„Make Hungary Great Again“, ungarisch „ismét naggyá teszi Magyarországot“, dieser Ausschnitt aus der Präambel (dem Nationalen Treueschwur) der ungarischen Verfassung, die im April 2011 verabschiedet wurde, ist das Motto der ungarischen Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union. Diese begann am 1. Juli 2024. Der Spruch wurde von so gut wie allen als Anspielung auf Donald Trumps Slogan aus seiner Amtszeit als Präsident der USA verstanden. Diese Assoziation kommt den Ungarn gewiss nicht zupass, wenn wir einerseits die unverhohlene Unterstützung Donald Trumps bei seiner Bewerbung für eine zweite Amtszeit 2024 in Betracht ziehen, und andererseits, dass Kandidat Trump einer derjenigen war, die Orbán bei seiner sogenannten „Friedensmission“ besuchte.
Der ungarische Ministerpräsident besuchte unmittelbar nach der Übernahme der EU-Präsidentschaft am 2. Juli die Ukraine und am 5. Juli Russland, am 8. Juli begab er sich nach China und dann in die USA, wo er am NATO-Gipfel in Washington anlässlich des 75. Jahrestages des Bündnisses teilnahm. Dort setzte er seine diplomatische Tour mit Treffen mit dem Präsidenten der Türkei am 10. Juli und mit Donald Trump am 11. Juli fort. Er selbst bezeichnete diese Treffen als „Friedensmission“, deren Ziel es sei, den Frieden schnellstmöglich herzustellen. Orbán hatte übrigens bereits am 1. Februar 2022 von einer „Friedensmission“ gesprochen. An diesem Tag, drei Wochen vor Russlands Angriff auf die Ukraine, besuchte Orbán Moskau und traf dort mit Wladimir Putin zusammen. Nach Angaben der investigativen Journalisten des Portals Direkt36 sah sich Orbán infolge dieses Besuches darin bestärkt, dass es nicht zu einer kriegerischen Eskalation kommen werde.
Sein Treffen mit Donald Trump markierte Orbán in den sozialen Medien mit einer Aufnahme mit dem vormaligen US-Präsidenten und der Unterschrift „Donald Trump. Präsident des Friedens“, des weiteren mit dem Eintrag: „Gespräch mit Präsident Trump zum Frieden. Die gute Nachricht des Tages: Er wird eine Lösung finden!“ Diese Rhetorik, die Trump als Friedensbringer stilisiert, setzte Orbán nicht zum ersten Mal ein. Er beschrieb seine vorherige Begegnung mit Trump vom März 2024 mit folgendem Eintrag: „Die Ungarn brauchen Frieden! Der Name des Friedens – Donald Trump.“ Diese Charakterisierung Trumps ist im ungarischen Narrativ seit dem ersten Tag des Kriegs präsent. Der ungarische Außenminister Péter Szijjártó sagte bereits im Februar 2022, hätte es in den USA keinen Präsidentenwechsel gegeben, wäre der Krieg nicht ausgebrochen. Das unterstrich er ein weiteres Mal in einem Interview mit dem rechtsgerichteten Sender One America News Network (OAN) vom Oktober 2022: „Hätte Donald Trump die Wahlen vom November 2020 gewonnen, wäre es meiner Auffassung nach anschließend nicht zum Kriegsausbruch gekommen.“
Die ungarische Regierung wie die ungarischen Medien standen vom Start weg der Biden-Administration kritisch gegenüber. Wobei „kritisch“ noch milde gesagt ist. Das Narrativ der ungarischen Medien über den aktuellen US-Präsidenten ist dabei nicht allzu weit von demjenigen weg, das im Kreml produziert wird. Die in Ungarn fast achtzig Prozent des Marktes beherrschenden regierungsnahen Medien beschrieben Joe Bidens Besuch in Kyjiw vom Februar 2023 im Anschluss an den rechtskonservativen US-Sender Fox News: Biden sehe krank aus, mit der Ukraine-Visite wolle er die Affäre um seinen Sohn Hunter kaschieren und er sei dabei, Material für den Wahlkampf zu sammeln. Diesem ungarischen Narrativ nach hätten die Amerikaner Europa in den Krieg gezogen und versuchten, es weiter im Krieg zu halten. Darüber hinaus führe Washingtons Haltung zur Eskalation des russisch-ukrainischen Kriegs.
Nach einer Umfrage des Pew Research Center vom Juni lagen in Ungarn (und der Türkei) Donald Trumps Zustimmungswerte mit 37 Prozent höher als diejenigen Joe Bidens mit 28 Prozent, während die Umfrageergebnisse in den meisten übrigen Ländern umgekehrt ausfielen. In Ungarn besteht die Ansicht, Donald Trump sei der bessere Präsident gewesen, seit langem. Im November 2023 veröffentlichte die regierungsnahe Tageszeitung „Magyar Nemzet“ (Ungarische Nation) die Ergebnisse einer Befragung des Umfrageinstituts REAL-PR93; demnach waren damals 47 Prozent der Ungarn der Meinung, ein Sieg Donald Trumps sei vorzuziehen. Bei den Wählern der Regierungskoalition aus Fidesz und Christlich-Demokratischer Volkspartei (KDNP) beträgt dieser Anteil 72 Prozent. Eine solche Befürwortung Donald Trumps durch die ungarische Politik muss dessen Ego schmeicheln. Trump bringt das übrigens in zahlreichen Äußerungen zum Ausdruck: „Ich will mich nicht loben, aber Orbán sagte, Russland und China haben Angst vor mir“, sagte Trump beispielsweise am 19. Juli 2024. Die ungarische Faszination für Trump ist umso merkwürdiger, als dieser in seiner Amtszeit keinen besonderen Beitrag zu den ungarisch-US-amerikanischen Beziehungen geleistet hat, anders als im Falle von Polen, das damals in das Visa Waiver-Programm aufgenommen wurde.
Die Europäische Union distanzierte sich von der „Friedensmission“ des ungarischen Regierungschefs mit dem Hinweis, Orbán besitze kein Mandat zu Unterhandlungen namens der EU. Damit stellte sich die Frage, in wessen Namen er eigentlich handelte. Denn trotz seiner unbescheidenen Ansprüche hat Orbán keine besonderen Referenzen, die ihn als selbständigen Akteur in Sachen eines Ausgleichs zwischen Russland und der Ukraine ausweisen würden. Das legt die Annahme nahe, er habe vielleicht in Absprache mit Donald Trump gehandelt. Orbáns „Friedenstour“ fiel nämlich so aus, als wolle er Trump das Ergebnis auf dem Silbertablett reichen. Orbán erweckte den Eindruck, er verhandle in den entscheidenden Hauptstädten über eine Friedenslösung und referiere Trump schließlich, was er erreicht hatte.
Dabei ist nicht zu vergessen, dass Orbán bereits im Juli 2016, als erster europäischer Regierungschef, seine Unterstützung für Trump erklärt hatte, und dass er seither dessen eifrigster Anhänger geblieben ist. Und was sagt Trump dazu? Er ist davon überzeugt, den Schlüssel für die Lösung des russisch-ukrainischen Konflikts in der Hand zu haben. Wie er Mitte August in einem Interview mit Elon Musk auf der X-Plattform sagte, er hoffe, da er sich gut mit Putin verstanden habe, sich auch wieder gut mit diesem verstehen zu können. Er wiederholte nochmals, es wäre nicht zum Krieg gekommen, wäre er Präsident gewesen, und dass der Kriegsausbruch Bidens Schuld sei, da Putin zu der Invasion provoziert worden sei, nachdem Biden gesagt habe, er halte die Türen für den ukrainischen NATO-Beitritt offen. Viktor Orbán stellte dieselben Überlegungen in einem Interview mit der ungarischen Wochenzeitung „Mandiner“ (Mandarin) vom März 2022 an; er behauptete damals, Russland habe zwei Forderungen gestellt: die Garantie der ukrainischen Neutralität und die Nichtaufnahme der Ukraine in die NATO. Orbán meinte, da Russland keine entsprechenden Zusicherungen erhalten habe, habe es sich entschlossen, die Einlösung dieser Forderungen auf kriegerischem Wege zu erzwingen.
Die Friedenslösung, die Orbán erreichen will, ist kein Frieden auf Augenhöhe, sondern besteht faktisch darin, die Ukraine zur Kapitulation zu zwingen. Diese Annahme wird dadurch bestätigt, dass Orbán in Kyjiw dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nahelegte, einen Waffenstillstand zu erwägen, während er in Moskau Putin keinen solchen Vorschlag machte. Er behauptete dagegen, die Möglichkeit zur Einleitung von Friedensverhandlungen sondiert zu haben, zu denen bisher keine der beiden Seiten bereit ist.
Zu Orbáns „Friedenstour“ wurde sehr viel gesagt. Orbáns Verhalten ist nicht mit oberflächlichen Einschätzungen beschrieben, vielmehr sollte man seinen wirklichen Absichten auf die Spur zu kommen versuchen, was allerdings nicht ganz leicht zu bewerkstelligen ist. Grundsätzlich können wir aber annehmen, dass Viktor Orbán ein beschlagener Politiker ist, der rational und strategisch vorgeht.
„The Leader of Europe“, diesen Aufdruck auf ihrem T-Shirt unter einem Foto Orbáns trugen Teilnehmer von Pro-Regierungs-Märschen, ebenso die Studierenden der Sommeruniversität, die Fidesz informell im rumänischen Băile Tușnad organisiert. Dass Orbán die Zeit der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft zur Imagebildung nutzt und um sich als führender Staatsmann Europas darzustellen, war vorauszusehen. Dabei kommt ihm sicher zu Hilfe, dass kaum jemand weiß, welche Kompetenzen der EU-Ratspräsident besitzt. Europäischer Rat, Rat der Europäischen Union und dazu noch der Europarat – die verwirrende Namensgebung der Institutionen und mangelnde Kenntnis ihrer internationalen Bedeutung war der Imagekampagne förderlich, wie sie Orbán betrieb. „Wir sprechen uns von Tag eins an für den Frieden aus. Der Frieden tritt nicht von selbst ein, wir müssen dafür arbeiten“, schrieb er im Verlauf seiner Kampagne.
Mantraartig wiederholt Orbán seit 2022, die Europäische Union sei auf Konfrontation und nicht auf Frieden ausgerichtet, daher versuchte er den Eindruck zu erwecken, er sei einzige EU-Vertreter, der Frieden schaffen könne. Wie er beispielsweise bei dem Treffen mit Putin in Russland verdeutlichte: „Ungarn übernahm am 1. Juli turnusgemäß die EU-Führung, und ich muss dem Herrn Präsidenten mitteilen, dass langsam die Zahl der Länder abnimmt, die mit beiden kriegführenden Parteien sprechen können. Langsam wird Ungarn zum einzigen Land in Europa, das mit jedem sprechen kann. Und diese Situation möchte ich nutzen, um mit Ihnen einige Fragen zu besprechen.“ Während seiner Fahrt nach China schrieb er auf X: „Abgesehen von den kriegführenden Parteien, hängt die Entscheidung über den Zeitpunkt des Endes des russisch-ukrainischen Krieges von den drei Weltmächten ab, den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und China. Deshalb sind wir nach unseren Gesprächen mit den kriegführenden Parteien nach Peking gekommen.“
Sich selbst zum „einzigen Befürworter des Friedens“ zu stilisieren, ist nicht an das europäische Publikum gerichtet. Es dient größeren, globalen Zielen. So illustriert durch einen Eintrag des ungarischen Außenministers Szijjártó bei Facebook: „Weltweit wünschen die meisten Menschen Frieden und können absolut nicht verstehen, wieso Europa keine Friedensstrategie hat, sie verstehen nicht, wieso Europa Amerika nachahmt. Es ist kein Zufall, dass diese globale Mehrheit mit Sympathie, Interesse und Anerkennung die Bemühungen der ungarischen Friedensmission verfolgt, die Ungarn fortsetzt.“ Ungarn zählt auf diejenigen Länder, die anders als Europa in den USA keinen Garanten des Friedens, sondern den Verursacher internationaler Wirren sieht. Das wird von dem persönlichen Verhältnis des ungarischen Regierungschefs zu Papst Franziskus gut illustriert. Dafür ist der Glaube nicht bestimmend, denn der Ministerpräsident selbst ist reformierter Protestant, sondern die politische Wahrnehmung der Realität, dernach eine Bedrohung durch Imperialismus und Kolonialismus nicht von Russland, sondern von den USA herrührt. In Äußerungen Orbáns ist das Narrativ zu hören, dass gerade Polen ein von den USA geradezu kolonisiertes Land sei. Das von den europäischen Staats‑ und Regierungschefs zum Ausdruck gebrachte Missbehagen an Orbán war aus dessen Sicht nicht sonderlich wichtig, selbst als Russland just während der ungarischen „Friedensmission“ die Kinderklinik Ochmatdyt in Kyjiw angriff. Übrigens bemerkte der ungarische Europaminister János Boka hierzu pointiert: „Der Raketenangriff auf die Kyjiwer Kinderklinik zeigt, dass der Frieden so schnell wie möglich erreicht werden muss.“ Boka hob nicht hervor, genauso wenig wie die übrigen Mitglieder der Regierung, wer für den Angriff verantwortlich war. Ungarn ist immer noch Mitglied in EU und NATO, es wirbt immer noch um Investoren und entwickelt seine Beziehungen mit China; hieran ändert sich nichts. Orbán hat höhere Ambitionen; er will ein wichtiger globaler Akteur sein. Was genau er vorhat, lässt sich nicht exakt bestimmen, wir dürfen jedoch annehmen, dass er vielleicht eines Tages einer wichtigen internationalen Organisation wie der UNO vorstehen möchte.
An Orbáns Friedensmission und überhaupt seinen globalen Aktionen wird jedoch noch etwas anderes deutlich. Etwas, das sich am Berührungspunkt zwischen Welt‑ und Innenpolitik befindet. Es geht um die Revision der ungarischen Geschichte. Denn Ungarn befand sich in beiden Weltkriegen auf der Seite der Aggressoren. Dafür hatte es schwere Konsequenzen zu erleiden. Nach dem Ersten Weltkrieg verlor Ungarn aufgrund des Vertrags von Trianon vom 4. Juni 1920 etwa siebzig Prozent seiner vorherigen Landmasse und 60 Prozent seiner Bevölkerung. Dieses ungarische Trauma ist auch nach mehr als einhundert Jahren noch nicht verwunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das sogenannte kleine Trianon unterzeichnet.
Die Imagebildung als Friedensstifter gestattet es, das Paradigma zu wechseln und Ungarn in der sich herausbildenden neuen Weltordnung auf der Seite der Sieger zu verorten. Die Logik ist einfach. Ungarn behauptet unablässig, Russland könne nicht besiegt werden. Indem es also den Krieg nicht unterstützt, befindet es sich anders als der Westen und die Ukraine nicht auf der Seite der Länder, deren Anstrengungen vergeblich sein werden. Sich aus dem Kreis der ewigen Verlierer zu entfernen, erlaubt es Ungarn, einen neuen Identitätsmythos aufzubauen. Wenn das gelingt, kann Orbán darauf zählen, dass ihm das schmuckste Denkmal der ungarischen Geschichtsschreibung errichtet werden wird. Der Mythos dreht sich nicht allein darum, nicht zu den Verlierern zu zählen, sondern auch, den Status eines neutralen Staats zu gewinnen. Besonders nach dem russischen Angriff auf die Ukraine von 2022 lässt sich in Ungarn ein gewisser Österreich-Komplex beobachten. Dieser geht darauf zurück, dass Österreich 1955 seinen Neutralitätsstatus erreichte. Als am 23. Oktober 1956 der Aufstand in Ungarn ausgebrochen war, unternahm der damalige ungarischen Ministerpräsident Imre Nagy am 1. November 1956 Schritte in eine ähnliche Richtung. Doch Ungarns Neutralität dauerte kaum ein paar Tage, denn schon am 4. November 1956 wurde der Aufstand von der sowjetischen Invasion im Blut erstickt.
Orbán erstrebt faktisch eine Politik des „Make Hungary Great Again“: Für Ungarn den ihm zustehenden Platz in der geopolitischen Konstellation zurückzugewinnen, die aus Sicht Ungarns ungerechte Beschneidung seines Potentials zu überwinden, wie 1920 geschehen.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann