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Europas tiefe Krise

Außerhalb seiner Grenzen verliert Europa an politischen Einflussmöglichkeiten. Die zwei Jahre des Kriegs in der Ukraine haben diesen Prozess beschleunigt. Vielen europäischen Politikern schwebt eine stärkere Integration vor, doch das wird von den unaufhebbaren Interessengegensätzen der einzelnen Staaten unmöglich gemacht. Europa würde international gern eine größere Rolle spielen, doch die einzelnen Länder sind dazu zu schwach, während stärkere Integration und Koordination eine bloße Wunschvorstellung bleiben. Europa hat keine Konzeption von sich selbst, es ist nicht in der Lage, den Zustand des Marasmus zu überwinden, in dem es sich befindet, und deshalb wird in absehbarer Zukunft seine relative Stärke weiter schwinden.

2019 entwarf die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen einen Plan für eine sogenannte geopolitische Kommission, die international aktiver sein und zumindest in der engeren Nachbarschaft eine wichtige Rolle bei der Konfliktlösung spielen sollte. Westeuropa wollte seine „strategische Unabhängigkeit“ aufbauen, sich schrittweise von den USA unabhängiger machen und eine gemeinsame China-Strategie entwickeln.

Fünf Jahre danach wird deutlich, wie groß der Unterschied zwischen diesen Konzeptionen und der Realität ist. Die Pandemie, der Ukrainekrieg und andere Kriege in der europäischen Nachbarschaft, die unveränderte Abhängigkeit von den USA und das Unvermögen, in den wichtigsten Bereichen eine gemeinsame politische Strategie zu entwickeln, haben gezeigt, dass die europäischen Länder keinen Schritt auf größere Koordination, Integration oder Unabhängigkeit hin getan haben. Sie sind weder politisch noch wirtschaftlich stärker geworden; sie haben auch ihr gemeinsames Potential nicht vergrößert, nämlich die Fähigkeit, auf Dritte Einfluss auszuüben. Die Bedeutung Europas in der Welt sinkt, und es selbst hat nur sehr wenige Ideen, wie dieser negative Trend umzukehren wäre.

Die Hyperaktivität der europäischen Regierungschefs, wie sie in einer Unzahl von Treffen, Konferenzen und Gipfeln zum Ausdruck kommt, könnte einen ganz gegenteiligen Eindruck entstehen lassen, nämlich den von einem handlungsfähigen Kontinent, auf dem sich die Geschicke der Weltpolitik entscheiden und der über die Läufe der Welt bestimmt. Nichts könnte abwegiger sein. Diese Illusion ist schon fast überall durchschaut, immer mehr auch in Europa selbst. Die politische Bedeutung Europas in der Welt schwindet, und das ist eine Tatsache, die von fast jedem ökonomischen, militärischen und politischen Indikator bestätigt wird. Dieser langsame Rückzug Europas hat strukturelle Gründe und ist von den Europäern selbst verschuldet.

Europa in der Welt

In den vergangenen Jahrzehnten erstarkten im Verhältnis zum Westen und Japan asiatische Länder wie China, Indien, Indonesien, die Türkei und Saudi-Arabien. Sie können sich folglich größere Investitionen in ihre Wirtschaft und größere Armeen leisten und sind dadurch zu Entscheidern oder Mitentscheidern in ihren jeweiligen Regionen geworden. Sie sind Länder, denen im internationalen System benötigte Rollen zufallen und die aktuell nachgefragte materielle Güter bereitstellen, wie bestimmte Dienstleistungen und Rohstoffe, oder auch immaterielle Güter wie Soft Power und diplomatische Vermittlung. Weil sich der globale Schwerpunkt schon seit langem nach Asien verschoben hat, üben diese Staaten jetzt einen erheblichen Einfluss auf die Weltpolitik und ‑wirtschaft aus, in vielen Bereichen einen viel größeren als die europäischen Länder.

Zudem haben sich Russlands Einflussmöglichkeiten verändert. Nach dem Niedergang der 1990er Jahre ist es inzwischen wieder erstarkt und folglich entschlossener, seine Interessen durchzusetzen. Im Vergleich zu dem genannten Jahrzehnt hat es mittlerweile ein größeres militärisches Potential. Die zwei Jahre Krieg haben gezeigt, dass es wirtschaftlich nicht isoliert ist und es selbst aus Europa Geldtransfers erreichen. Die russische Wirtschaft ist wesentlich kleiner als diejenige der EU, doch aufgrund der Entschlossenheit des Landes, militärische Gewalt einzusetzen, ist seine Bedeutung an den Peripherien Europas gewachsen.

Aus allen diesen Gründen sollten wir Europa nicht nur im Licht seiner eigenen Errungenschaften sehen, sondern vor allem im breiteren Kontext der globalen Veränderungen. Wie bei jedem anderen Land und jeder anderen Macht, bestimmt sich Europas Stärke auch anhand der Schwäche seiner Umgebung. Da in den letzten Jahrzehnten die relative politische und militärische Stärke der Umgebung gewachsen ist, während Europa stagnierte, ging das relative Gewicht des Kontinents entsprechend zurück. Vor fast einhundert Jahren schrieb der polnische Politiker und Chef von Polens Exilregierung Stanisław Cat-Mackiewicz: „Man muss das politische Gesetz lernen, man muss es sich in den Kopf hämmern, das da lautet: Die Macht des Staates ist ein relativer Begriff, die Macht des Staates bemisst sich an der Stärke oder auch der Schwäche der Nachbarn des Staats. Ein mächtiger Staat ist ein solcher, der schwache Nachbarn hat; ein schwacher Staat ein solcher, der mächtige Nachbarn hat.“ Europa wird schwächer, weil es sich in einer Umgebung immer mächtigerer Nachbarn befindet.

Europa im Schatten der USA

Der beste Beleg dafür ist Europas Lage während des Ukrainekriegs. Nach dessen Ausbruch war die Vision einer europäischen strategischen Autonomie auf längere Zeit begraben, wie sie in unterschiedlichen Formen vor noch nicht langer Zeit von Deutschland und Frankreich propagiert worden war. Der Ukrainekrieg bewirkte, dass der engere Zusammenschluss der Europäischen Union um die Gemeinschaftswährung auf die lange Bank geschoben wurde, während die von Deutschland angestellten zaghaften Versuche zur Änderung des Entscheidungsprozederes in der EU-Außenpolitik heute keine Durchsetzungschancen haben.

Die europäische Politik spielt sich im Schatten der Rivalität zwischen den USA und Russland ab, der Europas Beziehungen mit beiden Mächten untergeordnet sind. Vor dem Krieg wollten die größten westeuropäischen Länder nächst den USA, China und Russland ein weiteres globales Machtzentrum aufbauen. Obwohl sie sich nicht völlig darüber einig waren, wie das zu bewerkstelligen sein sollte, machte erst der Ukrainekrieg unmissverständlich klar, dass sie zu schwach sind, um zu einem Machtzentrum aufzusteigen, das international eine selbständige Rolle spielen könnte.

Die vor dem Krieg von Deutschland, Frankreich und vielen anderen europäischen Ländern vertretene Ansicht, Russland habe einen Platz in der europäischen Ordnung, ist in Konfrontation mit der angelsächsischen Konzeption völlig untergegangen, die für Russland keinen Platz in Europa sah noch sieht. Der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sagte zu Beginn des Kriegs geradeheraus, Ziel des Westens sei die Schwächung Russland bis zu dem Punkt, an dem es nicht mehr in der Lage sei, einen Krieg wie gegen die Ukraine zu führen, und diese Äußerung wurde mehr oder weniger zur offiziellen Politik des gesamten Westens. Alle Versuche, diese Haltung stärker zu differenzieren, wie sie vor allem aus Berlin und Paris kamen, wurden von den US-Amerikanern umgehend abgewehrt. So verhält es sich übrigens bis heute, auch wenn Macron und Scholz inzwischen selbst so formulieren wie damals Austin.

Infolgedessen haben im dritten Kriegsjahr Deutschland und Frankreich selbst als stärkste Länder der Europäischen Union in strategischen Fragen sehr wenig über die Zukunft Europas zu sagen. Sie mussten sich dem Willen der USA fügen und besitzen weder ausreichendes Potential noch Ideen, um einen eigenen Beitrag zu einer europäischen Ordnung zu leisten, von der sie 2019 träumten, als Ursula von der Leyen von den geopolitischen Ambitionen der EU sprach und Emmanuel Macron die Vision einer gemeinsamen europäischen Armee entwarf.

Europa ohne Zukunftskonzeption

Aufgrund der genannten Äußerung Austins ist bekannt, dass Washington Russland so maximal schwächen will, dass dieses zu keiner erneuten Invasion mehr fähig ist. Die Biden-Administration hat jedoch nie dargelegt, was „maximale Schwächung Russlands“ bedeuten soll. Wann wird dieser Zustand erreicht sein? Was, wenn die bisherigen Mittel dazu nicht ausreichen, um dieses Ziel zu erreichen?

Westeuropa übernahm Austins Konzeption, derzufolge Russland geschwächt werden, aber den Krieg auch nicht verlieren soll. Es sieht kein Licht am Ende des Tunnels, keinen Moment, in dem der Krieg beendet werden könnte. Die europäischen Länder haben keine gemeinsame und geschlossene Konzeption, welche Ziele sie in der Ukraine erreichen wollen. Sie verständigen sich über Sanktionen gegen Russland, aber sie einigen sich nicht immer darüber, was sich in den einzelnen Sanktionspaketen befinden soll. Sie verständigen sich darauf, dass die Ukraine Waffen erhalten muss, aber nicht auf welchen Typ von Waffen. Sie verständigen sich darauf, dass die Ukraine Geld braucht, wollen sie aber nicht endgültig mit Mitteln versehen, mit der sie die Lage an der Front ändern könnte. Sie nehmen die Änderungen der Umstände wahr, passen ihre Maßnahmen aber nicht daran an. Sie argumentieren immer seltener mit diplomatischen Lösungen, ergeben sich also widerwillig denjenigen, die auf dem Schlachtfeld gefunden werden. Und selbst wenn sie eigene diplomatische Konzeptionen vorbrächten, ähnlich denen, mit denen in der Vergangenheit die Situation in der Ukraine reguliert wurde, sind sie nach innen und im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten zu schwach, um sie durchzusetzen.

Da es sich der US-Politik unterordnen muss und über keine innovative und langfristige Konzeption zu seiner eigenen Zukunft verfügt, bleibt Europa eine Gruppe uneiniger Länder mit oft gegensätzlichen Interessen. Polen und Frankreich wollen nicht dasselbe. Estland und Irland haben unterschiedliche Erwartungen. Portugal und Spanien werden sich nie für die Probleme der Ukraine in demselben Maße engagieren wie Litauen und Lettland.

Diese unvermeidlichen Gegensätze werden Europa noch lang verzehren. Ein Europa, das die Kontrolle über die Ereignisse verliert und nur abwarten kann, was die anderen großen Akteure tun: Russland, die USA oder China. Wenn Europa in die Zukunft blickt, sieht es Krieg und glaubt nicht mehr an eine Alternative. „Nicht der Mensch herrscht über die Zeiten, sondern die Zeiten herrschen über den Menschen“, schrieb der rumänische Philosoph Emil Cioran, womit er sein Heimatland meinte, das sich widerwillig seiner „Bestimmung“ und Zukunft ergab. Heute ist das die Maxime ganz Europas.

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Łukasz Gadzała

Łukasz Gadzała

Łukasz Gadzała, Redakteur beim polnischen onlineportal onet.pl, Absolvent der Warschauer Universität und der University of Birmingham. Seine Interessengebiete sind die Politik der Großmächte und die Theorie der internationalen Beziehungen.

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