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Kann Europa mit den Giganten mithalten?

Der frühere Chef der Europäischen Zentralbank Mario Draghi schlägt Alarm: Europa stehe vor existentiellen Herausforderungen und sei dem Wettbewerb mit den größten Wirtschaften der Welt nicht gewachsen. Draghi setzt auf Mobilisierung und eine gemeinsame Reaktion der Europäer. Doch ist es eher wenig wahrscheinlich, dass sein Aufruf irgendetwas bewirken wird.

Der frühere italienische Ministerpräsident hat im Auftrag der Europäischen Kommission einen Bericht erstellt. Dieser warnt, Europa fehle die Innovationskraft, und dass führe zu seiner Unfähigkeit, mit den Vereinigten Staaten oder China und anderen asiatischen Mächten auf den Weltmärkten zu konkurrieren. Draghis Auffassung nach böten noch größere Investitionen, gemeinsame europäische, in Innovation eine Lösung: Das heißt unter anderem in neue Technologien, nachhaltige Lösungen und Verteidigungsindustrie. Er nennt einen Betrag von 700 bis 800 Milliarden Euro im Jahr, der über eine gemeinsame europäische Schuldenaufnahme finanziert werden solle.

De facto fordert Draghi die Einrichtung eines zweiten EU-Budgets, also ein Modell, das die Europäische Union bereits einmal angewandt hat, als sie nämlich nach der Pandemie den Wiederaufbaufonds schuf. Der Unterschied bestünde darin, dass der Innovationsfonds jeweils für ein Jahr verabschiedet würde, nicht nur einmalig. Der frühere italienische Regierungschef stellt fest, es gebe nur eine Alternative zu diesem Modell: nämlich den allmählichen Bedeutungsverlust Europas, das weltwirtschaftlich immer weniger Gewicht hätte, mit der Folge zunehmender Verarmung für die Europäer. Ohne korrigierende Eingriffe würden die Europäer zusehends an Vermögen, an Sicherheit und daher auch an Freiheit bei der Gestaltung der eigenen Zukunft einbüßen, so Draghi bei einer Debatte im Europäischen Parlament.

Ist Europa zur weiteren Integration bereit?

Draghis Bericht ist alarmierend, doch ist seine Diagnose nicht neu. Vom Beginn ihres Bestehens an stützte sich die europäische Gemeinschaft darauf, dass ihre Mitgliedsstaaten ihre Potentiale miteinander verbanden und einen gemeinsamen Pool bilden, wobei sie auf einen Teil der Kontrolle über die jeweiligen eigenen Mittel verzichteten. Dieser Prozess hält nunmehr bereits mehr als siebzig Jahre an. Anfangs ging es dabei ausschließlich um die Wirtschaft, doch mit der Zeit bezog er soziale und politische Fragen ein. Im Fortgang der europäischen Verträge wurde eine immer stärkere Integration kodifiziert, und immer umfangreichere Areale der Gesellschaft wurden dem Gemeinschaftspool hinzugefügt. In vielen Mitgliedsstaaten, nicht nur bei den Europaskeptikern, sorgt diese Entwicklung jedoch inzwischen für wachsenden Widerstand und lässt die Integration längst nicht mehr so schnell fortschreiten, wie sich die Europaenthusiasten wünschen würden.

Seit längerer Zeit wird die wahrscheinlich wichtigste Debatte in der jüngsten Geschichte der EU geführt: Die Debatte zu einer gemeinsamen EU-Finanzpolitik. Dabei ist die Grundsatzfrage, ob und wenn ja, zu welchen Bedingungen sich die Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame Finanzpolitik einigen können? Ob sie sich darauf werden einigen können, nach der Vergemeinschaftung der Geldpolitik und der Schaffung einer europäischen Währung auch noch ihre Steuerpolitik unter gemeinsame Aufsicht zu stellen. Ob sie sich darauf einlassen werden, noch einen weiteren und sehr wesentlichen Bestandteil ihrer Souveränität in den Gemeinschaftspool einzubringen.

Mario Draghi zerstreut in seinem Bericht jegliche Zweifel dieser Art: Wenn Europa seine globale Konkurrenzfähigkeit und damit seine Spielräume erhalten will, habe es keine Wahl und müsse den nächsten Schritt zu einer noch engeren Integration machen.

Der italienische Ökonom ist sich völlig im Klaren darüber, welche Kontroversen seine Vorschläge auslösen, auf welche Ablehnung sie stoßen. Sein Land Italien war es schließlich, das die Schaffung einer gemeinsamen EU-Geldpolitik während des Verfalls der Eurozone dafür verantwortlich machte, einen Erdrutsch zu verursachen. Auf der Welle der gegen die EU gerichteten Proteste gegen die Geld‑ und Immigrationspolitik kamen die politischen Bewegungen auf, die heute in Italien an der Regierung sind. Dabei geht es natürlich nicht nur um Italien. Viele Länder waren zu Anfang gegen die Einrichtung des Wiederaufbaufonds nach der Pandemie, und es ist davon auszugehen, dass sie sich auch Draghis Konzeptionen entgegenstellen werden.

Dieser meint, sofortiges Handeln sei notwendig, weil Europa in Sachen moderner Technologien spät dran sei, weil europäische Firmen weniger für Forschung und Entwicklung ausgäben als ihre asiatische und US-amerikanische Konkurrenz und weil der Kontinent eine statische Industriestruktur besitze, die schon seit Jahrzehnten von immer denselben Unternehmen und Technologien beherrscht werde. Das Problem in Europa sei, dass neue, auf neuen Technologien aufbauende Firmen nicht gegründet würden. So gebe es keine einzige in den letzten fünfzig Jahren gegründete europäische Firma, deren Marktwert bei über einhundert Milliarden Euro liegt, sagte Draghi im Europäischen Parlament. Was dem im Wege stehe, sei die Abwesenheit eines integrierten Kapitalmarktes; das hemme die Innovationsbereitschaft.

Europa hört nicht auf Draghi

Die einzelnen Staaten sind zu schwach, um auf Augenhöhe mit China und den USA zu agieren. In einigen Sektoren sind Frankreich und Deutschland dazu in der Lage, doch im größeren Zusammenhang halten auch ihre innovationsfeindlichen und statischen Wirtschaften dem Druck der mächtigen Konkurrenz nicht stand. Die Europäische Union ist ein Gigant der rechtlichen Regulierung, denn diese wird von sämtlichen Mitgliedsstaaten entwickelt und ist auf einem großen und reichen Markt mit fast einer halben Milliarde Menschen verbindlich. Doch bei der Industriepolitik und den technologischen Innovationen spielt sie eine sehr viel geringere Rolle, denn hier kommt es meistens nicht zu einer Synergie der Möglichkeiten, weshalb der Größenvorteil (economies of scale) nicht genutzt werden kann.

Es spricht nicht viel dafür, dass sich dieser Stand der Dinge in der überschaubaren Zukunft ändern könnte. In Europa gibt es keine Neigung zu einer noch engeren politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Obwohl die europäischen Schrittmacher, allen voran die Franzosen, immer mal wieder kühne Visionen europäischer Unabhängigkeit und Souveränität entwickeln, bewegt sich Europa in dieser Richtung keinen Zoll vorwärts. Zwar sind Vorschläge im Umlauf, wie die Funktionsweisen der EU zu ändern wären, um Entscheidungsprozesse zu verschlanken, doch sind viele Länder dagegen. Strukturelle Wirtschaftsschwäche und das Fehlen einer Antriebskraft, sei es in Gestalt eines gemeinsamen ideologischen oder eben eines wirtschaftlichen Ziels, bewirken, dass Europa in seiner Gesamtheit immer weniger leistungsfähig wird.

Um einen Beweis dafür zu finden, braucht es nicht den Hinweis auf die Wirtschaftspolitik. Es wird bereits von Europas Schwäche während des Ukrainekriegs verdeutlicht, der schließlich gleich hinter den Grenzen der EU ausgetragen wird. Vor dem Krieg hatten einige europäische Länder noch Ideen, wie der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ausgeglichen werden könnte: Sie beharrten auf den Minsker Vereinbarungen, sprachen mit Kyjiw und Moskau und versuchten, den Konflikt unterhalb der Schwelle des uneingeschränkten Kriegs zu halten. Europa stand nicht geschlossen hinter diesem Ansatz, Frankreich und Deutschland allein waren jedoch nicht stark genug, um Moskau und Kyjiw zur Einhaltung der Vereinbarungen und Washington zu ihrer Unterstützung zu bewegen. Nachdem am 24. Februar 2022 der Krieg ausgebrochen war, sprach nur noch die militärische Gewalt, während die europäischen Länder ihren Einfluss auf die Lage in der Ukraine vollständig einbüßten. Europas Problem bestand nicht allein darin, dass Diplomatie der Logik der militärischen Gewalt wich, sondern, dass es sich als schwach und unentschlossen entpuppte. Es vermochte nicht, eine gemeinsame Antwort auf den Konflikt zu finden, wie er sich vor 2022 in der Ukraine entwickelte, und war nicht stark genug, um seinen Willen durchzusetzen. Wenn die USA, Russland und China sich schließlich dazu durchringen werden, sich an den Verhandlungstisch zu setzen, wird Europa lediglich als Gast ohne entscheidende Stimme zu den Verhandlungen geladen werden.

Der Draghi-Bericht baut auf einer solch pessimistischen Lageeinschätzung auf. Der frühere Chef der Europäischen Zentralbank und diejenigen, die seine Befürchtungen teilen, sind der Meinung, dass die europäische Schwäche und Ratlosigkeit im Hinblick auf die Ukraine nur andeuten, welche Probleme noch auf den Kontinent zukommen. Draghi entwirft das Bild eines Europa, dem die Luft wegbleibt und das von den Produkten und den neuen Technologien aus China, den Vereinigten Staaten und den erstarkenden asiatischen Ländern beherrscht wird. Er meint, dass diese Mächte das schwächelnde Europa immer leichter werden ausspielen können und schließlich das Ende des gemeinsamen, des in der Geschichte der Menschheit womöglich ehrgeizigsten Projekt herbeiführen werden. In Anbetracht dessen, dass Europa praktisch jeden Einfluss auf die Lage in der Ukraine verloren hat, liegt eine solche Zukunft absolut im Bereich des Möglichen. Zumal Europa heute politisch zu zerstritten ist, um Draghis Rat zu befolgen.

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Łukasz Gadzała

Łukasz Gadzała

Łukasz Gadzała, Redakteur beim polnischen onlineportal onet.pl, Absolvent der Warschauer Universität und der University of Birmingham. Seine Interessengebiete sind die Politik der Großmächte und die Theorie der internationalen Beziehungen.

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