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Gespräche mit Frau Lieselotte

Frau Lieselotte sah mich eine längere Weile aufmerksam und offenbar mit einigem Zaudern an.

„Ich wurde in Kolberg geboren“, sagte sie schließlich, „in Kolopschegg, wie man heute sagt…“

Als sie erst einmal bekannt hatte, Kołobrzeg, das zeitens ihrer Kindheit noch Kolberg hieß, sei ihre Geburtsstadt, löste sich merklich ihre Zunge, und sie erzählte mir viel davon, wie es sich vor dem Krieg in der Stadt lebte und was dort passierte, als der Krieg ausbrach und dann sein düsteres Ende nahm. Ohne ihre Genugtuung zu verbergen, sprach sie davon, welch eleganter Urlaubsort die Stadt in den dreißiger Jahren war, welche distinguierten Gäste zur Sommerfrische an die See kamen oder zur Kur in den Sanatorien, und wie sie, ein kleines Mädchen im Vorschulalter, durch die Pfade in den Rosengärten lief und in den mit den exotischsten Pflanzen angefüllten Palmenhäusern der Stadtgärtnerei. Diese kaum vom Krieg gestörte Idylle dauerte bis 1942 an, bis zu dem Augenblick, da die Flächenbombardements der britischen und amerikanischen Bomber Lübeck und Rostock, später auch Köln, Essen und Bremen in rauchende Trümmerfelder verwandelten. Damals kamen in Kołobrzeg die ersten Transporte mit Waisenkindern an, die bei den Bombenangriffen verletzt worden waren und Brandwunden erlitten hatten.

„Unseren damaligen Machthabern schien es, Kolberg sei für die Kinder ein sicherer Ort, weil doch die Bomber der Alliierten nicht so weit nach Osten kommen würden“, sagte Frau Lieselotte. „An die Gefahr aus Richtung Russland dachten sie wohl überhaupt nicht… Bestimmt, weil in dieser Zeit, im Sommer 1942, die Wehrmacht in Sewastopol einmarschierte und auf Stalingrad losging und die Generäle planten, in den Kaukasus vorzustoßen. Die Russen kamen uns so weit weg und so schwach vor, und niemand hätte im Traum daran gedacht, dass sie schon ein halbes Jahr später unseren Truppen eine schreckliche Niederlage beibringen würden. Geschweige denn davon gesprochen. Mein Vater war Hauptmann, und sie haben ihn damals dahin geschickt. Und irgendwo dort wurde er begraben…“

Ich geriet ins Nachdenken, dass sie, wenn sie davon sprach, wer 1942 die Entscheidungen in Nazideutschland traf, die Formulierung „unsere damaligen Machthaber“ gebrauchte; nicht „Hitler“, nicht „die Nationalsozialisten“, nicht „die NSDAP“, sondern „unsere damaligen Machthaber“. Als ob die Herrscher über die Deutschen so etwas wie eine äußere Macht waren. Und als ob es sich um sehr weit zurückliegende Zeiten handelte. Und es frappierte mich, dass sie, als sie den Tod ihres Vaters erwähnte, nicht das Verb „fallen“ benutzte oder zumindest „umkommen“, aber unterbewusst oder vielleicht auch ganz bewusst betonte, dass seine Leiche in einem näher nicht bezeichneten Ort an der Wolga bestattet wurde („irgendwo dort wurde er begraben“). Der Bestattungsakt wurde dadurch wichtiger als die Gründe seines Ablebens.

„Ja, das waren unglückliche Zeiten“, murmelte ich.

Aber ich war ein wenig verärgert und spürte, dass ihre Neigung zu bedauern, was den Deutschen passiert war, mir jetzt eine zartfühlende Entgegnung abverlangte: „1942 verhaftete die Gestapo meinen Vater, und gleich darauf wurde er ins Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt…“

Das war das erste unserer ernsten Gespräche, und ich spürte noch lange danach das Bedürfnis, meine Gedanken zu ordnen. Von meiner Ausbildung her war ich Historiker, und mein Kopf war gefüllt mit unzähligen Daten und Beschreibungen historischer Vorgänge, aber erst nach diesem Gespräch wurde mir gefühls‑ und verstandesmäßig klar, wie unterschiedlich ein und dieselbe Vergangenheit im Gedächtnis verschiedener menschlicher Kollektive haftet. Das Jahr 1942 bedeutet für die Polen die Eskalation des Naziterrors und der Beginn der massenhaften Ermordung der polnischen Juden; es ist das Jahr, in dem die Gaskammern von Treblinka in Betrieb genommen wurden. Und die Deutsche im Gespräch mit mir bezog das Jahr 1942 auf die auf deutsche Städte und Zivilisten fallenden Bomben. Was mochten wohl die Engländer von diesem Jahr in Erinnerung haben? Bei den Angriffen auf Deutschland verloren sie durch Abschuss mehr als eintausend Bomber mit mehreren tausend Besatzungsmitgliedern. Hatten sie etwa 1942 als Jahr des Massakers an RAF-Piloten in Erinnerung? Aber in derselben Zeit kämpften sie bei El Alamein gegen Rommel, vielleicht nahm also das mehr ihre Aufmerksamkeit in Anspruch? Wer immer die Geschichte aufzeichnet, von dessen Standpunkt wird es abhängen, wie verzerrt das Register der Ereignisse ausfällt. Das hätte mir vorher klar sein sollen, aber wie sich zeigte, muss ich schon direkt mit Menschen konfrontiert sein, die die Geschichte am eigenen Leib erlebt haben, damit ich solche Selbstverständlichkeiten begriff.

Bei anderer Gelegenheit sprachen wir darüber, was im März 1945 passiert war, und meine Perspektive auf die Vergangenheit verschob sich dabei wieder ein wenig. In meiner Magisterarbeit hatte ich davon geschrieben, wie im ersten halben Jahr nach dem Krieg und dann in den ausgehenden vierziger Jahren in Kołobrzeg die polnischen Behörden entstanden. Was sich kaum ein paar Monate zuvor ereignet hatte, davon schrieb ich so gut wie gar nicht. Ich stellte nur fest, dass die polnische Verwaltung von den Russen einen großen Trümmerhaufen übernahm, aber ich ließ mich weiter nicht darüber aus, wieso sich die Stadt in einem solchen Zustand befand. Mein Gutachter hatte mich übrigens auch nicht dazu ermutigt. Daher interessierten mich die Einzelheiten nicht weiter, wie die Deutschen die Stadt verteidigt hatten. Aus den nebenher gemachten Bemerkungen der Erwachsenen, die ich als Kind zu hören bekam, hatte ich nur ein nebelhaftes Bild von Chaos und Unglück gewonnen, und später hatte ich nie weiter nachgefragt, um mir genauere Vorstellungen machen zu können. Aber für Frau Lieselotte war der März 1945 in Kołobrzeg, damals noch Kolberg, einer der prägendsten Augenblicke ihres Lebens, und in ihrer Erinnerung sind ihre persönlichen Erlebnisse tief haften geblieben, wie das Panorama der ihrem Untergang entgegengehenden Stadt.

„Kolberg war damals mit Menschen überfüllt“, sagte sie. „Die Leute flohen vor der Roten Armee nicht nur aus Pommern, viele kamen sogar aus Ostpreußen bis zu uns… Sie flohen zu Tausenden, mit den Kindern, mit dem, was sie von ihren Habseligkeiten mitnehmen konnten, einige auf Pferdefuhrwerken, andere zu Fuß. Und diese Völkerwanderung kam nach Kolberg hinein, das ihnen als letzte Festung vorkam, die sich der Flut aus dem Osten entgegenstellen konnte. Es war schon ständig winterlich kalt, und nur wenige fanden eine einigermaßen anständige Unterkunft, die meisten hausten in den Kirchen, unter den Haustoren und in den Treppenhäusern, in den Lagern des Hafens und der Fabriken. Die Plätze nahe am Bahnhof waren umkämpft, weil es ab und an hieß, dass noch ein Zug nach Stettin abfuhr, und einige schafften es, auf einen solchen Zug zu kommen. Aber auch dieser Weg war seit dem 3. März abgeschnitten, weil der Zug, der an dem Tag abfuhr, nach gut zehn Kilometern auf russische Panzer stieß, die die Gleise blockierten. Wer uns gegen die Russen verteidigen sollte, gegen die Russen oder die Bolschewiken, wie man sagte, denn dass auch eine polnische Armee gegen uns im Anmarsch war, wusste schließlich niemand, also diese unsere Verteidiger machten einen erbärmlichen Eindruck. Eigentlich war das ein zusammengewürfelter Haufen. Überreste von Infanterieeinheiten auf dem Rückzug, die bei Kämpfen in Pommern zerschlagen worden waren, ein paar Gendarmen und Polizisten, Volkssturm aus Jüngelchen und Alten mit Panzerfäusten, Seeleute von der Marinebasis, ausländische Freiwillige von der Waffen-SS, das waren Franzosen aus der Charlemagne-Division und Letten aus der Lettland-Division. Die erinnerten wirklich überhaupt nicht mehr an die straffen, mit dem Absatz auf das Pflaster knallenden Soldaten, die wir bei den Paraden gesehen hatten. Sie sahen erschöpft, unwillig, vielleicht sogar völlig niedergeschlagen aus. Bei dem Anblick war schwer zu glauben, die würden uns den Endsieg bringen…“

Sie fiel für einen Augenblick in Schweigen, als sie den von ihren Erinnerungen gezeichneten Bildern nachhing; und ich dachte an alle diese wehrlosen Zivilisten, nicht nur die Deutschen im belagerten Kolberg, die hofften, dass ihnen die tapferen Soldaten Schutz bieten würden und die eine bittere Enttäuschung erleben sollten. Die Verteidiger wurden besiegt, und in die eroberten Städte marschierten die mehr oder weniger brutalen Sieger ein. Als 1937 die Kaiserlich-Japanische Armee die chinesischen Truppen von Nanking zurückdrängte und die damalige chinesische Hauptstadt besetzte, wurden zwanzig‑ oder mehr tausend Frauen und Mädchen vergewaltigt, und die Zahl der ermordeten männlichen Zivilisten überstieg die 150.000. Junge japanische Offiziere veranstalteten Wettkämpfe im Abschlagen von Köpfen mit dem Katana, und der Geschickteste schaffte bei einer einzigen Exekution mehr als einhundert Köpfe. Ich könnte nicht genau erklären, wieso mir in diesem Augenblick Nanking in den Sinn kam, wovon ich vor Jahren bei einem Vortrag an der Uni gehört hatte. Vielleicht wurde mir klar, dass gewisse Abläufe der Eroberung unabhängig von Breiten‑ und Längengrad ganz ähnlich aussehen können, und Nanking bot ein besonders extremes Beispiel dafür.

„Kurz bevor die Kämpfe begannen, wurde der Befehl über die Verteidigung von Kolberg Oberst Fritz Fullriede übergeben, der sich im Afrikakorps verdient gemacht hatte“, nahm Frau Lieselotte ihre Erzählung wieder auf. „Und augenblicklich gab es um ihn herum eine Menge von Unklarheiten, Doppeldeutigkeiten und düsteren Geheimnissen. Denn seit Anfang 1945 war erwartet worden, Generalmajor Oskar Krapp würde das Kommando übernehmen, ein Bayer, der aber die Region gut kannte, weil er noch vor dem Krieg die Kommandantur des Truppenübungsplatzes Stolpmünde übernommen hatte…“

„Das heißt in Ustka“, warf ich ein.

„Also in Uschtka,“ sprach sie mir nach, „dann eben so. Krapp hatte dort einen guten Ruf, weil er am Ort eine Busverbindung eingerichtet, für den Bau von Wohnungen gesorgt und ein Kino gebaut hatte. Aber mit all seinen Generalstressen war er doch eigentlich mehr Beamter und Verwalter als Militär. Außerdem war er alt und krank. Er wurde schon 1943 in den Ruhestand versetzt, und ihn zwei Jahre später wieder in den aktiven Dienst zu holen, hätte eigentlich ein bisschen merkwürdig erscheinen können. In der Wehrmacht machte sich sicher schon damals der Mangel an Offizieren bemerkbar… Als also Fullriede das Kommando übernahm, wollte Krapp die Stadt schnellstmöglich verlassen und sich nach Hause nach Bayern begeben. Das brachte Fullriede dazu, ihm Feigheit vorzuwerfen und ein schlechtes Beispiel abzugeben, eigentlich Fahnenflucht, und nach einem lauten Streit soll er ihn persönlich erschossen haben. Obwohl einige sagten, Krapp habe aus Demütigung Selbstmord begangen. Und wieder andere, er sei an Bord eines Schiffs nach Stettin gegangen, und erst auf offener See hätten sie ihn über Bord geworfen, weil Fullriede der Besatzung vor dem Auslaufen dazu den Befehl gegeben habe. Jedenfalls verschwand Krapp, und die Leute erzählten sich die verschiedensten Gerüchte darüber…“

Sie schwieg wieder, und ich dachte mir, sie würde jetzt sicherlich in Gedanken die Gerüchte von vor einem halben Jahrhundert Revue passieren lassen. Vielleicht erinnerte sie sich noch an andere von Fullriede begangenen Missetaten, denn von denen erzählte sie mir einen Augenblick später.

„Kolberg wurde noch Ende November 1944 zur Festung erklärt. Aber das reichte nicht. Der Kommandant und seine Leute mussten einen besonderen Eid leisten, sie würden die Position ,bis zum letzten Blutstropfen‘ halten. Aber Fullriede weigerte sich. Er befahl, ihm einen Stempel anzufertigen, darauf stand unter seinem Namen: ,Oberst und Festungskommandant‘. Und nur, wer einen Passierschein mit einem solchen Stempel bekam, durfte sich auf das Hafenkai begeben und an Bord eines nach Westen fahrenden Schiffes gehen. Ich weiß, wie das aussah, weil meine Mutter, die, weil sie frisch verwitwet und ich Halbwaise war, auf Mitleid setzte und für uns einen solchen Passierschein ergatterte. Unser Schiff lief aus, als bereits die Granaten auf die Stadt fielen und immer mehr Brände ihren Schein warfen. Letztlich hatten wir viel Glück, weil dieses Schiff weder Swinemünde noch Stettin anlief, sondern gleich bis Stralsund fuhr, viel weiter nach Westen. Aber der Mutter reichte das noch nicht. Durch das zerfallende Land hasteten wir weiter Richtung Westen, durch das zerstörte Rostock, das zerstörte Lübeck und das noch stärker zerstörte Hamburg bis ins ausgebrannte Bremen, wo wir Verwandte hatten. So weit weg von den Russen wie möglich… Ich war noch keine sechzehn Jahre alt und hatte kein klares Bild von der Gefahr, aber meine Mutter plagten die schwärzesten Vorstellungen, was deutsche Frauen von Seiten der Russen erwartete…“

Wieder ging sie einen Moment lang ihren Gedanken nach, und anschließend ging ihre Erzählung ein wenig in eine andere Richtung.

„Fullriede floh auch. Er ließ seine Soldaten im Stich und fuhr mit dem Motorboot ab. Trotzdem bekam er für die Verteidigung der Stadt zum Ritterkreuz, das er schon hatte, noch das Eichenlaub dazu. Und noch zwei Wochen vor der Kapitulation beförderten sie ihn zum General. So viele Ehrungen im letzten Moment… Nach dem Krieg wurde er in Holland wegen Kriegsverbrechen verurteilt. Aber er saß nicht seine ganze Strafe ab, er wurde schon 1949 entlassen…“

 

Ein anderes unserer Gespräche, das mir auch im Gedächtnis haften bleiben sollte, hatte einen historischen Hintergrund, den ich kannte, aber Frau Lieselotte konnte noch etwas Neues dazu beitragen. Wie ich wusste, gehörte 1807 Kolberg zum Königreich Preußen unter König Friedrich Wilhelm III., und es widerstand der Belagerung durch Napoleons Truppen und die mit ihm verbündeten Sachsen, aber ich hatte keine Ahnung davon, dass diese entlegenen Ereignisse das Thema für eine von Goebbels letzten großen Propagandaaktionen abgab. Erst bei diesem Gespräch hörte ich von dem Monumentalfilm, der im Sommer 1944 in den Babelsberger Filmstudios in Berlin gedreht wurde, der letzte in Nazideutschland produzierte Spielfilm, für acht oder neun Millionen Reichsmark, in Farbe, auf dem neusten Agfacolor-Filmmaterial, mit tausenden Statisten und einem Zug mit einhundert Waggons mit Salz, das in den Winterszenen den Schnee abgab.

„Ich sah den Film zwanzig Jahre nach dem Krieg, als es wieder erlaubt war, ihn in unseren Kinos zu zeigen“, sagte Frau Lieselotte. „Denn vorher war es nicht gern gesehen, Filme aus dieser Zeit aufzuführen. Und bei diesem führte Veit Harlan die Regie, von dem haben Sie sicher gehört, das ist der mit ,Jud Süß‘. Der Film war extrem antisemitisch, deshalb war später alles, was er gedreht hatte, nicht gerade gut angesehen. Noch dazu waren Teile des Kolberg-Drehbuchs, die Ansprachen, die die beiden Helden Gneisenau und Schill halten, von Joseph Goebbels höchstpersönlich geschrieben worden. Rein aus kinematografischer Sicht sind diese Reden übrigens der schwächste Teil des Films, aber Goebbels wollte unbedingt dabei seinen Anteil haben, und Harlan konnte sicher nicht viel dagegen tun. Doch insgesamt ist das ein ganz guter Film. Diese großen Schlachtenszenen! Und die mitreißende Musik! Das war noch nach Jahren wirklich beeindruckend, als wir schon die viel späteren Großproduktionen aus Hollywood kannten. Die brave Maria, die sich in geheimer Mission nach Königsberg aufmacht, wurde von der schönen Kristina Söderbaum gespielt… Sie war Schwedin und Harlans Frau, er gab ihr in fast allen seinen Filmen die Hauptrolle. Das war also eine große Show!“, flocht sie ein englisches Wort ein, „Liebe und Heldentum, im belagerten Kolberg alle gemeinsam gegen Napoleon und die angreifenden Franzosen, wir werden uns nie ergeben, denn der Gedanke an Kapitulation kommt uns gar nicht erst in den Sinn, und ihre Deutschen von heute, treue Bürger des Dritten Reichs, nehmt euch daran ein Beispiel! Damals, 1945, als der Film fertig geschnitten war, wurde er am 30. Januar im Berliner Ufa-Kino am Alexanderplatz gezeigt, aus Anlass des zwölften Jahrestags der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Aber es gab noch eine Kopie, die nach La Rochelle gebracht wurde. Einige behaupten, mit dem U-Boot, andere, sie wurde mit dem Fallschirm abgeworfen. Weil La Rochelle damals schon von den Alliierten eingeschlossen war und von den übrigen deutschen Truppen abgeschnitten. Die Filmvorführung sollte die Moral der eingekesselten Soldaten heben…“

Diesmal sah ich keinen Grund dafür, mir auf die Zunge zu beißen. Im Sommer 1944 ging Warschau im Aufstand unter, und in derselben Zeit machten sich die Leute im Filmstudio in Berlin einen Spaß daraus, einen Monumentalfilm in Farbe zu drehen! Übrigens musste das auch den Deutschen selbst als reiner Wahnsinn vorkommen. Es waren nur Wochen seit der Bombardierung von Berlin durch die 8. US-Luftflotte vergangen, kaum ein paar Tage seit Claus von Stauffenbergs missglückten Attentat auf Hitler, die Alliierten waren schon in Rom und Paris, und die Rote Armee stand an der Weichsellinie; die von Nazideutschland gemachten Eroberungen gehörten der Vergangenheit an… Unterdessen spielten Tausende von Statisten in nachgeschneiderten preußischen Uniformen aus dem frühen 19. Jahrhundert im Licht von Scheinwerfern vor den Kameras Haschen mit Tausenden von Statisten, die als napoleonische Veteranen verkleidet waren.

„Denken Sie nicht, dass eine Filmproduktion in diesen Zeiten und unter diesen Umständen ein Symptom für eine Psychopathologie war?“, fragte ich. „Propaganda hat ihre eigene Gesetzlichkeit, aber es gibt vielleicht selbst in dieser Branche Grenzen. Und können Sie mir vielleicht erklären, wieso Sie diese Goebbels-Produktion anschauen wollten, sobald das wieder erlaubt war? Denn es ist kaum gesund, sich von der Kunst aus dieser Zeit faszinieren zu lassen.“

„Mich hat das keineswegs fasziniert“, entgegnete sie rasch und entschieden, und vielleicht hörte ich in ihrer Stimme sogar eine Spur Verärgerung. „Der Film hieß ,Kolberg‘, und das war für mich ein ausreichender Grund, um ihn anschauen zu wollen. Alles, was meine Heimatstadt betrifft, hat mich immer interessiert. Und der Sinn, so etwas in den letzten Kriegsmonaten zu drehen? Goebbels glaubte bis zum Schluss, mit Propaganda ließen sich die Leute bis zum Äußersten treiben, und Harlan war ein Opportunist, aber nicht ohne Talent. Regisseure und Schauspieler müssen auch im Krieg von etwas leben…“

Das war eines von den Gesprächen, bei denen zwischen uns eine gewisse Anspannung aufkam, vielleicht sogar ein wenig Abneigung. Ich wusste bereits, dass Frau Lieselotte keine freundliche Einstellung zu Nazideutschland und seinen Machthabern hatte und meinte, diese Zeiten seien schlecht für Deutschland gewesen. Und doch nahm ich in dem, was sie sagte, eine Scheu vor dem Eingeständnis wahr, dass alles Deutsche damals in einen Sumpf versunken war. Ich versuchte, sie zu einem solchen Eingeständnis zu bringen. Vielleicht wollte ich mich damit für die verlorene Jugend meines Vaters rächen. Oder ich war getrieben von Neid auf den deutschen Wohlstand nach dem Krieg, den es im durch den Kommunismus und durch Deutschlands Schuld unfreien Polen nicht geben konnte. Vielleicht reagierte ich auch nur meine eigenen Ressentiments als zweitklassiger Schreiberling ab, der sich einbildete, wäre es nicht zum Krieg und zur Zerstörung der Zweiten Republik Polen gekommen, dann wären sein Leben und seine Karriere unter völlig anderen Umständen und interessanter verlaufen. Sicher war es nicht sonderlich angebracht, dass ich mich für alle wahren oder vermeintlichen Benachteiligungen und Beleidigungen seitens der westlichen Nachbarn an einer Deutschen rächen wollte, die 1944 gerade mal sechzehn Jahre alt war. Aber in meiner Verbitterung nahm ich diese Ungereimtheit nicht wahr.

 

Auszug aus dem in Vorbereitung befindlichen Roman „Zmiana czasu w Berlinie“ (Zeitumstellung in Berlin).

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Dariusz Filar

Dariusz Filar

Professor an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Danzig, Redakteur und Publizist des „Przegląd Polityczny“.

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