Olsztyn hat einen neuen Bahnhof: Anfang 2023 wurde der Innenstadtbahnhof Olsztyn-Śródmieście eröffnet. Zuvor war das Gelände jahrzehntelang als Garagenhof benutzt worden, einer von vielen zwischen den Häusern auf der Nordseite der Partyzantów-Straße und den zum Hauptbahnhof führenden Gleisen. Bei den ersten Erdarbeiten wurde allerdings festgestellt, dass hier, im bis dahin deutschen Allenstein, vor 1945 ein evangelischer Friedhof existiert hatte. Einige der Grabsteine waren später als Baumaterial für den Hof und die Garagen verwendet worden. Das mag zunächst schockierend klingen, ist aber in der Geschichte der ehemaligen deutschen Gebiete östlich der Oder nichts Neues. Im Gegensatz zu den katholischen Friedhöfen der Region, die nach 1945 kontinuierlich genutzt wurden, ließ man die protestantischen Friedhöfe verfallen und verwendete die Grabsteine, Einfassungen und anderes oft als Baumaterial. Wie Karolina Kuszyk in ihrem Buch „In den Häusern der Anderen. Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen“ (Ch. Links 2022, übersetzt von Bernhard Hartmann aus dem polnischen „Poniemieckie“, Wołowiec 2019) schreibt:
„Als Ende der 1950er Jahre das ,Gesetz über Friedhöfe‘ und Bestattungen in Kraft trat, existierten in den Westgebieten noch über dreitausend als ,stillgelegt‘ bezeichnete deutsche Friedhöfe mit einer Gesamtfläche von fast zweitausend Hektar. Sie waren frei zugänglich und wurden von niemandem geschützt. […] Je weniger Gelegenheit zum Plündern sich bot, weil durch den Zustrom neuer Siedler und Einwohner immer weniger Häuser und Wohnungen leer standen, desto größer wurde die Zahl der Friedhofshyänen. Nicht selten waren es Steinmetze, die Grabplatten stahlen und recycelten. Intakte Platten dienten nach Entfernung der deutschen Namenszüge und Inschriften als Rohmaterial für neue Grabsteine, beschädigte wurden zu Pflastersteinen verarbeitet.“
Der Friedhof in Olsztyn ist jedoch wieder in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Dank des Engagements von Aktivisten des Vereins Święta Warmia (Heiliges Ermland), der evangelischen Kirchengemeinde und der Stadtverwaltung wurde beschlossen, respektvoll mit diesen deutschen Hinterlassenschaften umzugehen: Eine Gedenkstätte für den verlorenen Friedhof wurde in die Pläne für den neuen Bahnhof mit aufgenommen.
Der Entwurf des Architekturbüros Gadomscy ist schlicht: Flankiert von Betonwänden, auf denen die Jahre des Bestehens des Friedhofs (1873–1947) eingraviert sind, wurde ein mit weißen Steintafeln verkleideter Gedenkpavillon errichtet, in dem, wie auch auf weiteren Steintafeln auf dem Gelände, die Namen der über 1.300 hier bestatteten Personen eingraviert sind. Darunter ist auch Oskar Belian (1832–1918), der ehemalige Bürgermeister von Allenstein, der während seiner Amtszeit von 1903 bis 1908 die Stadt maßgeblich modernisierte. Einige Fundstücke des ehemaligen Friedhofs wie eine Garagenmauer mit einem eingearbeiteten Grabstein wurden mit in die Gedenkstätte integriert. Im Gedenkpavillon befinden sich außerdem zwei Schautafeln, die die Geschichte des Ortes mit alten Karten und Fotos beschreiben. In seiner behutsamen und doch offenen Annäherung an ein heikles deutsch-polnisches Thema ist der Gedenkpark in Olsztyn repräsentativ dafür, wie deutsche Hinterlassenschaften – physisch und metaphorisch – in Polen heute mit zeitgenössischen Mitteln kontextualisiert werden und im öffentlichen Bewusstsein präsent bleiben. Die Gedenkstätte wurde zu Recht mit dem Preis der Vereinigung Polnischer Architekten (SARP) 2023 ausgezeichnet.
Die Auseinandersetzung mit Themen wie Vertreibung, Erinnerung und Aneignung im heutigen Nord- und Westpolen ist in der polnischen Kunst, insbesondere in Literatur und im Film, nicht neu: Gdańsk/Danzig und seine Menschen stehen im Mittelpunkt vieler Werke von Stefan Chwin und Paweł Huelle, zum Beispiel Huelles Roman „Weiser Dawidek“ aus dem Jahr 1987. Die Handlung des auf dem Buch basierenden Films „Weiser“ aus dem Jahr 2001 wurde von Regisseur Wojciech Marczewski dann von Gdańsk nach Wrocław, ins ehemalige Breslau, verlegt. In Olsztyn wiederum erzählen die Werke des Lyrikers Kazimierz Brakoniecki, Mitgründer der Kulturgemeinschaft Borussia und Mitherausgeber der gleichnamigen Literaturzeitschrift, von alten und neuen Bewohnern. Olga Tokarczuks Roman „Haus des Tages, Haus der Nacht“ von 1998 spielt im ehemaligen sudetendeutschen Grenzgebiet, und Wojciech Smarzowskis Film „Róża“ („Rose“) von 2011 handelt von den chaotischen und brutalen Jahren in Ostpreußen unmittelbar nach 1945. Bis in die 1990er-Jahre hinein gab ein ebenso großes Engagement in der deutschen Literatur von Günther Grass, Siegfried Lenz oder Arno Surminski. Doch aktuell, so scheint es mir, spielt die Auseinandersetzung mit den „deutschen Überresten“ in Polen und anderswo in Mitteleuropa in der zeitgenössischen Literatur und Kunst in Deutschland keine große Rolle. Trotz der zwölf Millionen Menschen aus den Ostgebieten, die sich nach 1945 in der BRD und der DDR niederließen, mit all ihren unterschiedlichen Schicksalen und Erinnerungen, wurde das Thema Erinnerung in Westdeutschland zu großen Teilen extremen Nationalisten und Rechtsextremen überlassen, und in der DDR überhaupt nicht thematisiert. Die menschliche Geschichte der ehemaligen Ostgebiete scheint in der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland zu weiten Teilen abgeschlossen und immer noch vom Mief des Ewiggestrigen begleitet.
Das ist für mich eine verpasste Chance. Ein Beispiel: Meine Großcousine Gisela wurde 1941 in Allenstein geboren, wo sie – nachdem es zum polnischen Olsztyn geworden war – bis 1963 lebte. Ihr Vater überredete die Familie zur Übersiedlung nach Westdeutschland, obwohl die Familie hier weder Verwandte noch Freunde hatte. In Kaiserslautern kamen sie zuerst in einem Flüchtlingsheim unter. Gisela wohnt noch immer in Kaiserslautern. Sie wuchs als Kind mit einem ostpreußischen Akzent auf, sprach dann in der Schule und mit ihren Freunden Polnisch, bevor sie nach der Umsiedlung in der Pfalz heimisch wurde, so dass ihre deutsche Stimme heute einen schönen, aber undefinierbaren Akzent hat, der sich irgendwo zwischen Alle, Oder und Neckar verortet. Und das ist nur ein Beispiel von vielen; meine Familie besteht aus Flüchtlingen und Aussiedlern, die über ganz Deutschland und Polen verteilt sind. Als deutsch-irischer Autor, der über Erinnerung, Identität und Geschichte schreibt, kommen bei Lesungen und Vorträgen in Deutschland über die Geschichte und Erfahrungen meiner eigenen Familie oft Menschen aus dem Publikum zu mir, die mir von ähnlichen faszinierenden Familiengeschichten erzählen.
Karolina Kuszyk, die ich zum Thema „Ehemals deutsch“ befragt habe, bestätigt das bestehende Interesse in Deutschland:
„Natürlich teilen viele Leserinnen und Leser mit mir auch ihre eigenen Geschichten bzw. die Geschichten ihrer Vorfahren. Während der Lesungen entsteht oft eine intime Atmosphäre, die den Austausch ermöglicht. Ich habe den Eindruck, dass der Bedarf nach Austausch und Mitteilung von Erlebtem im Osten Deutschlands besonders groß ist. In der DDR wurde das Thema Flucht und Vertreibung in der Öffentlichkeit ja totgeschwiegen. Die Vertriebenen wurden euphemistisch ,Umsiedler‘ oder ,Neusiedler‘ genannt. Sie sollten ihre sozialistische Heimat aufbauen, woher sie kamen, spielte keine Rolle. Ich kann mir vorstellen, dass das eine große Erleichterung ist, eigene Geschichten, die früher verdrängt, verschwiegen oder instrumentalisiert wurden, erzählen zu können.“
Ein solches Verdrängen und Verschweigen wurde auch bis 1989 in der polnischen Volksrepublik den Vertriebenen aus dem heutigen Litauen und der Ukraine aufgezwungen, die sich in den neuen polnischen Westgebieten nach 1945 ansiedelten. Und vielleicht ist das einer der Gründe, warum in der polnischen Literatur das Thema konstant und auch von jungen Künstlern aufgegriffen wird: Da ist das 2023 auf Deutsch erschienene und bereits erwähnte Buch von Karolina Kuszyk, das in seinem polnischen Originaltitel „Poniemieckie“ (ehemals deutsch) dem Themenbereich gleich den Namen gibt, oder Filip Springers Bücher „Miedzianka. Historia znikania“ von 2011 (Kupferberg: der verschwundene Ort) das die deutsch-polnische Geschichte des titelgebenden Ortes erzählt oder „Mein Gott, jak pięknie“ (Mein Gott, wie schön), die Geschichte einer Radreise durch Westpolen und über die Eingriffe der Menschen in die Natur von 2023. Paulina Siegieńs „Miasto Bajka“ (Märchenstadt) von 2021 erzählt die Geschichte von Königsberg und Kaliningrad, und Beata Szadys „Wieczny początek“ (Ewiger Beginn, 2020) die der Menschen in Ermland-Masuren vor und nach 1945. Auch in der Musik und der bildenden Kunst taucht das Thema in den letzten Jahren immer wieder auf, etwa in dem von ihrem Geburtsort inspirierten Album „Singing Warmia“ der in Ermland geborenen Musikerin und DJ Zofia Hołubowska aus dem Jahr 2023. Der erste Song des Albums trägt bereits den bedeutungsschwangeren Titel „Forest of the Expelled/Las wypędzonych“ (Wald der Vertriebenen). Und im Gemälde-Zyklus „Nocą będę opisywał słońca“ (Nachts beschreibe ich Sonnen) von Katarzyna Szeszycka aus demselben Jahr ragen auch die Bäume Pommerns dunkel und fast bedrohlich aus Nebel und Moor heraus.
Aber vielleicht gehe ich auch im Vergleich zu Polen zu hart mit der deutschen Kunst ins Gericht. Karolina Kuszyk ist auf jeden Fall dieser Meinung:
„In den letzten zehn Jahren hat sich viel geändert. Der Impuls kam sicherlich vom bahnbrechenden Buch von Andreas Kossert ,Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen‘ von 2008. Viele Autorinnen und Autoren in Deutschland setzen sich heute mit Flucht und Vertreibung auseinander, unter anderem Roswitha Schieb, Ulrike Draesner, Sabrina Janesch, Christiane Hoffmann. Das Buch von Christiane Hoffmann ,Alles, was wir nicht erinnern‘, in dem sich die Autorin auf die Spuren des Fluchtwegs ihres Vaters aus Niederschlesien nach Westen begibt, war 2023 monatelang ein Bestseller. Der Wandel hat sicherlich mit der Generationenabfolge zu tun: Die Zeitzeugen sterben und ihre Traumata werden nun durch die zweite und die dritte Generation verarbeitet. Mein Eindruck ist, dass das Thema in Deutschland keineswegs ,vom Tisch‘ ist.“
Auch Marcin Piekoszewski, Übersetzer, Publizist und Inhaber der polnischen Buchhandlung buchbund in Berlin, stimmt zu:
„In Polen wird viel davon gesprochen, dass die Deutschen zu wenig über polnische Geschichte und Erfahrungen wissen. Ich glaube aber nicht, dass durch die Bereitstellung von mehr Informationen und Details zum Beispiel über deutsche Verbrechen in Polen automatisch in Deutschland das Verständnis für Polen wächst. Paradoxerweise ist das Gegenteil der Fall, wie Joanna Bator in ,Bitternis‘ (Suhrkamp 2023, übersetzt von Lisa Palmes aus dem polnischen Orinal ,Gorzko, gorzko‘, Znak 2020) gezeigt hat. In dieser erstaunlichen und brutalen Geschichte einer Deutschen, die Polin wird, und einer jungen Polin, die ihre eigene deutsche Vergangenheit entdeckt, wurde der Zweite Weltkrieg von der Autorin bewusst ausgespart. Bator hat gezeigt, dass es möglich ist, etwas zutiefst Menschliches über zwei Völker zu erzählen, ohne sich auf die offizielle, politisch gepflegte Geschichte zu beziehen. In Deutschland wurde ihr Buch mit Begeisterung aufgenommen.”
Das Material für einen fortgesetzten literarischen und künstlerischen Dialog über die Wichtigkeit von Erinnerung in Deutschland und Polen ist also vorhanden, seien das die Steine des Friedhofs in Olsztyn oder die Familiengeschichten in beiden Ländern. Es bleibt zu hoffen, dass es weiterhin viele Übersetzungen von Werken gibt, die sich damit befassen, aus dem Polnischen ins Deutsche und anders herum.
Kunst, egal ob Literatur, Film, Musik oder bildende Kunst, kann sich Erinnerung häufig am ehrlichsten näheren: fragmentiert, subjektiv, und zum Nachdenken anregend. Neben „ehemals deutschen“ Büchern aus Deutschland habe ich durch die Arbeit an diesem Essay auch wieder deutsche bildenden Kunst entdeckt, die sich mit dem Thema befasst. Im Frühjahr 2024 eröffnete die Berliner Konzeptkünstlerin Ursula Neugebauer ihr Projekt „schwarzer Schnee“ im Kunstraum München. Für das Projekt ist sie wiederholt nach Dzwonów Dolny gereist, dem ehemaligen Nieder-Schellendorff in Schlesien und Geburtsort ihrer Mutter, den diese nach ihrer Flucht 1945 nach Westdeutschland nie wieder besucht hat. In der Ausstellung sind die Aspekte dieser Reisen als Exponate zu sehen, als Videoarbeiten, Projektionen oder bearbeitete Artefakte. Ein solches ist die Scheibe einer Kastanie. Ursula Neugebauer hat auf der Baumscheibe das Jahr 1945 markiert, aber der Baum hat schon lange vor diesem Jahr existiert, und ist danach noch kräftig weitergewachsen. Er stand auf einem Friedhof.