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Polen und Deutschland: Wie ist Vertrauen wiederzugewinnen?

Nachdem im Herbst letzten Jahres die proeuropäische Koalition des 15. Oktober die Parlamentswahlen gewonnen hatte, gingen die Menschen in Polen weithin davon aus, dass sich die deutsch-polnischen Beziehungen rasch wieder verbessern würden. Nur wenige Kommentatoren äußerten den Vorbehalt, es könne Gründe geben, welche die Rückkehr zur strategischen Partnerschaft vor der Regierungsübernahme durch die Vereinigte Rechte 2015 erschweren würden. Sie sahen Differenzen vor allem in den Ansätzen Warschaus und Berlins in Fragen der Sicherheits- und Migrationspolitik und bei der Weiterentwicklung Europas.

Nach acht Jahren der PiS-Regierung wurde die im Wahlkampf geforderte Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen in den ersten Monaten der von Ministerpräsident Donald Tusk geführten Mitte-Links-Regierung zur Tatsache. Doch mit der Zeit wird immer deutlicher: Die Anschauungsunterschiede hemmen jene für das krisengeschüttelte Europa so notwendige Rückkehr zur strategischen Partnerschaft sehr viel stärker, als zu erwarten war. Das gilt nicht nur für die Sicherheitspolitik. Zudem nehmen die innenpolitischen Probleme, mit denen sich Bundeskanzler Olaf Scholz und Ministerpräsident Donald Tusk herumschlagen müssen, einen großen Teil der Aufmerksamkeit beider Regierungschefs in Anspruch.

Am Anfang war Begeisterung

Der Wahlausgang in Polen wurde in Berlin mit Begeisterung aufgenommen. Scholz leitete seine Bundestagsrede vom 13. Dezember 2023, dem Tag, an dem die neue polnische Regierung vereidigt wurde, mit einem Glückwunsch an Tusk und einem Angebot zur Zusammenarbeit ein. Gemeinsam mit Polen werde Deutschland die bilateralen Beziehungen wie die Europäische Union weiterentwickeln und die Ukraine unterstützen, erklärte der Bundeskanzler und lud den polnischen Ministerpräsidenten zu einem zeitnahen Besuch in Berlin ein. Bei der Bundestagsdebatte schlossen sich CDU-Chef Friedrich Merz und Vertreter anderer Fraktionen spontan den Glückwünschen an.

Trotz der Einladung rang sich Tusk nicht zu einem raschen Besuch in Berlin durch und brach dadurch mit einer informellen Tradition, welche die engen Beziehungen herausstellt. 2007 war Donald Tusk bei Beginn seiner ersten Amtszeit als polnischer Ministerpräsident binnen nichtmals eines Monats nach seinem Amtseid in die deutsche Hauptstadt gereist. Scholz stellte sich wenige Tage nach Übernahme des Kanzleramts im Dezember 2021 in Warschau ein, ähnlich wie Angela Merkel es 2005 gehalten hatte. Bundespräsident Horst Köhler wählte 2004 Warschau und nicht Paris zum Ziel seiner ersten Auslandsreise.

Tusks vorsichtiger Umgang mit Deutschland

In seinen Kontakten mit Deutschland zeigt Tusk seit Beginn seiner Amtszeit große Vorsicht. Die polnische Rechte wirft dem Vorsitzenden der Bürgerplattform (PO) Willfährigkeit gegen Berlin vor, und der Vorsitzende von Recht und Gerechtigkeit (PiS) Jarosław Kaczyński nannte ihn im Sejm in aller Öffentlichkeit einen „deutschen Agenten“. „Deutschland hat hier [in Polen] seine Regierung“, behauptete der Führer der polnischen Rechten am 10. August bei einer Pressekonferenz in der Parteizentrale von PiS. Nach Auffassung Kaczyńskis ist die Bürgerplattform „eine ausländische Partei, eigentlich eine deutsche Partei, die deutsche Interessen umsetzt“. Die Anschwärzung und Beleidigung Tusks gehören seit Jahren zum Standardrepertoire von PiS-Politikern und Kommentatoren in den rechtsgerichteten Medien.

Der PO-Chef ist sich im Klaren darüber, wie schnell jeder seiner als deutschfreundlich aufgefassten Äußerungen und Fingerzeige eine Hasswelle der veröffentlichten Meinung auslösen kann. „Er [Tusk] will aber, so scheint es, möglichst wenig Tête-à-Tête mit dem westlichen Nachbarn. Er will Deutschland in einem weiteren europäischen oder auch regionalen Kontext begegnen“, so die Vorhersage von Janusz Reiter, vormals polnischem Botschafter in Deutschland, in einem Kommentar für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ drei Tage nach Vereidigung des Ministerpräsidenten.

So war es sicher kein Zufall, als Tusk in seiner mehr als zweistündigen Regierungserklärung vor dem Sejm Deutschland kein einziges Mal erwähnte. Und seine erste Reise nach Berlin trat er erst am 12. Februar 2024 an, zwei Monate nach Amtsantritt.

Sikorski brandmarkt PiS für deutschfeindliche Mythenbildung und Hirngespinste

Der polnische Außenminister Radosław Sikorski bezeigt größere Freiheit in seinen Äußerungen zum Thema Deutschland. „Deutschland ist ein demokratischer Nachbarstaat, unser größter Handelspartner, ein wichtiger europäischer Akteur, ein zentraler Verbündeter in der NATO. Warschau und Berlin brauchen einander“, sagte der Außenminister am 25. April in einer programmatischen Rede im Sejm, wobei er PiS vorwarf, eine konfrontative Politik mit Berlin zu betreiben und „schädliche Mythen“ über die westlichen Nachbarn zu kreieren. Aber selbst er gestand ein, die polnische Regierungskoalition vertrete in vielen Fragen von der Bundesrepublik abweichende Ansichten. Trotzdem stellte er heraus, beide Länder seien aufeinander angewiesen.

In den ersten Monaten der neuen Regierung erlebte Warschau einen wahrhaften Andrang deutscher Minister. Zu den Politikern aus Berlin, die persönliche Kontakte mit der neuen Regierungsmannschaft knüpfen wollten, zählten Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck, Justizminister Marco Buschmann sowie Verteidigungsminister Boris Pistorius. Es sieht fast so aus, als ob die polnischen Gesprächspartner diese Kontakte nicht allzu sehr publik machen wollten. Buschmann hatte beispielsweise ein Gespräch mit Journalisten gleich vor dem Justizministerium in strömendem Regen.

Erste Personalentscheidungen – ein Signal an Berlin

Während er lautstarke Bekundungen vermied, signalisierte Tusk der deutschen Seite seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mittels Personalentscheidungen. Der frühere Botschafter in Berlin Marek Prawda wurde Staatssekretär im Außenministerium, und der Breslauer Historiker und Deutschlandexperte Krzysztof Ruchniewicz wurde Beauftragter des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Polen für die deutsch-polnische zwischengesellschaftliche und grenznahe Zusammenarbeit. Beide hatten sich schon lange Zeit intensiv für die Verständigung und Zusammenarbeit mit Deutschland eingesetzt. Die polnische Botschaft in Berlin wird von Jan Tombiński geleitet, einem der erfahrensten polnischen Diplomaten. Schlüsselpositionen in den deutsch-polnischen Stiftungen, die bisher durch von der PiS-Partei nahestehenden Personen kontrolliert wurden, wurden mit Befürwortern der deutsch-polnischen Verständigung besetzt.

Den beiden Regierungen gelang es im Eiltempo, einige wichtige Fragen einer Lösung zuzuführen, die zuvor aus politischen Gründen von PiS blockiert worden waren. Polen stellte den deutschen muttersprachlichen Unterricht für die deutsche Minderheit im vollen Umfang wieder her. Das deutsch-polnische Geschichtsbuch wurde für den Unterricht an polnischen Schulen zugelassen. Ein kostenloses Zugticket für Jugendliche wurde eingeführt. Auch beim polnischen Sprachunterricht in Deutschland gibt es Fortschritte zu verzeichnen. Diese Beispiele bezeugen die Rückkehr zur Normalität, doch bis zu Projekten, die eine neue Etappe der Kooperation markieren könnten, ist es noch ein weiter Weg.

Die schwierige innenpolitische Lage beider Länder steht mutigen internationalen Initiativen, die zusätzliche Kosten verursachen würden, eher im Wege. Die deutsche Koalitionsregierung hatte jüngst in sehr schwierigen Verhandlungen den Bundeshaushalt für 2025 zu verabschieden. Kritik an der Arbeit der Koalition aus SPD, Grünen und FDP und am Bundeskanzler selbst sorgt in der Koalition ein Jahr vor den Bundestagswahlen für Unruhe. In Polen erweist es sich als weit schwieriger als angenommen, den Staat nach der PiS-Regierung wieder auf das richtige Gleis zu bringen, und die Koalitionsregierung aus KO, Drittem Weg und Neuer Linken ist weniger geschlossen als erhofft. Tusk wurde durch spektakuläre Niederlagen geschwächt, so etwa durch die Ablehnung des Gesetzes zur Straffreiheit von Abtreibungen im Sejm. Die justizielle Aufarbeitung der Skandale der Vorgängerregierung verläuft langsamer, als es sich die Wähler der demokratischen Koalition wünschen würden.

Wie ist das von PiS gesäte Misstrauen zu überwinden?

„Meine Hoffnung, nach dem Regierungswechsel würde sich eine neue Dynamik einstellen, hat sich in vielen Bereichen nicht ganz erfüllt, und das betrifft ebenso die deutsch-polnischen Beziehungen. Die toxische Sprache ist auf Regierungsebene verschwunden, der permanente Zustand der Anspannung ist vorüber, aber auf die für Polen wichtigste Frage, wozu wir enge Beziehungen und Zusammenarbeit mit Deutschland brauchen, gibt es bisher keine Antwort“, sagt Janusz Reiter dem DIALOG.

Ohne Antwort auf diese Grundsatzfrage werde es schwierig, mehr zu erreichen als die Umsetzung einzelner Projekte. „Ohne das wird nichts Größeres in die Wege geleitet“, warnt der frühere Diplomat.

„In Polen besteht weiterhin ein tiefsitzendes Misstrauen wie auch der Verdacht, die Zusammenarbeit mit Deutschland sei den polnischen Interessen abträglich. Solange die Polen nicht verstehen, dass sie die Zusammenarbeit nicht deshalb brauchen, weil Deutschland oder EU das so wollen, sondern weil sie polnischen Interessen entgegenkommt und ohne sie Polen nur Nachteile hat, solange wird es schwierig bleiben, einen Durchbruch zu erzielen“, meint Reiter.

Seiner Auffassung nach existiert solch eine Blockade nicht nur auf der Ebene der Zentralregierungen, sondern sogar in den Regionen, wodurch die Zusammenarbeit mit Deutschland auf der Stelle trete. Die Politiker in den Regionen seien vorsichtig, weil sie wüssten: Nach jeder deutschfreundlichen Äußerung kann augenblicklich eine Lawine von Anschuldigungen über sie niedergehen und niemand wird ihnen daraus heraushelfen. „Niemand wir sie in Schutz nehmen, denn alle haben Angst“, meint der frühere Botschafter, der als Autor heute in Deutschland und Polen publiziert. Das Misstrauen sei ein Erbe aus der PiS-Zeit, doch habe die Kaczyński-Partei es nicht geschaffen noch erfunden. Vielmehr habe es sich zur Zeit ihrer Regierung enorm verschärft; so sei es zu einer gängigen Einstellung in der polnischen Öffentlichkeit geworden.

Diese Einschätzung Reiters wird von dem CDU-Abgeordneten Knut Abraham geteilt, der von einem Gift spricht, welches PiS der jetzigen Regierung hinterlassen habe. „Kaczyński hat mit einigen Tropfen das ganze Fass der deutsch-polnischen Beziehungen vergiftet. Dieses Gift macht es schwer, die strategische Partnerschaft wieder aufzubauen“, betont der frühere Diplomat, der bis 2021 eine leitende Stellung in der bundesdeutschen Botschaft in Warschau bekleidete.

Der deutsch-polnische Dialog nach dem Diktat Kaczyńskis

Eine ähnliche Meinung vertritt Piotr Buras, Chef des Warschauer Büros des European Council on Foreign Relations (ECFR). „Die deutsch-polnischen Beziehungen sind eine Geisel des von PiS vorgegebenen Diskurses. Die von Jarosław Kaczyński geführte Partei definiert die Parameter der Diskussion. Tusk hat panische Angst vor dem Vorwurf, er sei deutschfreundlich“, stellt der Politologe fest. Können aber das Misstrauen der Polen gegenüber den Deutschen und Tusks Befürchtungen das langsame Tempo beim Wiederaufbau der deutsch-polnischen Partnerschaft zur Gänze erklären?

Neue Kräfteverhältnisse: ein anderer Tusk, ein anderes Deutschland

Die deutsch-polnischen Beziehungen befinden sich heute an einer ganz anderen Stelle als 2015, als die Bürgerplattform nach ihrer Wahlniederlage die Regierung abgeben musste. Die entschlossene Haltung Warschaus in den ersten Monaten nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine stärkte Polens Position, obwohl die Behauptung der Medien sicher stark übertrieben war, das Entscheidungszentrum habe sich nach Osten verlagert. Auch Tusk hat sich als Politiker verändert, da er inzwischen die Erfahrung als Präsident des Europäischen Rats (2014–2019) mitbringt und seit dem 15. Oktober sich des Wahlsieges über die Rechtspopulisten von PiS rühmen kann.

Dagegen hat das internationale Prestige Deutschlands infolge der in die Katastrophe mündenden beschwichtigenden Russlandpolitik gelitten. Die Strategie, Russland wirtschaftlich und politisch stark an Deutschland zu binden, um die Aufkündigung dieser Verbindungen für den Kreml zu schmerzhaft und daher unwahrscheinlich zu machen, erwies sich als völlig fehlgeleitet. Berlin hatte den Kriegsplänen Wladimir Putins nichts entgegenzusetzen, und Scholz’ letzter Kremlbesuch vor Kriegsausbruch kam einer Demütigung gleich. Durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts ausgelöste Probleme mit dem Haushalt und Streitigkeiten über den Haushaltsentwurf für 2025 innerhalb der Koalition haben Scholz’ Regierung zusätzlich geschwächt.

Bilaterale Konsultationen – Durchbruch oder Enttäuschung?

Die bilateralen Regierungsgespräche sollten für die deutsch-polnischen Beziehungen eine neue Tür öffnen. Die polnische Regierung setzte durch, diese Konsultationen am 2. Juli 2024 in Warschau abzuhalten, obwohl turnusgemäß eigentlich die Deutschen hätten Gastgeber sein sollen, weil schon das vorherige Treffen 2018 in Warschau stattgefunden hatte. Obwohl der Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit von 1991 festlegt, dass die Gespräche jedes Jahr stattfinden sollen, hatten sich die beiden Regierungen sechs Jahre lang nicht getroffen.

Der bei den Gesprächen verabschiedete „Aktionsplan“ beeindruckt durch Umfang und Themenzuschnitt, leidet aber an Allgemeinheit und Unverbindlichkeit. Auf vierzig Seiten sagen beide Regierungen die Fortentwicklung der Zusammenarbeit auf allen erdenklichen Gebieten zu – von der Geschichtspolitik über Sicherheits-, Verteidigung‑ und Grenzpolitik bis zu Schüleraustausch, Gesundheitsschutz, Strafverfolgung, Sport, Touristik und Wissenschaft.

Die Zusicherung weiterer Hilfe für die Ukraine nimmt breiten Raum ein; dazu gehören Sanktionen gegen Russland, die Unterstützung der ukrainischen Diaspora, Gegenmaßnahmen gegen russische Sabotageakte und die Unterstützung der Ukraine bei der Annäherung an die EU. Ganz am Schluss werden noch Klima und Umweltschutz thematisiert, mit denen sich eine Arbeitsgruppe befassen soll.

Sind zwei Monate später bereits positive Ergebnisse der Konsultationen zu sehen? Nach einer langen Zerrüttung der Beziehungen könne man nicht erwarten, alles finde gleich zur Normalität zurück und die Missverständnisse und Enttäuschungen werden vergessen sein. Dazu brauche es Zeit, meint in einem Interview mit dem Deutschlandfunk Dietmar Nietan, der Koordinator der Bundesregierung für deutsch-polnische zwischengesellschaftliche und grenznahe Zusammenarbeit. Ein gewaltiger Schritt vorwärts sei getan worden, und dies sei eine gute Nachricht, fügt der SPD-Abgeordnete hinzu.

„Die Konsultationen bilden einen guten Ausgangspunkt. Meinem Eindruck nach haben jedoch beide Seiten den Termin zu schnell abgehakt und sich ein wenig auf ihren Lorbeeren ausgeruht. Dazu sind aber politischer Wille und politisches Kapital nötig. Die Anstrengungen müssten jetzt noch erhöht werden“, konstatiert Knut Abraham. Ihm zufolge seien beide Regierungen zu sehr mit innenpolitischen Problemen beschäftigt, um sich noch eine zusätzliche schwierige Aufgabe aufzuladen. Für ihn steht das Vertrauen im Mittelpunkt: „Es ist leicht zu verlieren und schwer wiederzugewinnen“, bemerkt der CDU-Politiker und ergänzt, Deutschland werde solange kein Vertrauen zurückgewinnen, wie die Frage der Entschädigungen offenbleibt.

Die Entschädigung der Kriegsopfer bleibt auf der Tagesordnung

Lange vor den Gesprächen war klar: Die polnischen Erwartungen im Hinblick auf die finanziellen Entschädigungen für noch lebende Opfer des Krieges und der deutschen Besatzung würden nach dem Regierungswechsel nicht von der deutsch-polnischen Agenda verschwinden. Sowohl Tusk als auch Sikorski gaben der deutschen Seite deutlich zu verstehen, sie erwarten eine „kreative Lösung“.

Während seines ersten Berlinbesuchs räumte Tusk ein, die Reparationsfrage sei „im formalen, rechtlichen, internationalen Sinne“ seit vielen Jahren gelöst, doch die Frage der moralischen, finanziellen und materiellen Entschädigung sei nie beantwortet worden. Der Ministerpräsident kam nach den Regierungsgesprächen bei einer Pressekonferenz auf das Thema zurück. Der von der Geschichte erzwungene Verzicht auf Reparationen ändere nichts an der Tatsache, wie viele Verluste an Menschen, Vermögen und Gebieten Polen erlitten habe. Deutschland sei bereit, die Kriegsopfer zu entschädigen, betonte er: „Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.“

Das Ausbleiben einer konkreten Lösung dieser Frage warf einen Schatten auf die Konsultationen. Inoffiziellen Informationen zufolge schlug die deutsche Seite zweihundert Millionen Euro als Entschädigung für noch lebende Kriegsopfer vor, deren Zahl auf 60.000 bis 80.000 geschätzt wird. Polen soll diesen Vorschlag für unzureichend erklärt haben. Der Teufel stecke im Detail. Beide Seiten hätten beschlossen, noch eine Runde zu verhandeln und an der Lösung zu feilen, anstatt etwas auf den Tisch zu legen, was nicht völlig durchdacht sei, findet Nietan.

Wie er darlegt, arbeitet die deutsche Seite an einem Paket, das einerseits die Entschädigungen für die Kriegsopfer umfasst, andererseits die deutsche Verantwortung für die Sicherheit Ostmitteleuropas und die Ausführung des Projektes für das Deutsch-Polnische Haus als Gedächtnisort in Berlin. Nietan hofft, die Deutschen werden sich für das Ergebnis nicht schämen müssen.

„Die Deutschen verstehen nicht, wie heikel für Tusk die Beziehungen zu Deutschland innenpolitisch sind“, führt Buras aus. „Tusk muss gegen die Deutschen Härte zeigen und braucht Erfolge.“ Die deutsche Politik sei sich nicht bewusst, wie wichtig diese Gesichtspunkte sind. Als Beispiel führt Buras an, Scholz habe bei der Pressekonferenz nach den Regierungskonsultationen die von der polnischen Seite erhobene Forderung übergangen, die Errichtung eines Denkmals für die polnischen Opfer von Krieg und Okkupation zu beschleunigen, ohne dabei auf die Umsetzung des Gesamtprojektes Deutsch-Polnisches Haus zu warten. „Die Deutschen verstehen nicht, wie wichtig es für die Polen ist, dass ein Erinnerungsort schnell entsteht“, meint Buras.

Entschädigung oder Sicherheit?

Wie ist der Stillstand zu überwinden? In dem Versuch, den von der polnischen Rechten oktroyierten Diskurs zu überwinden, wonach der Normalisierung der Beziehungen mit Berlin die Zahlung von Reparationen oder Entschädigungen in Milliardenhöhe vorausgehen müssten, erklärt die Tusk-Regierung, nicht allein die Aufarbeitung der Kriegsschäden sei ein Maß für den Wert des Bündnisses mit Deutschland, sondern auch, was Deutschland heute tue, um Europa und Polen vor einem Krieg zu bewahren, nämlich in Verteidigung zu investieren.

„Diese Position hat sich in der öffentlichen Meinung noch nicht durchgesetzt“, bemerkt Buras. „Dazu müssten die Deutschen ein deutliches Zeichen setzen“, fügt der Politologe hinzu und erinnert an seinen Artikel „U-Boote statt Reparationen“ veröffentlicht im Februar dieses Jahres in der Internetausgabe der „Zeit“. „Natürlich müssen das nicht unbedingt U-Boote sein, es kann ein anderes Waffensystem sein. Es geht um ein starkes Signal.“

In der aufgrund von Russlands Angriff auf die Ukraine angespannten internationalen Lage steht gleichermaßen für Polen wie für Deutschland Sicherheit an erster Stelle. „Die Sicherheit Polens ist die Sicherheit Deutschlands“, verkündete Scholz in Warschau. Der Bundeskanzler sowie SPD-Chef Lars Klingbeil gaben wiederholt zu verstehen, Deutschland strebe eine Führungsrolle in der europäischen Sicherheitspolitik an.

Die von Scholz nach Kriegsausbruch verkündete „Zeitenwende“ in der deutschen Sicherheitspolitik, gestützt von der Einrichtung eines Sondervermögens für die Bundeswehr in Höhe von einhundert Milliarden Euro, war ein guter Ausgangspunkt für weitere Schritte, die jedoch entweder gar nicht oder mit Verspätung folgten. Kann Polen den deutschen Versprechungen trauen? Der unlängst stattgefundene EU-Gipfel offenbarte Diskrepanzen bei der gemeinsamen Finanzierung von Militärprojekten wie dem Ankauf von Waffen. Scholz sprach sich dagegen aus, die EU zu diesem Zweck Kredite aufnehmen zu lassen.

Beunruhigende Diskussion in der SPD über US-Raketen

Die Diskussion in Scholz’ Partei, der SPD, über die deutsche Verteidigungspolitik beunruhigt die am stärksten durch die russische Aggression gefährdeten Länder der Ostflanke der NATO – die baltischen Staaten und Polen. Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Rolf Mützenich und andere Politiker des linken Parteiflügels stellen sich den von Scholz in Washington abgestimmten Plänen entgegen, ab 2026 auf deutschem Gebiet US-amerikanische Langstreckenraketen zu stationieren, und warnen vor einem Vergeltungsschlag Russlands. Die Gegner der Raketenstationierung werfen dem Bundeskanzler vor, er habe die Entscheidung auf dem unlängst stattgefundenen NATO-Gipfel ohne Rücksprache mit Partei und Bundestag getroffen.

In diesem Jahr erfüllte Deutschland das Ziel von zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts an Ausgaben für Verteidigung, doch in den nächsten Jahren droht diese Marke erneut nicht erreicht zu werden. In den Wahlkämpfen vor den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg vermieden die Parteien der Regierungskoalition und die CDU aus Angst vor den prorussischen Parteien, nämlich der rechtsextremen AfD und dem linksextremen BSW, die offene Unterstützung der Ukraine und riefen sogar zur Einstellung der Waffenlieferungen auf.

All das ist dem Image Deutschlands als Führungsnation bei der europäischen Sicherheitspolitik nicht gerade förderlich. Im August dieses Jahres brachte die deutsche Presse Meldungen über eine vom Kanzler verhängte Blockade von Zusatzausgaben für Militärhilfen an die Ukraine, die über die im Haushalt vorgesehenen und bereits einkalkulierten 7,5 Milliarden Euro im laufenden und vier Milliarden Euro im nächsten Jahr hinausgehen. „Deutschland wird in der Unterstützung der Ukraine nicht nachlassen“, vergewisserte Scholz zwar am 21. August während eines Besuchs in Moldawien, doch der von den innerparteilichen Auseinandersetzungen in der SPD verursachte schale Nachgeschmack bleibt. „Auf wessen Seite steht Deutschland heute eigentlich?“, fragt der frühere polnische Außenminister Jacek Czaputowicz in einem Kommentar für die „Rzeczpospolita“. Die Antwort ist keineswegs allen klar.

Ist auf Deutschland Verlass?

Knut Abraham meint, Deutschland müsse in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik mehr unternehmen, um das Vertrauen der Polen zu gewinnen. „Trotz der ,Zeitenwende‘, trotz der zusätzlichen Waffenkäufe für die Bundeswehr, angebrachter Erklärungen und Staatsbesuche müssen die Deutschen Beweise dafür liefern, dass sie wirklich verstanden haben, wie sich die Lage verhält und welche Schlüsse zu ziehen sind“, meint der CDU-Abgeordnete.

Die Äußerungen Mützenichs und anderer SPD-Politiker haben verhängnisvolle Folgen, denn sie gießen in Polen Wasser auf die Mühlen derjenigen, die meinen, die Deutschen machten aller Welt nur etwas vor, während sie schließlich doch auf Russland setzten, so Abrahams Warnung.

Zusätzlich wird Öl ins Feuer gegossen von vormaliger SPD-Prominenz wie Klaus von Dohnanyi, der in der „Zeit“ den Vereinigten Staaten die Schuld am Kriegsausbruch in der Ukraine gibt. Bei der Gelegenheit zitierte der 96-jährige die Äußerung Egon Bahrs, Architekten der „Ostpolitik“ und rechte Hand Willy Brandts, der 1981 nach Ausrufung des Kriegszustands in Polen behauptete, Frieden sei wichtiger als Polen. Ist diese Denkweise einer abtretenden Generation von Sozialdemokraten nur noch ein Relikt der Vergangenheit?

Es wird ein Nachfolger für Wolfgang Schäuble gebraucht

In Deutschland fehlt gegenwärtig ein einflussreicher politischer Fürsprecher wie in vergangenen Jahren der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble. Der im Dezember letzten Jahres verstorbene frühere Innen- und Finanzminister sowie Bundestagspräsident gemahnte seit langer Zeit an die Bedeutung Polens für die Zukunft der Europäischen Union und sprach sich dafür aus, den östlichen Nachbarn in den Kreis der Länder aufzunehmen, die in Europa strategische Entscheidungen treffen. In seinen posthum veröffentlichten Erinnerungen kritisiert der CDU-Politiker die Deutschen für ihre Neigung, wie ein besserwisserischer Demokratielehrer Polen von oben herab zu behandeln. Bei deutschen Politikern und Medien fehle großteils immer noch das Verständnis für die Wichtigkeit der deutsch-polnischen Beziehungen für Europa, so Schäuble.

Die deutsch-polnischen Beziehungen sind nach wie vor leicht aus der Balance zu bringen. Selbst der kleinste Vorfall, aufgeblasen von der rechten Opposition und den rechten Medien, kann sich zu einem internationalen Skandal auswachsen, mit dem sich die politischen Führungen beider Länder zu befassen haben. Als Beispiel sei die Gruppe von afghanischen Flüchtlingen genannt, die von der deutschen Polizei im Juni dieses Jahres über die Grenze nach Polen verbracht wurden, wobei sämtliche für solche Fälle vorgesehenen Prozeduren unter den Tisch fielen. Doch die Änderung im Vergleich zur PiS-Regierung besteht darin, dass die nunmehrige Regierung solche Vorfälle nicht als Vorwand für eine Propagandaattacke auf Deutschland benutzt, sondern nach einer pragmatischen Problemlösung sucht.

Ein weiteres Beispiel für diese neugewonnene Pragmatik ist der Fall des Ukrainers Wolodymyr Sch., der im Zusammenhang mit dem Angriff auf die Ostsee-Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 mit internationalem Haftbefehl gesucht wird. Deutsche Medien werfen der polnischen Staatsanwaltschaft vor, bei der Vollstreckung des Haftbefehls saumselig und passiv gewesen zu sein, woraufhin der in Polen ansässige Tatverdächtige in die Ukraine entkommen konnte. Tusk reagierte scharf auf die Vorwürfe. „Das Einzige, was ihr heute tun solltet, ist, euch zu entschuldigen und still in der Ecke zu sitzen“, schrieb der Ministerpräsident auf X den „Initiatoren und Schutzpatronen“ der Pipeline ins Stammbuch.

Vielleicht gemeinsame Austragung der Olympischen Spiele?

Werden Polen und Deutschland fähig sein, sich über die laufende Politik zu erheben und ein Projekt zu entwickeln, das beide Nationen großartig finden? Der aus Polen stammende CDU-Abgeordnete Paul Ziemiak setzt sich für die Idee einer deutsch-polnischen parlamentarischen Versammlung ein. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Innenministerin Nancy Faeser kündigte Anfang August an, Deutschland werde sich um die Austragung der Olympischen Spiele von 2040 bewerben. Kurz darauf gab Tusk eine ähnliche Erklärung ab und nannte die Jahre 2040 oder 2044 als realistische Perspektive. Könnten nicht beide Länder, anstatt um die Nominierung zu konkurrieren, sich gemeinsam um die Veranstaltung des wichtigsten Sportereignisses bemühen? Die engen Wirtschaftsbeziehungen und die ständig wachsenden Handelsumsätze böten eine gute Grundlage für eine solche Initiative. Vielleicht könnte gerade ein solches Projekt den Umbruch bewirken und endlich sicherstellen, dass die Zukunft nicht länger von der Vergangenheit überlagert wird. Ein Präzedenzfall wenngleich von viel bescheidenerem Zuschnitt findet sich leicht – die EURO 2012, die vor zwölf Jahren gemeinsam von Polen und der Ukraine veranstaltete Fußballeuropameisterschaft.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann


Dieser Artikel ist in der neuesten Ausgabe (Nr. 147) des Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG erschienen.

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Jacek Lepiarz

Jacek Lepiarz

Jacek Lepiarz ist Germanist, Historiker und Journalist. Er arbeitet mit der Deutschen Welle zusammen. Zuvor war er Berlin-Korrespondent der Polnischen Presseagentur sowie Warschau-Korrespondent der DPA.

Ein Gedanke zu „Polen und Deutschland: Wie ist Vertrauen wiederzugewinnen?“

  1. Die Beziehungen von Deutschland zu Polen hat sich gut entwickelt. Ich gehe dabei vom Dreiländereck Deutschland-Polen-Tschechien aus. Unterstreichen kann ich das durch ehrenamtliche Engagements bzw. die Beteiligung an grenzüberschreitenden Projekten.
    Zudem bin ich Mitglied in der Deutsch-Polnischen Gesellschaft, die sich sehr wohl für Polen einsetzt !!!

    Unsere deutsche Regierung unter Führung der SPD mit Bundeskanzler Olaf Scholz an der Spitze halte ich für vertrauenswürdig – entgegen aller anderen Behauptungen, die möglicherweise von Oppositionskräften ausgehen.
    An Olaf Scholz schätze ich vor allem, dass er besonnen ist und abwägt. Gegen Polen ist er jedenfalls nicht eingenommen. Denn für ihn hat Großzügigkeit im internationalen Maßstab incl. Polen höchste Priorität !

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