampf gegen narrative und politische Mythen ist keineswegs beendet.

 

Der Text wurde zuerst in polnischer Sprache in der online frei zugänglichen 62. Themenausgabe „Nieimperialne mocarstwo“ [Eine nichtimperiale Macht] der Debattenzeitschrift „Pressje“ veröffentlicht.

 

 

Aus dem Polnischen und Französischen von Andreas R. Hofmann

1Larry Wolff: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford, CA: Stanford University Press, 1994.

2Samuel Johnson: A Dictionary of the English Language, Bde. 1–2, London: Printed by W. Strahan, 1755.

3Tommaso Campanella: La città del sole, 1602 (Manuskript in florentinischem Italienisch); erste lateinische Ausgabe: Civitas solis. Idea republicae philosophicae, Frankfurt/M. 1623.

4Thomas Morus [More]: De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia, Löwen 1516.

5Aus: La Guerre des confédérés. Poëme, in: Œuvres de Frédéric le Grand, hg. v. Johann D. E. Preuss, Berlin: Deckersche Geheime Ober-Hofbuchdruckerei, 1846–1856, Bd. 14, S. 219; Nachdichtung Andreas R. Hofmann.

6Timothy Snyder: Bloodlands. Europe Between Hitler and Stalin, New York: Basic Books, 2010; dt. Ausgabe: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München: Beck, 2010, 6. erw. Aufl. 2022.

7Zygmunt Bauman: Modernity and the Holocaust, Ithaca, NY: Cornell University Press, 1989; dt. Ausgabe: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg: Europäische Verlags-Anstalt, 1992.

8Anna Sosnowska: Zrozumieć zacofanie. Spór historyków o Europę Wschodnią (1947–1994), Warszawa: TRIO, 2004.

9Tony Judt: La Grande Illusion. An Essay on Europe, New York: Farrar, Straus & Giroux, 1996; dt. Ausgabe: Große Illusion Europa. Herausforderungen und Gefahren einer Idee, München, Wien: Hanser, 1996.

10Brian Porter-Szűcs: Poland in the Modern World. Beyond Martyrdom, New York: Wiley & Sons, 2014.

Piotr Kaszczyszyn

Piotr Kaszczyszyn

Chefredakteur des Meinungsportals der Denkfabrik Jagiellonen-Club, ehemaliger Chefredakteur der Ideenzeitschrift „Pressje“.

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