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Von „Kriegsverlusten“ bis zu „Versöhnung und Aufbau“

Nach acht Jahren der PiS-Regierung benötigen die deutsch-polnischen Beziehungen eine Generalüberholung. Gelingt es nicht, sie wesentlich zu verbessern und zu vertiefen, gibt es für die Europäische Union keine Zukunft.

Die acht Jahre der Regierung von Recht und Gerechtigkeit haben die deutsch-polnische Versöhnung um Lichtjahre zurückgeworfen. Jarosław Kaczyński und seine Partei sahen den westlichen Nachbarn als politisch instrumentalisierbares Schreckgespenst. Deutschland wurde als heimlicher Strippenzieher in der Europäischen Union hingestellt, und ganz in der Tradition des polnischen Nationalismus wurde ihm unterstellt, aus Polen eine wirtschaftliche und kulturelle Kolonie zu machen. In seinen ganz an negative Emotionen appellierenden Tiraden bezichtigte der PiS-Vorsitzende Donald Tusk, der acht Jahre die Opposition in ihrem Kampf gegen die autoritäre PiS-Partei anführte, ein Agent Berlins zu sein. Aus Sicht Kaczyńskis und der Parteiideologen, als da wären Andrzej Nowak, Ryszard Legutko und Zdzisław Krasnodębski, hatte Deutschland niemals der Idee abgeschworen, das chimärische Mitteleuropa-Konzept aus der Zeit des Ersten Weltkrieges ins Leben zu rufen. Was die Haltung der PiS-Partei zu Berlin anging, unterschied sie sich nicht großartig von dem Begründer des polnischen Nationalismus Roman Dmowski (1864–1939) und dem Ersten Sekretär des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei in volkspolnischen Zeiten, Władysław Gomułka (1905–1982). Gleichviel in welcher historischen Gestalt, ob als Kaiserreich, als Nazideutschland oder als Bundesrepublik, folgte Deutschland in diesem Narrativ stets seinem ewigen „Drang nach Osten“. Seine Waffe dabei war mal das Schwert, mal der Panzer, aber auch die Reichsmark oder der Euro.

In Kaczyńskis Sicht steht Polen an einer Wegscheide. Sollte es seine enge Zusammenarbeit mit Deutschland fortsetzen, werde es ein schwacher und abhängiger Staat sein. Nur wenn Polen sich Deutschland widersetzt und es herausfordert, dann habe es eine Chance auf Größe und Macht. Die Europäische Union besteht in dieser Sicht nicht als autonome Entität, sondern ist lediglich eine Verlängerung der deutschen Staatsmacht, und alle Forderungen der EU an Polen wie etwa der Verzicht auf die Politisierung der Medien und die Beschränkungen der Medienfreiheit seien nur ein kaum verhülltes Komplott Berlins, um Polen auf seinem Weg zur Großmacht aufzuhalten. Ähnlich der Blick auf die Kritik an der PiS-Regierung, wie sie von den Medien verlautbart wurde. Wenn bei den Medien auch nur ein kleiner Anteil deutschen Kapitals zu finden war, bewies das aus Sicht Kaczyńskis, sie handelten im Auftrage Berlins, um sich Polen gefügig zu machen.

Namens einer von Donald Trump genährten Phantasmagorie über ein bilaterales Direktverhältnis zu den USA ließ sich daher Kaczyńskis Polen auf einen ständigen Konflikt mit der Europäischen Union ein. Durch die Brille des PiS-Vorsitzenden gesehen, war das nicht weiter überraschend. Denn Kaczyński bemisst andere ganz nach den eigenen Maßstäben. Weil er die Politik für ein einziges Nullsummenspiel hält, kann er in Kooperation keinen Sinn erkennen. Er rechnet stets damit, betrogen zu werden, Vertrauen in gute Absichten hält er für Naivität, denn nach diesen Regeln werde das Spiel gespielt. Wenn er die Nation nur ethnokulturell begreift wird und den Staat als die organisatorische Form, die sich die Nation verleiht, dann ergibt sich daraus logischerweise, dass übernationale Körperschaften lediglich eine dekorative Verhüllung der wahren Hierarchie sind, eine Verschleierung der Hegemonie eines der die Körperschaft bildenden Staaten. Wenn Kaczyński selbst die Medien als verlängerten Arm seiner politischen Kontrolle und Macht und zum Zweck der Verbreitung von Propaganda benutzt, ist es kaum verwunderlich, warum er anderen unterstellt, dasselbe zu tun. Wenn er Recht und Rechtsstaatlichkeit keinen Wert beimisst, dann nimmt er an, andere hielten es genauso, und alle Proteste zu ihrer Verteidigung seien nur ein hinterhältiger Plan, ein Bremsklotz, der den polnischen Staat in seinem Lauf zur Größe aufhalten soll.

Was aber sollen wir damit anfangen, war es doch für den unbeteiligten Beobachter oder auch so manchen an den Reibereien mit Warschau Beteiligten aus dem Westen, wie auf einen Patienten mit schweren Halluzinationen zu blicken? Der Patient irrt an der Spitze unsichtbarer Armeen gegen einen unsichtbaren Feind durch die Gärten der Heilanstalt, oder er führt Zwiegespräche mit den Geistern der Toten. Er selbst sieht sich als Gestalt von außerordentlicher, ja historischer Bedeutung. Der Beobachter sieht den Ärmsten im Delirium. Ist erst klar, dass die Demokratie wichtig für die Entwicklung ist, Recht und Rechtsstaatlichkeit Säulen der Demokratie sind, freie Medien ein Instrument der Regulierung und Kontrolle, das im Interesse aller Teilnehmer des politischen Prozesses eingesetzt wird, eine enge Zusammenarbeit bei Wirtschaft, Verteidigung, Energie und Migration den Wohlstand in Europa wachsen lässt, dann wird deutlich, wie paranoid und autoritär die Visionen der Ideologen von Recht und Gerechtigkeit sind und wie wenig sie dazu beitragen, den Herausforderungen entgegenzutreten, die sich unserem Kontinent stellen, wie destruktiv sie am schlechten Ende sind.

In einer Welt, in der die US-amerikanische Hegemonie ins Wanken geraten ist, hat Europa die Chance, sich zu einem selbständigen geopolitischen Zentrum zu entwickeln, das über das Potential verfügt, seinen Bürgerinnen und Bürgern ein weites Ausmaß an demokratischen Freiheiten zu erhalten. Dazu braucht es aber wechselseitiges Vertrauen und umfassende Zusammenarbeit in der Europäischen Union. Für Menschen von Kaczyńskis Schlag ist das ein Ding der Unmöglichkeit. Denn er wäre lieber ein König, und sei es im Wolkenkuckucksheim, als die Führungsgestalt einer Region oder Föderation, und zum Erhalt seiner vollen Macht, vermeintlich namens der stolzen polnischen Nation, wäre er bereit, die Zukunft Europas aufs Spiel zu setzen.

Der Regierungswechsel in Polen ist mithin nicht nur ein Vorgang, wie er nach Wahlen in demokratischen Ländern nun einmal vonstattengeht. Zum einen, weil Polen in den acht Jahren PiS-Regierung keine liberale Demokratie war, sondern sich weithin an politischen Vorbildern in Ungarn, der Türkei und Russland orientiert hatte. Zum zweiten, weil er nicht nur die Chance einer innenpolitischen Grundsanierung bietet, einer Aufarbeitung der Korruptionsaffären, des Nepotismus und der politischen Instrumentalisierung der Medien, sondern auch eines völligen Richtungswechsels in der Außenpolitik.

Denn acht Jahre lang beherrschten die konfrontative Einstellung und ideologische Feindseligkeit der polnischen Regierung gegenüber den Verbündeten in EU und NATO die Szene; das hatte ein gegen Europa orientierte Entwicklung und die Isolation Polens zur Folge. Wenn Europa aber mit dem Migrationsproblem, der Klimakrise und der energietechnischen Transformation fertig werden soll, darüber hinaus mit den Gefahren, die von Russland mit seiner militärisch gestützten Aggressionspolitik ausgehen, können keine partikularen Phantasien über einen regionalen Großmachtstatus, sondern nur Koordination, Stärkung der Verbindungen und Ausbau der Europäischen Union zu einer Föderation oder Konföderation die Chance bieten, die Krisen zu bewältigen und die EU zu einem gleichrangigen Partner der schwächelnden Vereinigten Staaten innerhalb des weitgefassten Westens zu machen.

Um der EU den nötigen Schwung zu geben, sollten wir zur Konzeption des Weimarer Dreiecks zurückkehren. In Anbetracht der aktuellen Gefahren sollte diese aber mehr sein als nur ein Forum für gute Wünsche und Absichtserklärungen. Die neue Offenheit der polnischen Außenpolitik verlangt nach symbolischen Gesten. 2015 bis 2023 gab es kaum eine lautstärker vorgetragene Frage als die nach den Kriegsreparationen, wie sie Recht und Gerechtigkeit von Deutschland verlangte. Es wurde eine von dem damaligen stellvertretenden Außenminister Arkadiusz Mularczyk geleitete Sondergruppe gebildet, die die Ansprüche gegen die Bundesrepublik auf 6,22 Billionen Złoty (1,3 Billionen Euro) festsetzte. Dabei war es klar: Die deutsche Seite würde diese Summe niemals zahlen. Diese Fragen waren schließlich durch das Görlitzer Abkommen von 1950 mit der DDR und den Warschauer Vertrag mit Willi Brandt von 1970, der für die Bundesrepublik galt, bereits geregelt. Diese Forderungen weiterhin vorzubringen, hatte einzig den Zweck, sich bei Verhandlungen mit den Deutschen moralisch vorteilhafter zu positionieren und die Verbrechen Nazideutschlands in Erinnerung zu halten; außerdem sollten sie natürlich zu innenpolitischen Zwecken der Nation einen Feind anbieten. Als ob es der Ausschüsse nicht bereits genug gegeben hätte, richtete die PiS-Partei ein gesondertes Institut für Kriegsverluste ein, welches die Federführung bei der Legitimierung der Forderungen an Deutschland übernehmen sollte.

Nachdem PiS die Parlamentswahlen verloren hatte, wurden zahlreiche Stimmen laut, das Institut wieder aufzulösen. Jacek Kuroń, Legende der polnischen Opposition in Volkspolen, hatte einmal gesagt: Brennt keine Komitees nieder, gründet selbst welche. Ich würde das unter den aktuellen Verhältnissen ein wenig anders ausdrücken: Brennt nicht die Komitees des Gegners nieder, nehmt sie in Besitz und macht sie zu euren eigenen. Anstelle des Instituts für Kriegsverluste, das dem Zweck dient, in den offenen Wunden der deutsch-polnischen Vergangenheit herumzustochern, sollte ein Institut der Versöhnung und des Wiederaufbaus entstehen. Dessen Auftrag wäre es, die jahrhundertelange wechselseitige Durchdringung der deutschen und polnischen Kultur und der daraus bezogenen beiderseitigen Vorteile zu vermitteln, wie dem Handel, der Lokation von Städten und Siedlungen zu deutschem Recht, der Verbreitung von Innovationen und der beiderseitigen Beteiligung dabei, dem Grenzgebiet ein bestimmtes Image zu verschaffen. Wo diese Wechselseitigkeit vor allem zum Tragen kam, war der heutige Westen und Norden Polens. In diesen bis 1945 großteils zu Deutschland gehörigen Gebieten gibt es darüber hinaus eine große Zahl von Orten, die dem gemeinsamen europäischen Kulturerbe angehören und jetzt nach langer Vernachlässigung dem Verfall ausgesetzt sind. Trotz der von vielen Privatpersonen, dem Staat oder den Lokalverwaltungen vorgenommenen Restaurierungen befinden sich viele der Schlösser, Palais, Kirchen, früheren Fabriken und Manufakturen, der Bauernhäuser, Kurorte, Windmühlen, Friedhöfe, Kapellen, Bergsteigerherbergen und Bahnhöfe in einem sehr schlechten Zustand. Krieg, in volkspolnischer Zeit ausgebliebene Reparaturen, Privatisierung und mangelndes Engagement der neuen Eigentümer – das alles hat dazu geführt, dass viele Objekte einer umgehenden Instandsetzung bedürfen.

Das Muster für einen solchen Versöhnungsort könnte das niederschlesische Krzyżowa (Kreisau) liefern, wo im Gut des Helmuth James Graf von Moltke, einer der führenden Gestalten des im Kreisauer Kreis organisierten Widerstands gegen Hitler, ein internationales Konferenzzentrum entstand, das von der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung betrieben wird. In diesem Gebäude trafen sich am 12. November 1989 Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki und Bundeskanzler Helmut Kohl; bei dieser Gelegenheit wurde eine „Versöhnungsmesse“ gefeiert. Zum Zeichen des Friedens umarmten die Regierungschefs einander, und diese Geste ging als Anfang eines neuen Kapitels der Zusammenarbeit beider Länder in die Geschichte ein. Von solchen Kreisaus werden in den deutsch-polnischen Beziehungen noch viel mehr gebraucht. Sie müssen nicht aus spektakulären Restaurierungsprojekten hervorgehen. Vielmehr sind kleine Objekte wichtig, um etwas Positives in einer möglichst großen Zahl von Gemeinden zu bewirken. Jedes wiederhergestellte Baudenkmal, jedes leerstehende Gebäude, das sich in ein dörfliches Kulturzentrum verwandelt, ein Bahnhof mit einem Erinnerungsraum für die früheren deutschen Einwohner des Dorfes oder der kleinen Stadt, manchmal vielleicht gar nur eine einfache Gedenktafel neben einem restaurierten Denkmal sind Goldes wert bei der Herstellung eines Gemeinschaftsgefühls in Vergangenheit und Gegenwart. Keine an den Haaren herbeigezogenen Reparationen, sondern die Pflege des gemeinsamen deutsch-polnischen Erbes wäre die Aufgabe eines solchen neuen Instituts, das in konkreter Weise die Veränderung des bilateralen Verhältnisses aufzeigen würde. Die aus Ostpreußen stammende langjährige Chefredakteurin der „Zeit“ Marion Gräfin Dönhoff, die sich für den deutsch-polnischen Dialog einsetzte, vermachte ihr gesamtes Vermögen einer Stiftung zur Unterstützung osteuropäischer Kunstschaffenden, Kulturinstitutionen und Jugendlicher; sie wäre eine bestens geeignete Namenspatronin für ein solches Institut.

Und dann wird selbst Jarosław Kaczyński Goethes „Faust“ mit den Worten zitieren können: „Ich bin ein Teil von jener Kraft,/ Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Denn eine Institution, die alte Wunden aufreißen soll, wird zur Brücke und Plattform; sie wird, statt peinliche Gefühle auszulösen, bleibende Spuren in einem Raum hinterlassen, den zu verschiedenen Zeiten unsere beiden Länder miteinander teilten.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

 

Przemysław Witkowski

Przemysław Witkowski

Przemysław Witkowski - Forscher des politischen Extremismus; Assistenzprofessor am Collegium Civitas; Fellow am Center for Research on Extremism, Universität Oslo, und den Think Tanks Counter Extremism Project und International Centre for Counter-Terrorism; Experte des Aufklärungsnetzwerks gegen Radikalisierung der Europäischen Kommission; Autor vieler Büchern zum Extremismus und Populismus; stellvertretender Direktor des Gabriel Narutowicz Instituts des Politischen Denkens.

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