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Europäische Grenzen in den Dünen von Nida

Was kann es schöneres geben als ein Wochenende in Nida?

Vor allem gegen Ende der touristischen Hochsaison, wenn der Herbst gerade beginnt, sich in den litauischen Wäldern und Urwäldern durchzusetzen.

Nida ist ein litauisches Phänomen an sich, es ist nicht nur die wohlhabendste Gemeinde in Litauen und der exklusivste Kurort am Meer in diesem Land an der Ostsee – in meinen Augen ist es vor allem die Quintessenz dessen, was Litauen gern sein würde. Nida gibt anscheinend die Entwicklungsrichtung der Vision für Litauen vor, es ist Litauens vetrungė, sein Windrichtungsgeber, es ist die auf den Punkt gebrachte Vision des gesamten Landes, die die litauischen Träume vom westlichen, oder eher vom skandinavischen Lebensstil verkörpert. In Nida zu sein lohnt sich, um genau das zu sehen, zu verstehen und absolut selbstverständlich in sich aufzunehmen.

Bei so manchem Besuch in Nida, diesem wahrscheinlich nördlichsten Teil dessen, was wir normalerweise als Mitteleuropa bezeichnen, habe ich an Piran in Slowenien denken müssen, an seinen südlichsten Punkt. Den von Kiefernwäldern umgebenen Leuchtturm in Nida, und den mit einer venezianischen Attika verzierten Leuchtturm in Piran, der an der Stelle steht, wo die schmale Halbinsel zur sogenannten Punta zusammenschrumpft und in das azurblaue Adriatische Meer hineinreicht – diese zwei kleinen Punkte trennen auf der Europakarte über 1880 Kilometer voneinander, was in etwa der Entfernung zwischen Vilnius und Paris entspricht.

Dass es sich in Nida so gut über alles Mögliche nachdenken und diskutieren lässt, kommt nicht nur durch den idyllischen Charakter der Kurischen Nehrung und dem Gefühl, sich außerhalb von Zeit und Raum zu befinden, sondern auch durch ein besonderes Ereignis. Es handelt sich dabei um das Nida-Forum (lit. Nidos Forumas), das seit Jahren in dieser Stadt an der Grenze Litauens zur russischen Oblast Kaliningrad stattfindet – ein Ereignis, dass allein mit seiner Idee bereits mehrere europäische Grenzen überwunden hat.

Wenn man nach Nida will, muss man eine gewisse Mühe auf sich nehmen, denn auf dem Weg dorthin müssen mehrere Grenzen überschritten werden. Wer sich dazu entschließt, von Vilnius aus anzureisen, muss zunächst eine nicht existente Grenze passieren, die allerdings in Form von Artefakten entlang der wichtigsten Fernstraße Vilnius-Klaipėda noch immer sichtbar ist; hier verlief in der Zwischenkriegszeit, als Polen (das nach dem Sieg im Krieg gegen die Sowjetunion 1920 Vilnius de facto annektierte) und Litauen mit seiner Hauptstadt Kaunas keine diplomatischen Beziehungen pflegten, die Demarkationslinie. Wenn man auf der Autobahn in Richtung der Ortschaft Vievis fährt, kann man auf der rechten Seite noch immer ein Gebäude aus Holz sehen, es ist gelb gestrichen und war in der Zwischenkriegszeit die polnische Grenzwache; ein paar Minuten weiter befindet sich ein ähnliches, blassrotes Gebäude des litauischen Grenzschutzes.

Fährt man weiter, überschreitet man in der Nähe von Kaunas – diesmal eher gedanklich als anhand von Schildern im Gelände – die Grenze zwischen der Nordwestregion (Северо-Западный край – so wurden die litauischen Gebiete genannt, die nach den polnischen Teilungen dem Russischen Kaiserreich angeschlossen wurden) und dem Herzogtum Warschau – ein 1807 von Napoleon errichteter polnischer Rumpfstaat, der auch den litauischen Teil der Region Suwalszczyzna bis Kaunas umfasste – das vielen ehemaligen Einwohnern der gemeinsamen polnisch-litauischen Republik, die unter dem Joch des russischen Zaren litten, so viel Hoffnung gab.

Schließlich kommt man dem Meer immer näher und muss die einstige Grenze des Memellandes (Memel ist die historische deutsche Bezeichnung der Stadt Klaipėda) überschreiten. In der Zwischenkriegszeit war das Memelgebiet eine autonome Region innerhalb der Litauischen Republik. Noch früher war diese Grenze unter vielen Gesichtspunkten auch die zivilisatorische Grenze zwischen dem Lutheranismus und dem Katholizismus, zwischen Einflüssen der germanischen Kultur und der Adelskultur der Polnischen Republik, zwischen dem Russischen Kaiserreich und Preußen. Diese Grenze prägte die moderne litauische Kultur des 19. Jahrhunderts enorm, unter anderem durch die sogenannten Bücherträger (lit. Knygnešiai), die litauische Bücher über die preußisch-russische Grenze nach Litauen schmuggelten, durch allgemeine litauische Druckwerke in Klein-Litau (Preußisch-Litauen) und auch durch das Schulwesen in litauischer Sprache „auf der anderen Seite der Memel“ – was einen enormen Kontrast zu den litauischen Gebieten unter der Herrschaft der russischen Zaren bedeutete.

Doch das sind noch nicht alle Grenzen.

Klaipėda ist eine außergewöhnliche litauische Stadt, die einzige in den baltischen Ländern, die das Russische Reich nicht erlebt hat, was der Architektur der Stadt bis heute anzusehen ist, trotz zahlreicher Kriegszerstörungen und dem sowjetischen Wiederaufbau der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg. Fährt man mit der Fähre durch das Kurische Haff von Klaipėda zur Kurischen Nehrung, gelangt man an eine weitere Grenze. Dies ist die einzige der beschriebenen Grenzen, die zumindest in etwa wie eine Grenze aussieht. In einem Kiefernwald befindet sich eine ganz reale Schranke an der Straße und daneben ein beinahe märchenhaftes Holzhäuschen mit einem hohen Strohdach. So sieht der „Übergang“ zu der Stadt Neringa und dem Nationalpark Kurische Nehrung aus. Von hier aus fährt man eine gute halbe Stunde bis Nida, der größten Siedlung der Gemeinde Neringa und ihr nördlichster Punkt.

Die Gemeinde Neringa – die nach der mythologische Figur einer Riesin benannt ist, die die Nehrung aufgeschüttet und dafür Sand in ihrem Rock herbeigetragen haben soll – ist unter verwaltungstechnischen Gesichtspunkten eine Art litauische Dreistadt, denn diese städtische Gemeinde ist die Verbindung zwischen (recht weit voneinander entfernten) vier Ortschaften, die in der Kurischen Nehrung liegen, am Ufer des Haffs, auf dem Gebiet des Kurischen Nationalparkes – Juodkrantė, Preila, Pervalka und eben Nida, das gleichzeitig der Sitz der Selbstverwaltungsregierung von ganz Neringa ist. Nicht dazu zählt Smiltynė – der nördlichste Ort auf der Kurischen Nehrung, der zum städtischen Ballungsgebiet von Klaipėda gehört.

Am Ende der Reise sind wir in Nida angekommen, einer Stadt – oder eigentlich eher einer kleinen Ortschaft – zwischen dem Haff und dem Meer, zwischen Dünen und Kiefernwäldern, zwischen Himmel und Erde, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Moderne, Ökologie und Bestrebungen nach einer Zukunft in einem gemeinsamen Europa – und sowjetischer Nostalgie, Militarismus und aggressivem Revanchismus, Verzweiflung und Armut auf der anderen Seite der Grenze, knapp zwei Kilometer von Nida entfernt.

Diese Grenze existierte an dieser Stelle auch zwischen den beiden Weltkriegen, nur dass sie damals das Deutsche Reich von der Litauischen Republik und dem als autonome Region zu ihr gehörenden Memelland abgrenzte. Diese Grenze hatte schon der berühmte deutsche Schriftsteller Thomas Mann mehrfach überschritten, denn für ihn war „Nidden“ (die deutsche Bezeichnung für „Nida“; in der Autonomen Region Klaipėda gab es offiziell zwei Amtssprachen – deutsch und litauisch) zur Liebe auf den ersten Blick geworden. Der berühmte Schriftsteller hatte im Jahr 1929 (in demselben Jahr erhielt er den Nobelpreis für Literatur) in nur wenigen Tagen sein Herz an die Ostseewellen dieses reizenden Winkels in der Kurischen Nehrung verloren. Verzaubert von der Außergewöhnlichkeit und der Schönheit der Natur beschloss er, genau hier sein Sommerhaus zu erbauen – Deutschland war nicht weit, aber dennoch auf der anderen Seite der litauischen Grenze. „Nidden“ war damals noch ein ganz kleines Fischerdorf, allerdings mit aufkeimenden touristischen Ambitionen und Entwicklungsbestrebungen (die größte touristische Ortschaft in der Nehrung war das damals weiter nördlich gelegene Juodkrantė/Schwarzort). Auch wenn Mann und seine Familie letztlich in ihrem Sommerhaus an der Ostsee nur drei ruhige und freudvolle Sommer verbrachten, fand der Schriftsteller genau hier seinen Frieden. Als in seinem Heimatland die Nationalsozialisten die Macht ergriffen, war er zur Emigration gezwungen und kehrte nie mehr nach „Nidden“ zurück. Kaum sechs Jahre später überquerten Truppen der Wehrmacht diese ruhige verschlafene Grenze in Nida, inmitten von Kiefern und Dünen, und setzten mit der Annexion des Memellandes – das neben den Sudeten eine von Hitlers ersten Eroberungen noch vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges war – im März 1939 die Idee vom Tausendjährigen Reich auch in dem nördlichen Teil der Kurischen Nehrung in die Praxis um.

„Thomas Mann hatte schon während früherer Reisen von einem eigenen Sommerhäuschen geträumt. Aber erst hier wurde dieser Traum wahr“, erzählt mir Lina Jokubauskaitė-Motuzienė, die das Thomas-Mann-Kulturzentrum leitet. Es befindet sich in einem rotbraunen hölzernen Gebäude, das ein Strohdach, blaue Giebelbalken und blaue Fensterläden hat. Das Zentrum ist in den neunziger Jahren aus einer Verbindung mit dem Thomas-Mann-Museum entstanden. Das Haus des Schriftstellers befindet sich ein Stückchen vom Stadtzentrum entfernt und ist etwas höher gelegen, wodurch es einen wunderschönen Blick auf das Kurische Haff und das umliegenden Kiefernwäldchen freigibt.

„Der Schriftsteller Thomas Mann und sein Nachlass sowie das Gedenken an ihn hier in Nida sind ein Geschenk des Schicksals für Litauen und für uns alle. Unter diesem Zeichen kommen heute hier herausragende Persönlichkeiten des europäischen literarischen, intellektuellen und öffentlichen Lebens zusammen. Darüber hinaus ist Nida eine geradezu reisekatalogartige Version von Litauen, die augenfällig von der Attraktivität Litauens zeugt, und das hilft dabei, Gäste zur Anreise zum Forum zu ermuntern“, sagt Lina Jokubauskaitė-Motuzienė, die selbst Expertin für das Werk von Thomas Mann ist.

Seit die Wehrmacht die Grenze in den Dünen überschritt und bis dann nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Litauens das Thomas-Mann-Zentrum gegründet wurde, ist eine ganze Epoche vergangen. Eine Epoche, die für Nida, für die Kurische Nehrung und für Litauen fünfzig Jahre beschwerliche Existenz hinter dem Eisernen Vorhang bedeutete. Und obwohl die Grenze in Nida damals für eine Zeitlang verschwand und zur kaum wahrnehmbaren inneren Verwaltungsgrenze zwischen der LSRR (Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik) und der Oblast Kaliningrad der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik im Rahmen der Sowjetunion wurde, stand Nida nie zuvor so stark unter dem negativen Einfluss der Grenze.

Es ist kein Zufall, dass das Thema eines der ersten Foren in Nida lautete „Wie wir Mauern gebaut haben“. Damit waren natürlich „Mauern“ gemeint, die durch den Eisernen Vorhang entstanden sind, der die sowjetische Welt vor dem ganzen Rest schützen sollte. Hierbei muss noch erwähnt werden, dass in der litauischen Sprache der Ausdruck „siena“ sowohl Mauer als auch Grenze bedeuten kann, je nach Kontext. Um sicherzustellen, dass diese Grenze nicht überschritten werden konnte, mussten die Einwohner der Litauischen Sozialistischen Republik (ähnlich wie alle anderen Staatsbürger der Sowjetunion), die nach Neringa einreisen wollten – beispielsweise zu Erholungszwecken – sich nicht nur ausweisen und beim örtlichen Meldeamt melden, sondern vor allem eine Sondererlaubnis besitzen, die einzig und allein auf der Grundlage einer Verschreibung eines Kuraufenthaltes oder aufgrund von Einladungen von Personen, die in Neringa gemeldet waren, ausgestellt wurde. Diese Erlaubnis wurde bei der Einreise auf die Nehrung von der Bürgermiliz streng geprüft, sowohl die Einwohner als auch die Gäste. Es galt das strikte Verbot, nach Einbruch der Dunkelheit ans Meer zu gehen. Warum? Die Wächter der sowjetischen Welt befürchteten, dass die Bürger des „glücklichsten“ Landes auf Erden über das Meer auf die andere Seite nach Schweden fliehen könnten.

Heute muss niemand mehr über das Meer schwimmen, um sich wie im Westen zu fühlen, weil der Westen längst hier ist, in Litauen, in Nida.

„Vakarų“ (Westen) steht neben einer Rune auf einer Sonnenuhr, die auf der Parnidis-Düne die vier Himmelsrichtungen anzeigt. In der Nähe befindet sich ein Denkmal von J.P. Sartre; der französische Philosoph hat diesen Ort 1965 besucht. Die Bronzestatue „Gegen den Wind“ zeigt ihn zum Meer gewandt mit wehenden Mantelschößen. Obwohl das merkwürdig zu sein scheint, ist das in Wirklichkeit einer der westlichsten Punkte in diesem Teil Europas, von dem aus sich wiederum westlich Russland befindet.

Wo wenn nicht hier, in Nida, wäre der richtige Ort für ein Gespräch über viele Probleme, die wir alle haben und die Europa zusetzen?

 

 

Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Miller

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Nikodem Szczygłowski

Nikodem Szczygłowski

Publizist, Übersetzer (Slowenisch, Litauisch), Experte für slowenische Kultur, Gewinner des Preises für herausragende journalistische Leistungen des Kulturministeriums der Republik Litauen (2020), Autor zahlreicher Veröffentlichungen zu mitteleuropäischen Themen.

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