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Wie die ukrainische Kursk-Operation China herausfordert

Die früheren Aufrufe Pekings zu einem Waffenstillstand zwischen Moskau und Kyjiw haben nach der ukrainischen Besetzung westrussischer Gebiete neue Bedeutung erlangt. Ein chinesischer oder anderer nicht-westlicher Vorstoß für eine Feuerpause und russisch-ukrainische Verhandlungen könnte nun zu sinnvollen Friedensgesprächen führen.

Das bislang unerwartet erfolgreiche und tiefe Eindringen der Ukraine in russisches Staatsgebiet seit dem 6. August 2024 hat die Diskussion über den Russisch-Ukrainischen Krieg verändert. Die wichtigste internationale Auswirkung, die die ukrainische Überraschungsaktion letztendlich haben könnte, ist jene auf offiziell neutrale Länder, einschließlich China. Der Westen hat die Ukraine bisher unterstützt und wird dies auch weiterhin tun – unabhängig von der Kursker Operation und ihrem Ausgang. Dahingegen wird eine längere ukrainische Besetzung rechtmäßigen russischen Staatsgebiets zu einer neuen Dimension in der nicht-westlichen Betrachtung des Krieges führen.

So sie nicht schnell und vollständig von Moskau rückgängig gemacht wird, verändert die ukrainische Offensive die Position Kyjiws in hypothetischen Verhandlungen, die seit Beginn des Krieges im Jahr 2014 von vielen dritten Akteuren offiziell gefordert werden. Bislang musste sich Kyjiw in seiner Kommunikation mit ausländischen Partnern ausschließlich auf moralische und rechtliche Argumente stützen, die sich auf die regelbasierte Weltordnung bezogen. Jetzt hingegen wird eine weniger normativ geprägte, eher transaktionaler und einfacher „Land gegen Land“-Tausch zwischen Russland und der Ukraine theoretisch möglich.

Ukrainisch-russische Verhandlungen vor Kursk

Die militärisch-politische Konstellation vor der Kursker Operation hatte wiederholt zu für Kyjiw ungünstigen Verhandlungsformaten und von Moskau vorformulierten Waffenstillstandsvereinbarungen geführt – ob nun im bi- oder multilateralen Rahmen. Die mit vorgehaltener Waffe von Kyjiw erpressten Minsk-I- und Minsk-II-Abkommen von 2014 und 2015 sowie die folgenden Gespräche standen unter dem Motto „Frieden im Tausch für Souveränität“. Die Minsker Vereinbarungen sahen zwar vor, dass Kyjiw schließlich wieder partielle Kontrolle über die von Russland besetzten Teile des Donezker Bassins (Donbass) zurückerhalten hätte. Dies wäre jedoch im Rahmen der Minsker Vereinbarungen nur möglich gewesen, wenn Kyjiw die Kollaborateure Moskaus in der Ostukraine zu legitimen Akteuren innerhalb des ukrainischen Gemeinwesens gekürt hätte.

Das Instrument des Kremls zur Umsetzung dieses neokolonialen Plans zur Unterwanderung der Ukraine im Zeitraum 2014-2021 waren die in den beiden Knebelverträgen vorgesehenen Pseudowahlen im Donbass. Kurioserweise sollte der ukrainische Staat lokale und Regionalwahlen in ostukrainischen Gebieten durchführen, die während des Abstimmungsverfahrens weiterhin unter Kontrolle Moskaus stehen würden. Ein solches Spektakel wäre vom Kreml in ähnlicher Weise manipuliert worden, wie russische „Wahlen“ im eigenen Land. Die Souveränität der Ukraine wäre durch russische Agenten als politische Vetospieler in Kyjiw und im Donbass eingeschränkt worden. Die annektierte Halbinsel Krim wurde aus den Minsker Gesprächen von Anfang an herausgehalten.

Die Istanbuler Gespräche im Jahr 2022 standen unter dem Motto „Frieden im Tausch für Sicherheit“. Das bedeutete, dass Moskau nur dann bereit war, seine „spezielle Militäroperation“ in der Ukraine zu beenden, wenn Kyjiw erheblichen Einschränkungen ukrainischer Verteidigungsfähigkeit und internationaler Einbettung zustimmte. Die offensichtliche Absicht des Kremls war es, die nationale Sicherheit des ukrainischen Staates grundlegend zu schwächen, ihn von seinen ausländischen Partnern zu isolieren und militärisch verwundbar zu machen. Der Entwurf des Istanbuler Abkommens sah zwar vor, dass der Ukraine Sicherheitsgarantien gegeben werden sollten. Doch würde Russland ein Vetorecht behalten, das es ihm ermöglicht hätte, internationale Hilfe für die Ukraine zu blockieren. Infolgedessen wäre die Ukraine entweder ein neues Nachkriegsfinnland, ein Satellitenstaat nach dem Vorbild der „Volksrepubliken“ des Sowjetblocks oder ein zweites Weißrussland geworden – und vor allem eine leichte Beute bei einer erneuten russischen Invasion. Das Scheitern der Istanbuler Gespräche führte im September 2022 zur illegalen Annexion vier weiterer südostukrainischer Regionen durch Russland.

In der nächsten Phase ging Russland zur rechtsnihilistischeren Strategie „Frieden im Tausch gegen Land“ gegenüber der Ukraine über. Nach diesem seit 2024 kolportierten Vergleichsvorschlag des Kremls soll die Ukraine nicht nur ihre Souveränität einschränken, sondern auch der Annexion der besetzten ukrainischen Gebiete durch Russland zustimmen müssen. Außerdem verlangte der Kreml von Kyjiw, die nicht besetzten Teile der vier von Russland annektierten ukrainischen Festlandregionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson an Moskau zu übergeben. Der Kreml warnt durch seine Sprecher und Propagandisten gleichzeitig, dass die Alternative zu diesem Vorschlag die Fortsetzung des völkermörderischen Krieges Russlands bis zur vollständigen Vernichtung des ukrainischen Staates sei – ob mit oder ohne Massenvernichtungswaffen.

Das nahende Minsk-III

Diese russischen Ansätze werden seit 10 Jahren vom Kreml in verschiedenen Massenmedien, öffentlichen Foren und internationalen Organisationen kontinuierlich propagiert. Infolgedessen wurden sie von vielen dritten Akteuren implizit oder sogar explizit aufgegriffen. Die Unterstützer des russischen rechtlichen und normativen Nihilismus gegenüber der Ukraine reichen von westlichen pazifistischen Gruppen und selbsternannten „Realisten“ über die internationale radikale Rechte bis hin zu Vertretern des so genannten Globalen Südens.

Mit jedem Jahr, in dem die russische Besetzung ukrainischer Gebiete seit 2014 anhält und sich ausweitet, wurde die Idee einer – zumindest gewissen – Aufgabe von Territorium und/oder Souveränität durch die Ukraine weltweit populärer. Allerdings haben frühere Zugeständnisse, die Moldau, Georgien und die Ukraine in der Vergangenheit mit Russland gemacht haben, nicht dazu geführt, dass diese Länder, wie mit Moskau vereinbart, die Kontrolle über ihre Staatsterritorien wiedererlangt haben. Auch haben diese früheren Abkommen zwischen Moskau und seinen ehemaligen Kolonien nicht zu Frieden in Europa geführt. Dennoch sehen viele, wenn nicht sogar die meisten westlichen und nicht-westlichen politischen und intellektuellen Eliten in ukrainischen „Kompromissen“ den Königsweg zur Beendigung des Krieges und dauerhaften Konfliktlösung.

Als Russland im Jahr 2024 in der Ostukraine militärische Erfolge verbuchen konnte, zeichnete sich immer mehr ein Minsk-III-Abkommen mit neuen Einschränkungen der territorialen Integrität und politischen Unabhängigkeit der Ukraine am Horizont ab. Dies geschah vor dem Hintergrund anhaltender internationaler Ignoranz gegenüber Russlands Irredentismus in der Vergangenheit sowie Naivität bezüglich des künftigen russischen Imperialismus. Viele Beobachter glauben bis heute, dass ein weiterer Happen Land – nach Transnistrien, Abchasien, „Südossetien“, der Krim und Teilen der Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson – das unverständliche russische Krokodil endlich satt machen wird.

Die Wahrnehmung des Krieges neu formatieren

Seit dem 6. August versucht Kyjiw, diese Konversation grundlegend zu ändern, indem es entschlossen neue Fakten vor Ort schafft. Mit ihrer Kursk-Operation will die Ukraine von den zweifelhaften „Souveränität/Sicherheit/Land gegen Frieden“-Deals wegkommen und zu einem intuitiveren Gebietstausch übergehen. Dieser Idee zufolge ist die Ukraine bereit, die von Russland eroberten Gebiete zurückzugeben. Allerdings nur wenn Russland im Gegenzug die ukrainischen Gebiete, die es seit 2014 besetzt hat, aufgibt.

Dies bringt Putin in eine schwierige Lage: Einerseits ist und bleibt der fortgesetzte Kontrollverlust Moskaus über legitimes russisches Staatsgebiet eine Blamage für den Kreml. Andererseits sind die annektierten ost- und südukrainischen Gebiete gemäß der 2014 und 2022 revidierten russischen Verfassung nun auch offizielles Eigentum Russlands.

Für den Großteil der russischen Elite und Bevölkerung ist die Wiederherstellung der vollen Kontrolle Moskaus über das rechtmäßige geografische Terrain Russlands wichtiger als die dauerhafte Besetzung illegal erworbener Gebiete, die der Rest der Welt weiterhin als ukrainisch betrachtet. Die Integration der annektierten Gebiete in den russischen Staat und die russische Wirtschaft ist zudem kostspielig und wird es auch in Zukunft bleiben. Die illegalen Annexionen ukrainischer Gebiete werden die Entwicklung Russlands weiterhin behindern, indem sie Ressourcen abziehen und die westlichen Sanktionen aufrechterhalten.

Der nicht-westliche Faktor

Die neue ukrainische Strategie seit dem 6. August verschafft nicht nur den Tauben in der russischen Führung, sondern auch Partnern Russlands auf der internationalen Bühne – vor allem China – zusätzliche Einflussmöglichkeiten. Gemäßigte Kräfte in den russischen Ministerien und Kabinetten ausländischer Staaten, die an einer Beendigung des Krieges interessiert sind, können nun argumentieren, dass die ukrainischen Annexionen im Austausch für die Wiederherstellung der territorialen Integrität Russlands rückgängig gemacht werden sollten. Die Idee eines solchen Land-gegen-Land-Deals wird mit jeder weiteren Woche, in der die Ukraine ihre eroberten Gebiete in Russland halten kann, an Popularität gewinnen. Zumindest wird der Druck auf Putin zunehmen, die verlorenen Gebiete endlich wieder unter Moskaus Kontrolle zu bringen – sei es mit militärischen oder diplomatischen Mitteln.

Wenn Russland die ukrainische Invasion nicht mit konventionellen Waffen rückgängig machen kann, könnte es zwar versuchen, dies durch den Einsatz von Atom- oder anderen Massenvernichtungswaffen zu erreichen. Eine solche Maximaleskalation würde jedoch in der gesamten internationalen Gemeinschaft Widerhall finden und den Charakter des Krieges grundlegend verändern. Der Ausgang der 2022 gestarteten „militärischen Spezialoperation“ würde damit nicht nur für Kyjiw, sondern auch für Moskau und die Welt vollkommen unvorhersehbar werden. Selbst russische Partner wie China und Indien könnten sich gegenüber einem gänzlich unberechenbaren Moskau neu positionieren – eine Entwicklung, die für die russische Wirtschaft katastrophal wäre.

Für die Stabilität des russischen politischen Regimes und Staates sind sowohl weitere ukrainische Demütigung in Kursk als auch nukleare Eskalation im Krieg riskante Perspektiven. Beide Szenarien sind vermutlich auch in Peking und anderen nicht-westlichen Hauptstädten unerwünscht. Vor diesem Hintergrund gewinnt ein Land-gegen-Land-Deal, auch wenn er derzeit von Moskau abgelehnt wird, an Bedeutung. Falls die Ukraine auch weiterhin russische Gebiete besetzt hält, dürfte eine diplomatische Lösung nicht nur für Teile der russischen Elite, sondern auch für ausländische Regierungen immer mehr zur bevorzugten Konfliktlösung werden. Die entscheidende Frage ist, ob und wann nicht-westliche Länder, die sich offiziell neutral positionieren, zu Unterstützern eines gerechten Friedens werden.

Schlussfolgerungen

Eine Reihe offiziell neutraler Staaten hat sich in den letzten zweieinhalb Jahren für ein sofortiges und bedingungsloses Ende der Kämpfe und Friedensverhandlungen zwischen Moskau und Kyjiw ausgesprochen. So erwähnt Chinas 12-Punkte-Friedensplan vom Februar 2023 unter den Punkten 4 und 5 einen Waffenstillstand und die „Aufnahme von Friedensgesprächen“. Der gemeinsame brasilianisch-chinesische 6-Punkte-Friedensplan vom Mai 2024 schlägt in Punkt 2 vor: „Alle Parteien sollten die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme des direkten Dialogs schaffen und auf eine Deeskalation der Lage bis zur Verwirklichung eines umfassenden Waffenstillstands drängen. China und Brasilien unterstützen eine internationale Friedenskonferenz, die zu einem angemessenen, sowohl von Russland als auch von der Ukraine anerkannten Zeitpunkt abgehalten wird und an der alle Parteien gleichberechtigt teilnehmen, sowie eine faire Diskussion aller Friedenspläne.“

Bislang implizierten diese Vorschläge eine mehr oder weniger weitreichende ukrainische Befriedigung der russischen Gebietsansprüche. Seit Anfang August dieses Jahres hat die Ukraine mit der Eroberung russischen Staatsgebiets die Grundlage für ein transaktionales Abkommen – und nicht mehr einen ungerechten Frieden – zwischen den beiden Staaten geschaffen. Die Eine-Million-Dollarfrage ist nun, ob und wie offiziell pazifistische und verhandlungsfreundliche nicht-westlichen Länder, allen voran China, auf diese neuartige Situation reagieren.

Freilich haben Wladimir Putin und andere Vertreter des russischen Regimes deutlich gemacht, dass der Einmarsch der Ukraine in Russland Verhandlungen unmöglich gemacht hat. Diese Änderung der 10-jährigen öffentlichen Befürwortung russisch-ukrainischer Friedensgespräche durch den Kreml ist wenig überraschend. In der gegenwärtigen Situation bedeutet ein Waffenstillstand nicht mehr notwendigerweise eine mehr oder minder Kapitulation der Ukraine unter dem Deckmantel einer diplomatischen Lösung.

Jetzt wären Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine erstmals sinnvoll, denn beide Länder haben Territorien zu gewinnen und zu verlieren. Damit verlieren die Friedensgespräche aber auch ihre Funktion für den Kreml. Moskau war und ist weiterhin darauf aus, den Krieg durch einen mehr oder minder klaren militärischen und/oder diplomatischen Sieg über Kyjiw zu beenden, und nicht durch eine für beide Seiten akzeptable Lösung.

Russland ist jedoch wirtschaftlich und technologisch in hohem Maße von ausländischer Unterstützung abhängig, vor allem von der Chinas. Einige der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Verbündeten Russlands wie Nordkorea, Iran oder Syrien sind zwar an einem Sieg Russlands interessiert, wenn nicht an der Fortsetzung des Krieges als solchem. Andere Länder, die Russland mehr oder weniger freundlich gesinnt sind, wie China, Indien oder Brasilien, könnten dagegen widersprüchliche innen- und außenpolitische Interessen haben, die entweder für eine Fortsetzung des Krieges oder für einen möglichst baldigen Frieden sprechen.

Die kommenden Wochen werden zeigen, wie stark die pazifistischen versus bellizistischen Neigungen in verschiedenen relevanten nicht-westlichen Hauptstädten sind. Werden Peking und/oder andere mächtige nicht-westliche Akteure bereit und in der Lage sein, die Gelegenheit zu ergreifen, um Moskau zu einer Feuerpause zu bewegen? Sind Länder wie China, Indien und Brasilien stark genug an Frieden interessiert, um ihren internationalen Einfluss geltend zu machen und Russland an den Verhandlungstisch zu zwingen? Die ambivalente Situation, die seit Anfang August 2024 entstanden ist, könnte die letzte Chance sein, weitere Eskalation und eine Ausweitung des Krieges über die russisch-ukrainische Frontlinie hinaus zu verhindern.

 

 

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Andreas Umland

Andreas Umland

Dr. Andreas Umland studierte Politik und Geschichte in Berlin, Oxford, Stanford und Cambridge. Seit 2010 ist er Dozent für Politologie an der Kyjiwer Mohyla-Akademie (NaUKMA) und seit 2021 Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) des Schwedischen Instituts für Internationale Beziehungen (UI).

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