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„Es hat mich in den Wahnsinn getrieben“

Aureliusz Marek Pędziwol im Gespräch mit dem slowakischen Journalisten Tomáš Forró über dessen Erfahrungen im Ukrainekrieg

 „Sie brachten mich in die Welt an der Kampflinie, ich machte mich mit den Besonderheiten der einzelnen Frontabschnitte vertraut. Mit der Topographie, den Stärken und Schwächen des Gegners. Ich machte wieder eine Verwandlung durch. Vom Journalisten und Freiwilligen wurde ich zu einem von ihnen, nur ohne Waffe und ohne Kampfwillen. Doch davon abgesehen, durchlebte ich die Erfolge und Niederlagen im Kampf mit, beweinte gefallene Freunde mit ihnen, hatte selten einmal einen Moment der Ruhe und des ungestörten Schlafes“, schreibt Tomáš Forró in seinem neuen Buch „Der Gesang der Sirenen. Eine Wanderung zum Herzen des ukrainischen Krieges“. Forró hat seit den ersten Wochen des Kriegs Russlands gegen die Ukraine viele Male die gesamte ukrainisch-russische Front abgefahren, von Charkiw und Kupjansk bis nach Cherson und Mikolajiw.

Aureliusz M. Pędziwol: Als wir vor zwei Jahren miteinander sprachen, und zwar zwei Monate nach dem Anfang der russischen Invasion der Ukraine, sagten Sie, es gebe Dinge, von denen zu schreiben sich nicht gehöre. Schließlich haben Sie aber zu schreiben beschlossen.

Tomáš Forró: Die Zeit dazu war einfach gekommen. Ich wusste, sie würde kommen, aber ich dachte nicht in einem Augenblick, da alles noch weniger klar sein würde als damals. Damals hofften wir noch, der Krieg würde schnell zu Ende gehen. Heute sieht es nicht danach aus. Aber die Zeit ist gekommen, über diesen Krieg offen und aufrichtig zu sprechen. Über die guten Dinge, die in der Ukraine passieren, aber auch über die schlechten. Denn das ist für uns sehr wichtig, wie auch für die Ukraine selbst.

Damals sagten Sie, vorläufig dürfe über die schlechten Dinge nicht gesprochen werden, insbesondere, wenn es dabei um die Ukrainer gehe. Inzwischen ist das schon erlaubt?

Es ist Aufgabe des Reporters, alles darzustellen, in welchem Zusammenhang es sich abgespielt hat, und es so zu erklären, dass es für normale Menschen verständlich wird. Deshalb beschloss ich, darüber ein Buch zu schreiben.

Mittlerweile unterscheidet sich die Lage von derjenigen, als Sie ihr Buch über den Donbas schrieben. Diesmal können Sie sich nicht mal auf dieser, dann auf jener Seite der Front aufhalten.

Kann ich nicht, will ich aber auch nicht. In „Ein Apartment im Hotel Krieg“ habe ich ziemlich ausführlich den Gemütszustand der Leute beschrieben, die bereits seit 2014 für Russland kämpfen und die ich in den besetzten Gebieten kennenlernte. Sowohl prorussische Soldaten aus diesen Gebieten wie auch Leute aus Tschechien und der Slowakei.

In dieser Hinsicht hat sich nicht viel verändert – abgesehen davon, dass die meisten von ihnen bereits tot sind, und außer den Überlebenden kämpfen gewöhnliche Söldner. Nicht für Putin, nicht für die „russische Welt“, sie kämpfen schlicht für Geld. Sie haben keine Ideologie, ihnen ist das alles egal. Sie leben in sumpfigen Dörfern im Fernen Osten Russlands, von dort sind sie gekommen, um gegen die Ukraine zu kämpfen. Sie wollen überleben, Geld verdienen und nach Hause zurück. Und die Fernseher und Waschmaschinen mitnehmen, die sie hier zum ersten Mal im Leben zu Gesicht bekommen haben. Sie haben keine andere Motivation. Um all das zu sagen, reichen ein paar Sätze. Die stehen auch in meinem Buch.

Natürlich ist diese Welt auf der russischen Seite der Front sehr interessant, aber für uns nicht zugänglich. Für mich war aber am wichtigsten, davon zu erzählen, was mit der ukrainischen Gesellschaft vor sich geht, wie die Soldaten in den Schützengräben leben, worüber sie nachdenken.

Wie ich es verstehe, hat sich eines nicht verändert und bleibt klipp und klar: Es gibt weiterhin nicht den geringsten Zweifel, wer hier der Aggressor und wer das Opfer ist?

Das dürfen wir natürlich nicht aus dem Blick verlieren, das ist sehr wichtig. Aber für mein Buch war es auch ganz wichtig herauszuarbeiten, was sich in der Grauzone zwischen Richtig und Falsch abspielt. Und es ist wichtig, welche Verbindungen zwischen diesen Abläufen bestehen und was sie nicht nur für die Ukraine, sondern für unsere gesamte Region bedeuten. Das ist die Geschichte, die ich erzählen möchte.

Was haben Sie da in dieser Grauzone vorgefunden?

Wir alle verstehen, dass sich auch in der um ihre Freiheit oder eigentlich um ihre Fortexistenz kämpfenden Ukraine gute und schlechte Dinge abspielen. Wie übrigens in jeder Gesellschaft. Aber nachdem der Krieg ausgebrochen war, haben wir unsere Augen bewusst davor verschlossen.

Und davon nicht sprechen mögen.

Für uns war das nicht wichtig, wenn ich mit Kollegen, mit anderen Journalisten sprach. Es war gerade viel die Rede von der Korruption beim Militär und in der Verwaltung. Aber auch davon, wie sinnlos es sei, Soldaten in den sicheren Tod zu schicken. Ich fragte die Kollegen, wieso sie darüber nicht schrieben. „Ihr wart doch nah dran, ihr habt davon gewusst,“ sagte ich. Und ich bekam oft als Antwort, das gehöre sich nicht, weil das nur der russischen Propaganda in die Hand spielen würde. Und dass dazu noch nicht die Zeit gekommen sei.

Piotr Górecki, Tomáš Forró, Wojciech Jagielski

Zwei Jahre lang war die Zeit dafür nicht gekommen. Aber inzwischen ist es an der Zeit, vielleicht ist es sogar schon zu spät. Darüber sprach ich in einer Diskussion mit Wojtek Jagielski [Wojciech Jagielski, geb. 1960, polnischer Schriftsteller und Journalist; A.d.Ü.] beim diesjährigen Festival „Grenzliteratur“. Wir können davor die Augen verschließen. Aber wir tun das in dem Bewusstsein, dass wir nicht nur die Realität verleugnen, sondern der Ukraine damit auch schaden. Wenn es nämlich keinen Raum gibt, in dem offen über diese Dinge gesprochen wird, können solche Pathologien auf unabsehbare Zeit fortbestehen. Es ist unsere, der Reporter und Journalisten Aufgabe, solchen Themen Raum zu geben, wenn dazu diejenigen Staatsorgane außerstande sind, deren Aufgabe das eigentlich wäre.

Wo verläuft die Grenze dazwischen, der russischen Propaganda in die Hand zu spielen, und sich für die Ukraine einzusetzen? Denn von solchen Praktiken zu schreiben, kann manchmal vielleicht helfen, sie zu unterbinden.

Diese Grenze ist sehr unscharf und fließend. Jeder von uns muss selbst herausfinden, wo sie verläuft. Das ist sehr subjektiv. Selbstverständlich müssen wir von heiklen Dingen in sensibler Weise sprechen. Und vor allem müssen wir immer im konkreten Kontext davon sprechen. Denn einfach nur das Geschwätz zu wiederholen, die Ukraine sei ein korruptes Land, hieße, der russischen Propaganda nachzuplappern.

Der Kreml behauptet von der Ukraine, sie sei das „korrupteste Land der Welt“…

…und das ist genau das Narrativ, das wir als Journalisten einfach nicht benutzen dürfen. Unsere Aufgabe ist es, uns um eine Erklärung zu bemühen, was dort vor sich geht. So gut wie möglich. Aber ich möchte auch nicht missverstanden werden. Es ist nicht so, dass ich in dem Buch nur die Korruption verdamme und andere schlimme Dinge. Ich schreibe von den guten wie den schlechten Dingen. Von allem von der ganzen Bandbreite dessen, was in der Ukraine passiert. Und ich versuche, die Geschichte so interessant wie möglich zu erzählen.

Ich kann mir denken, für einen Korrespondenten, einen Kriegsschriftsteller gibt es viel mehr solcher Grenzen, die er sich setzen muss. Wo verlaufen diese Grenzen? Doch bestimmt dort, wo es darum geht, was auf dem Schlachtfeld passiert?

Ja natürlich. Wir, die Journalisten aus dem Westen, haben eine Menge Fehler gemacht, besonders bei Kriegsbeginn. Weil die Ukrainer vielleicht ein bisschen naiv und uns gegenüber zu offenherzig waren, konnten wir das Kampfgebiet praktisch ohne Einschränkungen bereisen, und damit haben wir einigen Schaden angerichtet. Uns fehlten schlicht Erfahrung und Vorstellungsvermögen. Wir machten Fotos, drehten Filme, und das wurde auf der Stelle von der russischen Armee ausgewertet, denn es waren Militäreinrichtungen und ‑objekte zu sehen, so dass die Russen die Positionen ukrainischer Einheiten herausfinden konnten.

Wenn ich daher jetzt irgendein Foto veröffentlichen will, frage ich einfach bei den Kommandeuren nach, ob das in Ordnung ist, oder ich weiß schon von mir aus, was ich nicht zeigen kann. Wenn ich schreibe, weiß ich schon von allein, was ich erwähnen darf und was nicht. Dabei geht es weder um Zensur noch um russische Propaganda, sondern einfach um die Sicherheit der Leute, über die ich schreibe oder die ich fotografiere.

Zensur war im Krieg wohl immer dabei?

Meinem Eindruck nach gibt es in der Ukraine keine Zensur. In den ukrainischen Medien arbeiten keine Zensoren. Es gibt aber Bemühungen, den Informationsfluss über den Krieg zu kontrollieren. Die Journalisten kontrollieren sich selbst. Sie sehen sich als Soldaten im Informationskrieg. Sie kämpfen mit der Feder oder mit dem Fotoapparat für ihr Land. Also mit ihrer Arbeit.

Es stimmt auch, dass die Redaktionschefs heikle Themen wie Korruption und Probleme in der Verwaltung nicht gerne sehen, oder auch solche bei der Armee selbst, wie Ineffizienz bei militärischen Operationen und militärische Fehler. Übrigens mögen auch das Präsidialamt und die ukrainische Politik das nicht sonderlich. Aus diesen Gründen wird in der Ukraine nur selten laut davon gesprochen.

Was ist die Folge davon?

Es gibt da etwas, was „Telemarathon“ genannt wird. Das ist eine gemeinsame Informationssendung mehrerer der größten ukrainischen Fernsehsender. [Sie läuft unter dem Namen „Jedyni nowyny“, das heißt „Die einzigen Nachrichten“. Die Ausstrahlung begann am Tag der Invasion, dem 24. Februar 2022. Sie wird sechs Stunden täglich von den privaten Sendern 1+1, ICTV und Inter sowie von dem Parlamentssender Rada TV gesendet; bis zum Mai wurde sie auch von dem Sender Perschyj (Erstes Progamm) des öffentlichen Fernsehsenders Suspilne Ukrajina (Soziales Ukraine) gebracht; Anm. A.P.]. Dieses Programm wird von einem Rat kontrolliert, der bestimmte Inhalte filtert.

Das ist keine Zensur, aber beim Zuschauen ist zu spüren, dass die ukrainische Gesellschaft Vorstellungen von den Geschehnissen an der Front hat, die mit der Realität nicht viel zu tun haben. Das bekomme ich sogar von Soldaten gesagt, die für einige Tage in den Urlaub nach Hause fahren und ganz schockiert sind, wie optimistisch ihre Frauen, Mütter und andere aus ihrem Umfeld beim Thema Krieg sind. So als stehe die Ukraine ganz kurz vor dem Sieg.

Sie sprachen davon, sich in Acht zu nehmen, um nichts an Russland zu verraten, was es nutzen könnte. Aber es gibt noch einen anderen, einen menschlichen Aspekt dessen, was in jedem Krieg passiert. Ich denke an Eindrücke vom Schlachtfeld, vor allem an den Anblick von Toten. Wie steht es in diesem Falle damit, sich selbst Grenzen zu setzen?

Es kommt darauf an, was jemand für nötig hält. Ich verstehe wirklich nicht, welchen Informationswert es hat, solche Bilder zu zeigen, und wieso ich sie zeigen sollte. Natürlich ist an der Frontlinie das Töten allgegenwärtig. Alle wissen, dass dort Menschen sterben. Blutüberströmte Leichen teilen nicht Neues über diesen Krieg mit.

War es also falsch, die Leichen zu zeigen, die auf den Straßen von Butscha lagen?

Nein, das war nicht falsch. Für alle, die im Augenblick der Befreiung nach Butscha kamen, war das ein Schock. Für die ukrainischen Soldaten, für die Beamten der ukrainischen Verwaltung, für die Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen. Und für die Journalisten.

Wir mussten das der Welt zeigen und sagen, das hat Russland angerichtet. Hätten wir es nicht gezeigt, hätten die Waffenlieferungen vielleicht viel später begonnen und alles wäre völlig anders abgelaufen.

Wo waren Sie in den zwei Jahren in der Ukraine?

Das war eine sehr interessante Verwandlung. Als der Krieg begann, machte ich mich als Journalist auf den Weg. Ich wollte in die Ukraine fahren, aber ich verstand, wenn ich in diesem neuen Krieg über das Land schreiben wollte, musste ich zuerst abwarten, dass die Ukraine zu uns kommt. In diesen ersten Tagen hielt ich mich an der Grenze auf und wartete auf die Flüchtlinge. Dann fing ich an, sie zu unterstützen. Schließlich wusste ich nicht mehr, ob ich Journalist oder freiwilliger Helfer war. Ich fuhr mit Lkws, die mit Hilfsgütern beladen waren, ich transportierte Uniformen für die Soldaten. Und dabei schrieb ich natürlich Reportagen. Und das war meine zweite Verwandlung.

Ungefähr anderthalb Jahre nach dem Beginn der Invasion, dank meiner immer engeren Kontakte mit den Soldaten, die ich vorher als Freiwilliger mit Hilfsgütern versorgt hatte, begann ich, mit ihnen direkt an der Front zusammenzuarbeiten. Natürlich habe ich nie gekämpft, ich trug nie eine Waffe, aber in einem gewissen Sinne wurde ich bei verschiedenen militärischen Operationen zum Teilnehmer. Das war meine dritte Verwandlung. Und dann erlitt ich wirklich eine Persönlichkeitsspaltung, was ich dort eigentlich tue.

Und was tun Sie dort?

Das sieht so aus, dass ich einige Wochen mit einer Kampfeinheit verbringe. Ich mache vor allem Bilder, aber ich sehe alles von mitten drin, weil ich mit den Soldaten zusammen bin. Ich nehme an ihrem Leben teil, sie öffnen sich mir gegenüber, und ich beginne zu begreifen, dass sie nicht einfach nur eine anonyme Masse in Uniform sind, alle dieselben, bestimmt zum Kämpfen, Töten und Sterben. Ich werde mir bewusst, dass sie genauso sind wie ich. Sie fühlen, machen sich ihre Gedanken, haben ihre Motive. Sie haben auch Familie. Das war eine neue Welt, die sich da vor mir auftat. Und auch ein wichtiger Teil der in meinem Buch beschriebenen Geschichte.

Es gibt noch Ihre vierte Verwandlung. Sie wurden zum Gesicht des spektakulärsten Protests gegen die neue Regierung der Slowakei. Ich spreche von der Sammlung für die Munitionsinitiative, bei der die slowakische Gesellschaft für die Ukrainehilfe eintrat, nicht die Regierung wie in allen Ländern, die an diesem tschechischen Projekt teilnehmen.

Ja, das ist eine großartige Initiative, die gewissermaßen unser Ansehen in den Augen unserer ausländischen Partner gerettet hat, aber natürlich vor allem in der Ukraine. Im Laufe von zwei Wochen sammelten gewöhnliche slowakische Bürger vier Millionen Euro. Das ist natürlich eine symbolische Unterstützung…

…aber trotzdem mehr, als einige Staaten für diese Initiative aufgebracht haben!

Ja. Was ich meine, ist, dass für vier Millionen schwere Munition an einem Tag an einem einzigen Frontabschnitt verschossen wird, vielleicht sogar noch schneller. Deshalb ist diese Initiative für die Ukraine wie für uns selbst eher von symbolischem Wert. Aber natürlich ist das eine gewaltige Ohrfeige für die slowakische Regierung, die gleich nach dem Antritt die militärische Hilfe für Kyjiw eingestellt hat.

Wir sollten aber bedenken, dass der Sachverhalt etwas komplizierter ist, was die Außenpolitik des Kabinetts von Ministerpräsident Robert Fico angeht, der seinen oft prorussischen Wählern das eine sagt, aber etwas ganz anderes macht. Im Kontakt mit den Ukrainern sieht das nicht ganz so dramatisch aus, wie sich seine Erklärungen anhören, er werde den Ukrainern keine einzige Patrone mehr geben.

Die Slowakei ist noch nicht ganz Ungarn?

Sie ist noch nicht so wie Ungarn. Es ist auch ein wirklich großer Teil der Gesellschaft, der der Regierung sagt: „So sind wir nicht. Wir unterstützen die Ukraine und wollen, dass alle das wissen. Nicht nur ihr seid die Slowakei, wir sind es auch.“

Was von Ihren verschiedenen Verwandlungen gelangt in ihr Werk? Worüber schreiben Sie nicht? Und was kommt Ihnen beim Schreiben gelegen?

Worüber ich nicht schreibe, davon spreche ich auch nicht, davon werde ich also auch in diesem Interview nicht reden. Aber ich denke, dass alle meine drei Verkörperungen sehr großen Einfluss darauf hatten, worüber und wie ich heute schreibe. Hauptsächlich darauf, wie ich den Krieg heute wahrnehme, nach mehr als zwei Jahren. Das war eine unglaublich interessante Erfahrung. In der Ukraine Journalist zu sein, dort freiwilliger Helfer zu sein, Teil verschiedener Kampfeinheiten zu sein, das hat nicht nur sehr großen Einfluss darauf gehabt, was ich heute über den Krieg denke, sondern auch wer ich bin.

Also nochmals: Wo waren Sie während des Kriegs?

Überall. Seit der Invasion fahre ich vor allem in die Kampfzone, und bei jeder Fahrt fahre ich die gesamte Frontlänge ab, von Charkiw und Kupjansk bis nach Cherson. Manchmal bis dort und wieder zurück, manchmal dreimal, wenn ich beispielsweise einen ganzen Monat dort bin.

Dort habe ich überall Kontakte, eine Menge Freunde. Nicht nur Ukrainer, sondern zum Beispiel auch polnische Reporter. Wir treffen uns, tauschen Informationen aus, wir suchen gemeinsam nach Themen und fahren gemeinsam. Das sieht oft ziemlich verrückt aus, das sind tausende Kilometer mit dem Auto auf der Strecke.

Mit dem eigenen?

Ja. Ich habe mir einen alten Jeep gekauft. Das ist wohl schon der dritte seit Beginn der Invasion, weil es dort praktisch keine Straßen mehr gibt, daher gehen die Autos ziemlich schnell zu Bruch. Immer wenn ich die Slowakei verlasse, überlege ich daher schon, was zuerst zu tun ist und wo ich eine Pause einlegen muss, um den Wagen zu reparieren. Das kommt mir schon so selbstverständlich vor, dass ich darüber nur noch lachen kann. Ich schreibe sogar davon in meinem Buch. Deswegen habe ich viele interessante Menschen kennengelernt und interessante Erlebnisse gehabt.

Aber das muss doch eine Stange Geld kosten. Haben sie einen Geldgeber?

Nein, habe ich nicht. Aber dieses Auto hat mich so viel gekostet wie ein besserer kugelsicherer Helm. Denn ich weiß, wenn ich da schon hinfahre, dann nicht in einem neuen Wagen, sondern in einem, der wenigstens eine Weile lang durchhält. Aber das ist auch eine interessante Frage, denn…

…denn von etwas muss der Mensch schließlich leben.

Ja eben! Aber seit der Invasion hat es mich einfach in den Wahnsinn getrieben. Dieser Krieg hat mich derartig schockiert, dass ich darüber nicht mehr länger nachdenke. Erst als ich dabei war, das Buch zu Ende zu schreiben, wurde mir klar, dass ich in den zwei Jahren praktisch alle meine Ersparnisse aufgebraucht hatte, und ich weiß nicht so genau, wie es weitergehen soll.

Aber bevor das Buch erschien, startete ich eine Crowdfunding-Kampagne. Und weil meine slowakischen Leser sehr gut verstehen, dass ich von keiner Redaktion bezahlt werde, habe ich so viel eingenommen, dass ich wenigstens für die nächsten paar Monate finanzielle Sicherheit genieße. Natürlich muss ich mir auf Dauer eine andere Lösung einfallen lassen.

Denn so können Sie auf lange Sicht nicht weitermachen?

Wie ich schon sagte, mich hatte eine Art Wahnsinn befallen. Weil ich auf eigene Kosten fuhr, genoss ich zum ersten Mal im Leben den Luxus, mir aussuchen zu können, wohin und für wie lange ich fahren wollte. Wenn ich jetzt auf diese zwei Jahre zurückblicke, weiß ich, wäre ich nicht so verrückt gewesen, hatte ich diese Arbeit nicht so gut machen können.

Gibt es in diesem Krieg irgendwelche Milieus, Gebiete, Themen, die Sie gern behandeln würden, wozu Sie aber noch keine Gelegenheit hatten?

Ja, es gibt einige. Eines der drängendsten Themen ist das der ukrainischen Kinder, die von der russischen Verwaltung entführt wurden. Von vielen weiß eigentlich immer noch niemand so ganz genau, wo sie inzwischen verblieben sind.

Ein Teil ist in Belarus.

Ein Teil ist in Belarus, ein Teil in Russland, ein Teil wo auch immer. Gemeinsam mit einigen slowakischen Kollegen versuche ich, etwas darüber in Erfahrung zu bringen, aber das ist sehr schwierig, weil die Eltern oder Angehörigen dieser Kinder in der Ukraine Angst haben, davon zu sprechen. Sie haben Angst, wenn das öffentlich wird, könnten die Russen noch mehr Anstrengungen machen, damit die Kinder niemals wiedergefunden werden können. Außerdem gibt es natürlich den Rechtsschutz für Minderjährige. Es handelt sich deshalb um ein heikles Thema, und es wird nicht leicht sein, dazu irgendwelche Nachforschungen anzustellen oder anschließend gar darüber zu schreiben.

Wie lange werden Sie ihre Fahrten in die Ukraine noch fortsetzen?

Ich fürchte, so lange, wie der Krieg dauern wird.

Werden Sie das aushalten? Werden Sie das psychisch durchstehen? Schließlich muss das psychisch doch ungeheuer belastend sein, ganz abgesehen davon, wovon wir bereits sprachen.

Das ist so. Ja wirklich. Ich weiß nicht, wir werden sehen. Ich gebe mein Bestes. Am liebsten würde ich längst etwas ganz anderes machen. Aber ich habe so ein Gefühl, wenn sich bei den Nachbarn ein Krieg abspielt, hätte es keinen Sinn für mich, nach Südamerika oder Asien zu fahren, um interessante Reportagen zu schreiben. Wenn ich irgendwie helfen kann, etwas tun kann, sollte ich gerade dort sein, in der Ukraine.

In Südamerika haben Sie sich auch nicht gerade ausgeruht.

Aber nein. Ich fahre schon lange nicht mehr, um mich auszuruhen. Aber Lateinamerika ist für mich faszinierend, und dort finde ich die interessantesten und inspirierendsten Geschichten. Nicht unbedingt angenehme, nicht unbedingt nette und positive Geschichten, aber sehr, sehr interessante.

Ich wünsche Ihnen daher, dass Sie möglichst bald genau dorthin fahren können, in den Süden, und danke Ihnen herzlich für das Gespräch.

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

 

Das Gespräch fand am 2. Mai 2024 in Cieszyn/ Teschen während des 25. Festivals „Kino an der Grenze“ statt.


Tomáš Forró

Tomáš Forró

Der slowakische Reporter Tomáš Forró (geboren 1979) ist bekannt für seine Kriegs- und Krisenberichterstattung aus Ostmitteleuropa, Lateinamerika und Südasien. Er wagt sich dorthin, wohin andere gar nicht erst hinzugelangen versuchen. Das Ergebnis sind drei Bücher, von denen das erste: Donbas. Svadobný apartmán v hoteli Vojna. Reportáž z ukrajinského konfliktu [Donbas. Ein Hochzeitsapartment im Hotel Krieg. Reportage aus dem ukrainischen Konflikt], Bratislava: N Press, 2019, bereits ins Ukrainische, Tschechische und Polnische übersetzt wurde. Das zweite: Zlatá horúčka. Venezuela – od ropnej veľmoci k úpadku ľudskej civilizácie [Goldrausch. Venezuela – von der Öl-Supermacht zum Untergang der menschlichen Zivilisation], Bratislava: N Press, 2021, ist auch in tschechischer und polnischer Übersetzung erschienen. Sein drittes Buch: Spev sirén. Putovanie do srdca ukrajinskej vojny [Gesang der Sirenen. Eine Wanderung in das Herz des ukrainischen Krieges], Bratislava: Absynt, 2024, über den Krieg Russlands gegen die Ukraine, ist Anfang dieses Jahres erschienen.

 


Aureliusz M. Pędziwol Autor bei DIALOG FORUM

Aureliusz M. Pędziwol, Journalist, arbeitet mit der polnischen Redaktion der Deutschen Welle zusammen. Er war 20 Jahre lang Korrespondent des Wiener WirtschaftsBlattes und für zahlreiche andere Medien tätig, darunter für die polnischen Redaktionen des BBC und RFI.

 

 

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