Wer heute in Erwägung zieht, noch irgendetwas über Franz Kafka zu schreiben, muss sich zuerst einmal selbst und womöglich ebenso dem Leser die Frage beantworten: Zu welchem Zweck? Die Sekundärliteratur zu dem Prager Autor füllt bereits ganze Bibliotheken, es erschließt sich daher nicht ohne weiteres, wieso irgendjemand in diesen Ozean aus Tinte noch einen Fingerhut mehr gießen wollte. Andererseits: Kafka hat sich zu einem der Achttausender-Gipfel der Weltliteratur ausgewachsen, was ihn selbst sicher in höchste Verwunderung versetzt hätte, und auf die Achttausender, auch wenn sie schon tausende Male bestiegen wurden, macht sich schließlich auch noch ständig jemand auf. Man kann sich schließlich auf noch nicht begangene Wege begeben, ohne Sauerstoffgerät oder – wie vor kurzem eine Gruppe von Frauen aus Bolivien – in traditionellen, nicht allzu sehr für den Zweck geeigneten Röcken. Man kann schließlich versuchen, neue Pfade zum Gipfel ausfindig zu machen. Der berühmte Himalaya-Besteiger Reinhold Messner antwortete auf die Frage, wieso er auf die höchsten Gipfel der Erde klettere, kurz und knapp: „Weil sie da sind.“ Über Kafka wird unablässig geschrieben, nicht nur aus Anlass seines in diesem Jahr sich zum hundertsten Mal jährenden Todestages, weil er „da ist“: Er wurde zum auf seine Art unübersehbaren Orientierungspunkt in der Landschaft der Moderne, zum beständigen und immer noch lebendigen Beitrag zu einem gewissen internationalen kulturellen Code – das Adjektiv „kafkaesk“ existiert in allen Sprachen, bedeutet aber immer dasselbe: die Verlorenheit des Individuums in den Labyrinthen der feindlichen und ihn versklaven wollenden Welt. Und das ist eine beunruhigend allgemeine Erfahrung, in der sich mitunter selbst die Bewohner der als Oasen menschlicher Freiheiten geltenden Länder wiederfinden. Kafkas „Process“ ist eine Metapher, aber auch eine unverändert aktuelle Warnung.
Es wäre schon reichlich verwunderlich, wäre der einhundertste Todestag des Autors des „Process“ von einem der bekanntesten deutschen Biographen, Rüdiger Safranski, ignoriert worden. Safranski hat Monographien über das Leben Schopenhauers, Goethes, Schillers, Goethes und Schillers zusammen, Hölderlins, E. T. A. Hoffmanns, Nietzsches und Heideggers verfasst. Sein „Kafka“ ist jedoch keine klassische Biographie – bezeichnenderweise findet sich darin nichtmals das genaue Geburtsdatum des Schriftstellers (das sich schließlich schnell in der Wikipedia auffinden lässt). Und das ist leicht nachzuvollziehen. In Deutschland wird es ein halbes Jahrhundert lang wohl niemand mehr wagen, eine klassische Biographie des berühmten Pragers zu verfassen, nach der monumentalen dreibändigen, zweitausend Seiten umfassenden Biographie von Reiner Stach. Sich an ein solches Unterfangen zu begeben, wäre wie das Rad nochmals zu erfinden. Und jedenfalls eine ziemliche Vermessenheit.
Daher ist Safranskis Buch eher etwas zwischen einem biographischen Essay und einer Sammlung von Skizzen über Kafkas Prosa, eine Formel, der schon Nietzsches „Biographie seines Denkens“ aus Safranskis Feder folgt. Auf den ersten Seiten legt Safranski sein Programm dar: „Dieses Buch verfolgt eine einzige Spur im Leben Franz Kafkas, es ist die eigentlich naheliegende: Das Schreiben selbst und sein Kampf darum.“ Und er fügt ein Zitat aus einem Brief an Felice an: Ich habe kein litterarisches Interesse sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein (S. 9). Das Programm wird bereits vom Untertitel vermittelt: „Um sein Leben schreiben“, also anders gesagt, schreiben, um das eigene Leben zu retten, mit dem Schreiben um das Leben kämpfen. Diese Formulierung ist tatsächlich ein raffiniertes Wortspiel, denn „um sein Leben schreien“ bedeutet so viel wie in lebensbedrohlicher Lage um Hilfe rufen. In rein technischer Hinsicht lässt sich Safranskis Intention noch mit einem anderen Zitat beschreiben, das ebenfalls von Kafka selbst stammt, mit einer Formel, nach der er seine eigene Autobiographie plante: Nicht Biographie, sondern Untersuchung und Auffindung möglichst kleiner Bestandteile (S. 223). Und genau so verfährt Safranski: Er wählt „kleine Bestandteile“, Erzählungen, Entwürfe zu einem Roman, er liest sie mehrmals gleichsam laut vor, verbindet sie miteinander und platziert sie im Kontext der Ereignisse, die sich im Leben des Schriftstellers abspielen. Und weil er sich an die chronologische Ordnung hält, behält seine Darstellung wichtige Züge der Biographie bei. Er ist sich dabei immer, oder doch fast immer der Fallen bewusst, die auf den lauern, der bei Kafka alles sofort und restlos erklären möchte, diese vieldeutige Prosa auf eine einzige, universelle Formel reduzieren will, was zu ihrer Zeit Susan Sontag so sehr irritierte: Kafkas Werk sei „zum Opfer einer Massenvergewaltigung durch nicht weniger als drei Armeen von Interpreten“ geworden, heißt es in ihrer Essaysammlung „Against Interpretation and Other Essays“ (1964) : „Diejenigen, die Kafkas Werk als soziale Allegorie lesen, sehen in ihm Fallstudien der Frustration und des Irrsinns der modernen Bürokratie. Diejenigen, die es als psychoanalytische Allegorie lesen, sehen in ihm den verzweifelten Ausdruck von Kafkas Angst vor dem Vater, seiner Kastrationsangst, seines Gefühls der eigenen Impotenz, seiner Traumhörigkeit. Diejenigen schließlich, die sein Werk als religiöse Allegorie lesen, erklären, daß K. in Das Schloß Zugang zum Himmel sucht, daß Josef K. in Der Prozeß von der unerbittlichen und geheimnisvollen Gerechtigkeit Gottes gerichtet wird“ (dt. Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Hamburg: Rowohlt, 1964, hier Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch, 1995, S. 16). Safranski lässt sich glücklicherweise von keiner dieser Armeen rekrutieren, obwohl man sich manchmal nur schwer des Eindrucks erwehren kann, dass er der Versuchung gelegentlich nachzugeben bereit ist: „Kafka, darin sind sich seine Interpreten einig, zeigt sich hier [in „Der Verschollene“; Anm. T.Z.] als Kritiker des modernen Industriekapitalismus in seiner fortgeschrittenen amerikanischen Variante, die er allerdings nur aus Büchern kannte; […]“ (S. 77).
Safranski liest Kafka unabhängig, auch wenn bei dieser Lektüre gelegentlich Verweise auf die einschlägige Fachliteratur auftauchen. Die von ihm gemachten Entdeckungen sind den Kafkaspezialisten gewiss nicht unbekannt, aber das Buch richtet sich letztlich ja nicht an sie. Und für den durchschnittlichen Literaturkonsumenten mag die Nachricht von Interesse sein, dass die moderne Fabrik, die mit ihrer gigantischen Telefonzentrale dem Onkel des „verschollenen“ Karl Roßmann gehört, das „Urbild der später im ,Process‘ und im ,Schloss‘ dargestellten unübersehbaren Behördenlabyrinthe [ist], die dort allerdings eine rätselhafte, mitunter auch metaphysische Bedeutung annehmen“ (S. 78). Am Rande bemerkt, das erklärt interessanterweise auch die Kulisse zur großen Verfilmung des „Process“ unter der Regie von Orson Welles, dass das Motiv des „Käfers“, der sich in seinem Bettchen umdreht, auch in den „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande“ (S. 23) auftaucht, und die Mitteilung, dass jemand aus dem Zimmer hinausgekehrt wird (S. 62) in den Briefen an Felice, und dass Sonntagvormittage bei Kafka eine sehr gefährliche Zeit sein können (S. 113).
Es ist wichtig zu verstehen, dass Safranski sich mit seinem Buch zwar der Literatur aus Anlass des einhundertsten Todestages Kafkas anschließt, doch versinkt er dabei nicht in lauter Ehrerbietung für seinen Gegenstand, in Biographien ein oft schwer erträgliches Charakteristikum. Er zögert nicht zu bekunden, die Aufzeichnungen aus Zürau, entstanden in einer „Grenzsituation eines Zusammenbruchs“, hätten „etwas Entschiedenes und Forciertes“ an sich (S. 154). Das stimmt sicher mit der Reaktion der meisten Leser überein, von denen aber nur die wenigsten es wagen würden, so einen Gedanken laut zu äußern. Ganz so wie nur die wenigsten es wagen würden zu behaupten: „Genau genommen passt die Parabel [„Vor dem Gesetz“; Anm. T.Z.] gar nicht zum Fall des Josef K.“ (S. 119). Ebenso deckt er den überraschenden Mangel an technischer Geschlossenheit im Plot des „Schlosses“ auf, nämlich den plötzlichen und immanent widersprüchlichen Perspektivenwechsel (S. 209).
Die Werkexegese vermittels der Autorenbiographie genießt in der modernen Literaturwissenschaft keinen allzu guten Ruf, doch im Falle Kafkas bewährt sie sich gelegentlich: „Die ,Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande‘ erzählen also von einem Bräutigam, der am liebsten ein Junggeselle bleiben würde“ (S. 25). Dieser Verlobte ist gleichfalls der Autor und Held der „Briefe an Felice“. In seinen „Sudelheften“ notiert Georg Christoph Lichtenberg: „Der Mensch schreibt absolut immer gut wenn er sich schreibt, […].“ Und Kafka schreibt vor allem „sich selbst“. Er ist „Literatur“, sein Leben findet sich in den von ihm geschaffenen Erzählungen wieder, aber auch umgekehrt: Die Literatur bestimmt seine Weltsicht: Das Leben, bevor es in Prosagestalt aufgezeichnet wird, wird selbst bereits zu einer ein wenig fiktiven Schöpfung, und er folgt ihm und durchlebt es wie einen Roman: „Felice ist kaum wirklicher als die erfundenen Figuren, deshalb bewegt sie sich in unmittelbarer Nachbarschaft seines Schreibens“ (S. 90).
Manchmal fasst Safranski Interpretationen zusammen – das ist praktisch nicht zu vermeiden –, die schon lange allgemein bekannt sind, doch kommentiert er sie dann meist in origineller Weise: „Dieses verkommene Gericht, allgegenwärtig und zugleich undurchsichtig“, schreibt er von dem merkwürdigen Tribunal im „Process“, „ist interpretiert worden als Antizipation eines totalitären Zeitalters oder, in milderer Variante, als das Schreckbild einer verwalteten, bürokratisch normierten Welt. […] Diese gesellschaftliche und politische Dimension und die entsprechenden Ohnmachtsgefühle in einer totalitären oder einer verwalteten Welt sind gewiss in den Roman eingegangen, ebenso wie in den verborgenen und doch allgegenwärtigen Machtinstanzen des Gerichtes das schattenhafte Fortbestehen der in der säkularisierten Welt entleerten Transzendenz dargestellt wird“ (S. 114). Das scheint eine sehr treffende Formulierung zur Beschreibung der in dem Roman verborgenen religiösen Themen zu sein, welche diese ein wenig relativiert und der Wortwörtlichkeit entkleidet, die ihnen manche zuzuschreiben versuchen.
Safranski stellt etwas anderes heraus: die verborgene Handlungsfähigkeit des Josef K. in dem geheimnisvollen Gerichtsverfahren. Das Gericht wendet gegen ihn schließlich keinerlei Gewalt an, er selbst ist es, der sich seiner Macht unterwirft: […] es ist ja nur ein Verfahren, wenn ich es als solches anerkenne. Aber ich erkenne es also für den Augenblick jetzt an, aus Mitleid gewissermaßen. In diesem Moment hat Josef K. eigentlichen seinen „Process“ bereits verloren. Safranski kommentiert: „Die Macht des Gerichts lebt dann, so gesehen, von der Bereitschaft, sich ihr zu unterwerfen.“ Und verweist auf das, was der durchgehende Faden des Romans ist, sein eigentliches Thema: „Das Problem wäre dann nicht der Prozess, sondern die fatale Bereitschaft, sich irgendwie schuldig zu fühlen“ (S. 114f.). Ähnlich verhält es sich mit den Machthabern des „Schlosses“: „Die Macht des Schlosses lebt von dem Glauben an diese Macht.“ Und das Schloss bemüht sich um die Anerkennung durch seine Untertanen (S. 208f.).
Zu Anfang scheint Josef K. ziemlich rational zu reagieren, er ist rebellisch und „delegitimiert“ das Gericht, er will sich gar entschieden dessen Mangel an Legitimität widersetzen. Doch vor allem stellt er sich die Frage, „wie man es anstellen könnte, aus dem Prozess einfach auszusteigen“. Schließlich, nach dieser Phase der Rebellion, vollzieht er eine „Verinnerlichung des Prozesses“. Woher kommt dieser Änderung? „Der Ausgangspunkt dafür wäre der Argwohn, es könnte das Gefühl der Schuldlosigkeit selbst die Schuld sein“ (S. 115f.). Diese Anschauung ähnelt bereits den quasi-theologischen Exegesen des „Process“, die in Josef K. einen neuen Hiob sehen, dessen Sünde darin besteht, die Schuld der allgemeinen, gleichsam angeborenen Conditio humana als solcher zu ignorieren. In dieser Überzeugung wird Josef K. von dem katholischen Geistlichen im Dom bestärkt: Als K. zum wiederholten Male seine Unschuld beteuert, antwortet der Kaplan: so pflegen die Schuldigen zu reden (S. 116). Dem Helden des Romans, erst einmal ausgesöhnt mit der Rolle des „Schuldigen“, fällt es nachher nur noch zu, auf die beiden grotesk und theatralisch gewandeten Exekutoren zu warten, die das Urteil vollstrecken und dabei, durch die fast vollständige Bereitschaft K.s, sich dem Hinrichtungsvorgang zu unterwerfen, den Eindruck einer vieldeutigen, masochistischen Projektion des Selbstmords machen, ähnlich im Wesen dem Selbstmord, vorher begangen durch den Helden des „Urteils“, gleichfalls ohne Widerspruch des sich dem Todesurteil Ergebenden, das von seinem eigenen Vater ausgesprochen wird.
Safranski erwägt an dieser Stelle, möglicherweise zu ausführlich, noch andere in Frage kommende Deutungen: K. stellt sich selbst die Frage: „Könnte es nicht sein, […], dass er bisher ein falsches Leben geführt hat?“, und er „die Schuld existenzieller Selbstverfehlung“ kennenlernt, das heißt, dass das Gericht ihn aus dem Gefühl der Selbstsicherheit herausreißt und bei ihm eine „existentiellen Wende“ auslöst. Wenn wir diese Deutung akzeptieren, „wäre das Gericht eine innerliche Macht, die einen zu sich selbst herausfordert“ (S. 117). Überdies, wie Safranski in Erinnerung ruft, ging Kafka an die Arbeit am „Process“ kurz nach dem „Gerichtshof“ im Askanischen Hof in Berlin, während derer es zu der dramatischen und für ihn demütigenden Auflösung seiner Verlobung mit Felice Bauer kam; Reiner Stach hatte überlegt, ob Kafka nicht in der Gestalt des Fräulein Bürstner, also F. B., seine frühere Verlobte verborgen hatte. Und einer der Gründe für den Bruch war gewiss seine literarische Passion, das Schreiben, das allen anderen Verschuldungen vorausgegangen war. „Das Schreiben ist die Schuld“ (S. 122). Gemäß seiner Ankündigung vom Anfang des Buches, hält sich Safranski konsequent an die Linie, die er wohl zurecht als konstitutiv für Kafkas Biographie erachtet, nämlich das Schreiben und seinen „Kampf“ um dieses Schreiben. Diese Konsequenz bringt ihn jedoch manchmal in Regionen, in denen die Schlüsse des Autors dem Leser gelegentlich fraglich vorkommen mögen: „Es geht in diesem Text [In der Strafkolonie; Anm. T.Z.] um Schreiben, Schuld und Strafe, wenn auch im Vordergrund die Vision eines gesellschaftlichen Zustandes steht, in dem Schuldermittlung und Strafe zu einem totalen maschinellen Prozess geworden sind“ (S. 126).
Auf den ersten Blick könnte einem Safranskis Buch als eine Art Einleitung zu Kafka vorkommen, gedacht für Anfänger und mäßig Fortgeschrittene; allein die Anzahl der Inhaltsangaben zu den wichtigsten Werken des Schriftstellers würde eine solche Textkategorisierung nahelegen. Doch das wäre eine unvollständige Bewertung. Safranski trägt hier keine Eselsbrücken und die dazugehörigen Standarderklärungen zusammen, sondern liest Kafka auf seine Art, und wer weiß, ob nicht der größte Vorzug dieses Essays eine gewisse Unvollendetheit ist: Er liest sich augenblicksweise wie ein Entwurf, eine Sammlung von Schlagwörtern und Notizen, die den Leser dazu bringen soll, immer neue Fragen zu stellen und sich selbst auf die Suche zu begeben. Denn was heißt das eigentlich, beispielsweise, dass Josef K. seinen Prozess „verinnerlicht“? Und wieso ergeht es ihm damit im Gegensatz zum biblischen Hiob so schlecht? Ist seine Bereitschaft, sich dem Willen des „Gerichts“ zu fügen und an irgendein eigenes Verschulden zu glauben, eine Empfehlung oder eher eine Warnung? Mit solchen Fragen muss sich der Leser selbst auseinandersetzen, was übrigens ganz natürlich ist: In Auslegungen zu Kafkas Werken ist es schwer, sich an Dogmen und kategorische Wahrheitsbehauptungen zu klammern.
Safranski beendet sein Buch gemäß der Chronologie von Kafkas Schaffen mit einigen Überlegungen zu der letzten Erzählung des Schriftstellers, „Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse“, einer eigenartigen Parabel über das Verhältnis zwischen Künstler und Kunstkonsumenten, zwischen Kunst und Alltäglichkeit, schließlich darüber, was darüber entscheidet, ob Kunst in Erinnerung bleibt und nicht gemeinsam mit ihrem Schöpfer in Vergessenheit gerät, was den Ausschlag dafür gibt, dass sie zum „Meisterwerk“ wird. „Josefine verschwindet von der Bühne, und dieses Volk zieht weiter seines Weges. Was bleibt, ist eine Erinnerung an ihr Pfeifen. Doch, so heißt es am Schluss, war ihr wirkliches Pfeifen nennenswert lauter und lebendiger, als die Erinnerung daran sein wird? – Das aber ist bei Kafka selbst anders. Die Erinnerung an ihn, sein Nachleben in seinen Schriften, ist lauter und lebendiger, als er in seinem Leben je war“ (S. 234). Aber wie das eigentlich genau vor sich geht, dass jemand nicht allein die Chance erhält, im kulturellen Gedächtnis zu überdauern, sondern zum Achttausender der Weltliteratur wird? Auch mit dieser Frage lässt Safranski den Leser allein. Und das ist leicht zu begreifen: Es ist eine Frage, die sich heute nur, wenn überhaupt, „im vertrauten Kreise“ stellen lässt.
Alle Zitate nach:
Rüdiger Safranski: Kafka. Um sein Leben schreiben, München: Hanser, 5. Aufl. 2024.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann