Piotr Leszczyński sprach mit dem Altphilologen und Autor des DIALOG FORUMS Jacek Hajduk über dessen neuestes Buch über den polnischen Schriftsteller Józef Wittlin.
Piotr Leszczyński: In deinem neuen Buch „Józef Wittlin w Ameryce. Klasycznie obcy“ [Józef Wittlin in Amerika. Klassisch fremd] porträtierst du einen fast unbekannten Schriftsteller. Wittlin kommt meiner Meinung nach bis heute in unserem kollektiven Bewusstsein überhaupt nicht vor. Er ist einer der vergessenen großen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Einerseits ist das nicht verwunderlich, denn er blieb nach dem Zweiten Weltkrieg im Exil und stand deshalb in Volkspolen auf dem Index. Andererseits hatte sein Buch „Das Salz der Erde“ über das Leben des Infanteristen Piotr Niewiadomski im Ersten Weltkrieg nach 1989 mehrere Auflagen. Es ist auch bekannt, dass Wittlin 1939 als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt wurde, und zwar für den erwähnten Roman. Du bist der Meinung, dass sein Werk im Grunde unbekannt und nicht verinnerlicht, nicht durchdacht und nicht beschrieben, aber in Wirklichkeit herausragend ist. Dass er in Vergessenheit geraten ist, hängt sicherlich mit seinem Leben zusammen, mit dem modellartigen Schicksal des Emigranten und Vagabunden. Bitte stelle uns kurz seine Biografie vor.
Jacek Hajduk: Anhand von Józef Wittlins Biografie ist das ganze lange und „breite“ 20. Jahrhundert zu sehen. In diesem Sinne vergleiche ich ihn gern mit Czesław Miłosz. Wir verbinden normalerweise viele Schriftsteller, selbst die herausragendsten, mit einer bestimmten Epoche und das ist oft, trotz der offensichtlichen Vereinfachung, sinnvoll. Es gibt aber auch Schriftsteller, die nicht nur lange leben, sondern auch lange aktive Beobachter und Kommentatoren weiterer Epochen bleiben. So war es bei Wittlin: Seine Stimme war während des Ersten Weltkrieges ebenso wichtig wie sechs Jahrzehnte später. Eine andere Sache ist, dass er in gewisser Weise in der Epoche seiner Jugend steckengeblieben ist. Aber der Reihe nach.
Wittlin wurde 1896 in Dmytrow geboren, in einem Dorf in Galizien (damals Österreich-Ungarn). Über Leute wie ihn sagt man in Polen (immer noch) mit einer gewissen Vorsicht, dass sie „jüdischer Herkunft“ sind. Als könnte ein ethnischer Jude nicht gleichzeitig ein polnischer Lyriker sein. Er selbst aber sagte über sich „ein Jude“, „ein alter Jude“, „ein Semit“, und wenn es bei ihm mit der Arbeit nicht lief, sagte er scherzhaft, die Schreibmaschine sei „Antisemitin“. Er hatte mit seiner Identität nie Probleme. Die Schuljahre verbrachte er in Lemberg und begann dort als Heranwachsender mit der Arbeit an der Übersetzung der „Odyssee“. Das waren natürlich andere Zeiten und eine andere Schulbildung: dass Gymnasiasten klassische Sprachen konnten, war nichts Außergewöhnliches und keine Seltenheit. Wesentlich ist aber, dass genau dieser Schüler sich in Homer verliebte und von da an die „Odyssee“ fast nicht mehr aus den Händen legte. Mit dem Jahr 1914 begann seine Zeit als Soldat, aber auch als europäischer Schriftsteller. In Wien lernte er Joseph Roth, Rainer Maria Rilke und andere kennen. Er begann sich in Kreisen zu bewegen, die seiner Mentalität und seiner Energie am ehesten entsprachen. Das ist überdies einer der unerforschten Wittlins: Wittlin im Ersten Weltkrieg und in den ersten Nachkriegsjahren. Der Lemberger in Wien. Der polnische Jude aus Ostpolen in der Hauptstadt von Österreich-Ungarn. Darüber könnte man sicherlich einen faszinierenden Roman schreiben.
Nach dem Ersten Weltkrieg ließ sich Wittlin zunächst in Łódź nieder, dann in Warschau. Er arbeitete am Theater und veröffentlichte einige Essays, einen Gedichtband mit seinen wunderbaren „Hymnen“ und seine erste und sehr schöne Übersetzung der „Odyssee“, die stark beeinflusst ist von Stanisław Wyspiańskis Sprache. Er plante ein Buch über den heiligen Franziskus und sammelte Material für seinen Roman „Das Salz der Erde“. Bis die späten dreißiger Jahre kamen und er schmerzlich zu spüren bekam, was es damals, im Polen der Zwischenkriegszeit, bedeutete, „jüdischer Herkunft“ zu sein. Zusammen mit seinen Freunden Julian Tuwim und Adam Słonimski wurde er Opfer antisemitischer Hetze: die Tagespresse druckte Appelle „echter Polen“ (führend war Jerzy Pietrkiewicz), in denen die Rede davon war, „Schädlinge“ wie Wittlin und „ähnliche“ in Lager zu verbringen oder sogar zu erhängen (!). Nun war er nicht nur Jude, sondern auch noch Pazifist. Wittlin fürchtete um seine Sicherheit und reiste einen Tag vor Kriegsbeginn nach Westeuropa aus, und anschließend in die Vereinigten Staaten, womit er sich vor dem Holokaust retten konnte. Glück im Unglück. Jahre später sprach er ohne Ironie oft davon, dass Pietrkiewicz ihm das Leben gerettet habe. Im Jahr 1941 zog Wittlin nach New York, wo er bis zu seinem Tode im Jahr 1976 lebte. Sein ganzes Leben lang verfolgten ihn die Geister der ermordeten „jüdischen Brüder“. Er kehrte nicht in sein Heimatland zurück, weil er der Meinung war, dass es nicht mehr existierte. Anders als Tuwim, der nach kurzem Exil in den USA nach Polen zurückging, machte er sich nicht die Illusion, dass es an der Weichsel den „Juden jetzt besser gehen werde“. Volkspolen zahlte es ihm mit gleicher Münze heim: Als Semit, Reaktionär und Anti-Pole verschwand dieser seinerzeit auf der Welt bekannteste polnische Schriftsteller buchstäblich aus dem Kanon der Literatur. Er wurde ausradiert. Genau wie „abweichlerische“ Historiker und Poeten im Römischen Reich wurde der Autor von „Das Salz der Erde“ mit damnatio memoriae belegt.
In den achtziger Jahren kam er zurück. Das ist vor allem Zygmunt Kubiak zu verdanken. Aber zunächst war das eine höfliche Einladung in die polnische Literatur. Dabei handelt es sich bei Wittlin um einen Schriftsteller von Weltrang, um einen großartigen Essayisten, einen hervorragenden Dichter und Übersetzer von Homer, einen unvergleichlichen Romanautor (auch wenn er nur einen Roman abgeschlossen hat). Wittlin hat genau wie Homer, wie ein reißender Fluss, alles mitgenommen: von Lemberg über Wien nach New York, polnischen Antisemitismus und amerikanischen Rassismus, Monarchie und Demokratie, Glaube und Unglaube, vom heiligen Franziskus bis Hitler, von der Epoche des Jungen Polen bis zu Hemingway, von der alten Dichtung bis zur Suche nach neuen Formen. Alles, was 1914 im Westen seinen Höhepunkt und später Bedeutung hatte, alles, was für Europa und Amerika wichtig war, kann man bei Wittlin finden. Gombrowicz formulierte das treffend, indem er sagte, es gebe nicht nur einen Wittlin, sondern in einem tausende.
Du bist klassischer Philologe. Ist dein Interesse für Wittlin in erster Linie auf sein Werk zurückzuführen, das durchdrungen ist von der Antike und von Homer? In deinem Buch schreibst du: „Wittlin erwies Homer nicht nur mit seinem Leben eine Ehre […], sondern auch mit seinem Opus Magnum, dem Roman Das Salz der Erde.“
Dass ich Wittlin für mich entdeckt habe, hat mit meiner klassischen Ausbildung zu tun. Wer weiß, ob ich sonst überhaupt auf ihn gestoßen wäre. Seine noch immer geringe Präsenz in der polnischen Literatur ist beschämend. Es ist, als ob von Generation zu Generation eine ganz bestimmte Einstellung diesem Schriftsteller gegenüber weitergereicht werden würde. Er selbst sagte über sich, er wisse, dass er „für die Polen zu jüdisch ist, und für die Juden zu polnisch“. Aus meiner Sicht ist das ein enormer Vorzug und kein Nachteil. Aber das sind Dinge, die sehr tief sitzen. Ich weiß nicht, inwieweit und ob wir es überhaupt je schaffen werden, uns davon zu befreien. Kürzlich habe ich ein interessantes Fachgespräch über Wittlin gehört, das erst vor wenigen Jahren aufgezeichnet wurde, in dem das Wort „Jude“ einmal fiel, und zwar so, dass es kaum wahrnehmbar war …
Ich kannte Wittlin durch seine Übersetzung der „Odyssee“. Dieser Prozess allein erschien mit so faszinierend, dass ich ihm ein ganzes Buch gewidmet habe. Wittlin begann mit der Übersetzung als Heranwachsender und arbeitete bis zu seinem Tode daran. Die erste Ausgabe erschien 1924 in Lemberg (wir haben jetzt den hundertsten Jahrestag), die zweite 1931 in Warschau. Diese Übersetzung wurde vom PEN-Club ausgezeichnet. Sein großer Fürsprecher und Verteidiger war Jan Parandowski.
Schon damals behandelte Wittlin die „Odyssee“ wie sein eigenes dichterisches Werk. Nicht in dem Sinne, dass das keine genaue Übersetzung gewesen wäre, sondern weil er es aus dem akademisch-philologischen Kontext riss und es den Menschen geben wollte. Das waren die Zeit der Hegemonie von Nietzsche und Wyspiański, deshalb bearbeitete Wittlin seine „Odyssee“ aus der Vorkriegszeit „mit dem Hammer“. Er verglich sie mit der Bibel, verlieh ihr eine gewaltige Dimension und siedelte sie in Europa nach dem Ersten Weltkrieg an.
Der Zweite Weltkrieg war eine Art weitere Schicht, ein weiterer Filter. Wittlin hatte keine Zweifel daran, dass er die „Odyssee“ neu „machen“ musste, damit sie aktuell blieb. Er trennte sie auf, Vers für Vers, nicht nur im sprachlichen Sinne (er ersparte ihr die Sprache des Jungen Polen), sondern auch auf der Bedeutungs- und Sinnebene. Dasselbe Werk, das zuvor von den Irrfahrten eines Menschen erzählte, der am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte, ist jetzt die Stimme eines Emigranten, eines Juden, der auf der Flucht ist vor dem Tod. In diesem Sinne ist Wittlins „Odyssee“ ein „epochales Werk“, wie Miłosz sagte. Sie erzählt von einer Epoche, in der sie selbst entsteht, von einer Epoche der Kriege und der Irrfahrten nach den Kriegen. Das ist aus literaturgeschichtlicher Sicht eine der größten Errungenschaften der polnischen Literatur des vergangenen Jahrhunderts.
Du schreibst in deinem Buch von der Entfremdung Wittlins in Amerika, davon, dass er sich außerhalb von Europa geistig fremd fühlte. Das und seine langjährige Arbeit an der Übersetzung der „Odyssee“ macht den Autor zu einem zeitgenössischen Vagabunden. Aber nicht zu einem Odysseus, oder?
Ich betrachte die Beziehung zwischen Wittlin und der „Odyssee“ unter zwei Gesichtspunkten. Man kann von zwei möglichen Konstellationen ausgehen: Wittlin als Homer und Wittlin als Odysseus. Daraus ergibt sich eine gewisse „Über-Beziehung“, eine symbolische Beziehung. Ich versuche, das kurz zu erklären.
Wittlin war von Anfang an ein Dichter. Als er die „Odyssee“ übersetzte, schrieb er sie de facto auf Polnisch. Er polonisierte sie nicht. Das war ein dichterischer Akt. In diesem Sinne tat Wittlin, der das perfekte Gespür hatte für den historischen Moment, in dem er sich befand, das, was Homer im 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung getan hatte und Dante am Ende des Mittelalters: Er vollzog eine poetische Integration der Welt, die er in Fragmenten vorfand, zerschmettert und zerstört. Allein das macht ihn zu einem großen Dichter. Seine „Odyssee“ ist gewissermaßen ein polnisches Nationalepos.
Die Geschichte ist insofern spannender und bewegender, als sein Schicksal an das des Odysseus erinnert. Ein ehemaliger Soldat irrt umher auf der Suche nach seinem Ithaka – wo war Wittlins Ithaka? Das alte Europa? Das neue Amerika? Das ist egal, wichtig ist, dass er nie wirklich zu ihr zurückgekehrt ist, selbst wenn er physisch zurückkam, fand seine Seele keine Ruhe. So wurde Wittlin notgedrungen zu einem Archetyp: der vertriebene Dichter, der „Ewige Jude“ und Odysseus. Wir wissen ja, dass es vom Mythos von Odysseus Rückkehr verschiedene Varianten gibt. Die alten Griechen hatten auf jeden Fall das Gefühl, dass er zwar heimkehrte, aber dass das Ithaka, das er vorfand, nicht mehr sein Ithaka war. Daraus ist beispielsweise die „Odyssee“ von Nikos Kazantzakis entstanden, die von dem weiteren Los des Umherirrenden erzählt, der nur kurz auf Ithaka blieb …
Wittlin faszinierte vieles an Odysseus, zum Beispiel seine Identität, die er zu seiner Sicherheit verheimlichte … Vor allem aber sein „Umherirren in der Welt“. Odysseus ist jemand, der mit dem Bewusstsein heimkehrt, dass es kein Zuhause gibt.
Für mich gibt es noch etwas Faszinierendes an dieser Gestalt, nämlich seine pazifistische Haltung und das im Zeitalter der Kriege! Das ist ein Phänomen, das muss man gedanklich gegenüberstellen. Ist Wittlin heute noch aktuell?
Wie ich schon vorher gesagt habe, hat Wittlin mit seinem Pazifismus sehr viel Unglück auf sich gezogen, aber das hat ihn auch gerettet. Im wörtlichen Sinne, aber nur durch eine glückliche Fügung des Schicksals. Generell galt die Haltung, die er repräsentierte, in nationalen und nationalradikalen Gruppierungen in der Zwischenkriegszeit als gefährlich und antipolnisch. Und wie das in solchen Momenten ist, wurde die Gefahr nicht dort wahrgenommen, wo sie tatsächlich lauerte, sondern in den Werken und Ansichten derjenigen, die vor der eigentlichen Katastrophe warnten. Darin besteht die Tragik von Pessimisten, der von niemandem gehörten Kassandren.
Natürlich machte sich Wittlin keine Illusionen. Er glaubte nicht an eine wundersame Rettung Europas, das mit Dialog und Argumenten zur Vernunft gebracht werden kann. Aber auch darin war er wie Homer, über den er schrieb: „Homer ist kein Schlachtenmaler in dem Sinne wie Sienkiewicz. Er verurteilt schon in den ersten Worten der Ilias offen den Krieg, aber als Epiker blutiger Zeiten musste er die menschlichen Herzen dort suchen, wo sie am lebhaftesten schlugen: in Troja, mitten in der Schlacht“. Er litt darunter, dass Krieg (die Gefahr des Krieges) allgemeine Verrohung bedeutete. Sowohl in der „Odyssee“ als auch im Leben suchte er nach „Ritzen“, Lücken, Mauervorsprüngen, wo man noch das wahrnehmen konnte, was am stärksten und wirklich menschlich war. Und es an die Oberfläche bringen konnte.
Ob er heute aktuell ist? Mehr denn je. Ob ihm das aber mehr Leser bringt, das bezweifle ich ehrlich. Unser Unglück ist, dass in dem Meer an Analysen und publizistischen Rezepten, die uns angeblich etwas erläutern, wirkliche Weisheit einfach untergeht und spurlos verschwindet.
Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Miller
Jacek Hajduk ist klassischer Philologe. Er ist tätig am Institut für Klassische Philologie der Jagiellonen-Universität in Krakau. Aus dem Neugriechischen übersetzte er Gedichte von Konstantin Kavafis. Er ist Autor des Romans „Pliniusz Młodszy“ [Plinius der Jüngere] (2012), der wissenschaftlichen Abhandlung „Parnicki, Malewska i długie trwanie“ [Parnicki, Malewska und die lange Dauer] (2015) sowie der Bücher „Fantazje mimowolnego podróżnika“ [Fantasien eines unfreiwilligen Reisenden] (2016), „W rejonu mroku“ [Im Bezirk der Dunkelheit] (2017) und „Dziennik Roku Szczura“ [Tagebuch des Jahres der Ratte] (2022). Sein neustes Buch „Józef Wittlin w Ameryce. Klasycznie obcy“ [Józef Wittlin in Amerika. Klassisch fremd“ ist 2024 erschienen.
Piotr Leszczyński, Redakteur beim DIALOG FORUM, Redaktionssekretär und Herausgeber der Zeitschrift „Przegląd Polityczny“, Mitglied des PEN-Clubs.